Donnerstag, 15. Mai 2014

Peter Bieri und die Bildung - Teil 1


Weltorientierung, Aufklärung, historisches Bewusstsein und Artikuliertheit


Peter Bieri
Der 1944 in Bern geborene Peter Bieri lehrt seit 1993 als Professor für zeitgenössische Philosophie an der Freien Universität Berlin - Lehrstuhl für «Sprachphilosophie und Analytische Philosophie». Unter dem Pseudonym Pascal Mercier hat er mittlerweile drei Romane veröffentlicht, darunter 2004 den Roman „Nachtzug nach Lissabon.“ Er ist Mitbegründer des Forschungsschwerpunktes «Kognition und Gehirn» bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft. In diesem Zusammenhang beschäftigt sich Bieri auch immer wieder mit dem Begriff der Bildung, so auch in seiner Festrede „Wie wäre es gebildet zu sein?“ anlässlich der Eröffnungsfeier der Pädagogischen Hochschule Bern im November 2005.

Für Bieri ist Bildung grundsätzlich etwas, „das Menschen mit sich und für sich machen: Man bildet sich. Ausbilden können uns andere, bilden kann sich jeder nur selbst. Das ist kein bloßes Wortspiel. Sich zu bilden, ist tatsächlich etwas ganz anderes, als ausgebildet zu werden. Eine Ausbildung durchlaufen wir mit dem Ziel, etwas zu können. Wenn wir uns dagegen bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden - wir streben danach, auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein. Wie kann man sie beschreiben?“

Bildung ist zunächst Weltorientierung. Bildung beginnt mit Neugierde, wobei Neugierde der „unersättliche Wunsch ist, zu erfahren, was es in der Welt alles gibt.“ Hier geht es stets um zweierlei: „zu wissen, was der Fall ist, und zu verstehen, warum es der Fall ist.“

Bildung als Weltorientierung
„Sich bilden“ kann nicht bedeuten, alles zu wissen und alles zu verstehen, was es zu wissen und zu verstehen gibt. Es geht vielmehr darum, „sich eine grobe Landkarte des Wissbaren und Verstehbaren zurechtzulegen und zu lernen, wie man über die einzelnen Provinzen mehr lernen könnte. Bildung ist also ein doppeltes Lernen: Man lernt die Welt kennen, und man lernt das Lernen kennen.“

Dadurch entsteht auch die Fähigkeit, Wissen und Informationen richtig gewichten zu können. Um einige Beispiel zu nennen: „Man braucht, um gebildet zu sein, nicht die genaue Anzahl der Sprachen zu kennen, die es auf der Erde gibt. Aber man sollte wissen, dass es eher 4000 sind als 40. (…) Es gibt nicht Hunderte von chemischen Elementen. (…) Das Universum ist nicht Millionen, sondern Milliarden von Jahren alt. Das Mittelalter begann nicht mit Jesu Geburt und die Neuzeit nicht vor 100 Jahren. (…). Louis Pasteur war für die Menschheit wichtiger als Pelé, die Erfindung des Buchdrucks und der Glühbirne folgenreicher als diejenige des Rasierapparats und des Lippenstifts.“

Zweitens ist Bildung für Bieri immer auch Aufklärung. Wenn Wissen Macht ist, dann soll dies nicht heißen, mit seinem Wissen über andere zu herrschen. „Die Macht des Wissens liegt woanders: Sie verhindert, dass man Opfer ist. Wer in der Welt Bescheid weiß, kann weniger leicht hinters Licht geführt werden und kann sich wehren, wenn andere ihn zum Spielball ihrer Interessen machen wollen, in Politik oder Werbung etwa.“

Bildung als Aufklärung
In diesem Sinne geht es auch immer wieder darum, die eigenen Grenzen des Wissens zu erkunden: „Was für Belege habe ich für meine Überzeugungen? Sind sie verlässlich? Und belegen sie wirklich, was sie zu belegen scheinen? Was sind gute Argumente, und was ist trügerische Sophisterei?“

Bieri betont hier das Wissen zweiter Ordnung, das den „naiven vom gebildeten Wissenschafter und den ernstzunehmenden vom einfältigen Journalisten, der noch nie etwas von Quellenkritik gehört hat“, unterscheidet.

Wissen zweiter Ordnung bewahrt davor, das Opfer von Aberglauben zu werden. „Der in diesem Sinne Gebildete weiß zwischen bloß rhetorischen Fassaden und richtigen Gedanken zu unterscheiden.“

Wenn ihm die Fragen „Was genau heißt das?“ und „Woher wissen wir, dass es so ist?“ zur zweiten Natur geworden sind, dass führt das zu einer Resistenz gegenüber „rhetorischem Drill, Gehirnwäsche und Sektenzugehörigkeit, und es schärft die Wahrnehmung gegenüber blinden Gewohnheiten des Denkens und Redens, gegenüber modischen Trends und jeder Form von Mitläufertum. Man kann nicht mehr geblufft und überrumpelt werden, Schwätzer, Gurus und anmaßende Journalisten haben keine Chance. Das ist ein hohes Gut, und sein Name ist: gedankliche Unbestechlichkeit.

Schließlich ist Bildung immer auch historisches Bewusstsein. „Das aufgeklärte Bewusstsein des Gebildeten ist nicht nur kritisches Bewusstsein. Es ist auch geprägt von historischer Neugierde: Wie ist es dazu gekommen, dass wir so denken, fühlen, reden und leben? Und auf dem Grund dieser Neugierde liegt der Gedanke: Es hätte alles auch anders kommen können, es liegt in unserer Kultur keine metaphysische Zwangsläufigkeit.“

Bildung als historisches Bewusstsein
„Das aufgeklärte Bewusstsein ist also ein Bewusstsein der historischen Zufälligkeit. Es drückt sich aus in der Fähigkeit, die eigene Kultur aus einer gewissen Distanz heraus zu betrachten und ihr gegenüber eine ironische und spielerische Einstellung einzunehmen.“

Damit verbunden ist die Abkehr von jeder Arroganz, die „die eigene Lebensform sei einem angeblichen Wesen des Menschen angemessener als jede andere. Solche Anmaßung, die zur Essenz eines jeden Imperialismus und einer jeden Missionierung gehört, ist ein untrügliches Zeichen von Unbildung.“

Zu dem Bedürfnis, „sich die Kultur, in die man zufällig (!) hineingewachsen ist, noch einmal neu anzueignen“, gehöre auch, „sich die Geschichte unserer Wörter zu vergegenwärtigen, denn wir sind sprechende Tiere, und nichts trägt mehr zu unserer kulturellen Identität bei als die Wörter, mit denen wir unser Verhältnis zur Natur, zu den anderen Menschen und zu uns selbst gestalten.“

Eine Kultur zu verstehen würde weiter bedeuten, „sich mit ihren Vorstellungen von moralischer Integrität auszukennen. Wir wachsen mit bestimmten moralischen Geboten und Verboten auf, wir atmen sie ein mit der Luft des Elternhauses, der Strasse, der Filme und Bücher, die uns erschüttern und prägen - sie machen unsere moralische Identität aus und bestimmen unsere moralischen Empfindungen wie Entrüstung, Groll und schlechtes Gewissen. Zuerst - das gehört zur Ernsthaftigkeit der Moral - setzen wir diese Dinge absolut, wir lernen sie nicht als eine Möglichkeit unter anderen. Der Bildungsprozess dann besteht darin, zur Kenntnis zu nehmen, dass man in anderen Teilen der Erde, in anderen Gesellschaften und Lebensformen, über Gut und Böse anders denkt und empfindet.“

Zusammengefasst: „Nur wer die historische Zufälligkeit seiner kulturellen und moralischen Identität kennt und anerkennt, ist richtig erwachsen geworden. Man hat die Verantwortung für das eigene Leben noch nicht vollständig übernommen, solange man sich von einer fremden Instanz vorschreiben lässt, wie man zu denken hat über Liebe und Tod, Moral und Glück.“

Schließlich ist Bildung Artikuliertheit, d.h. „der Gebildete ist einer, der ein möglichst breites und tiefes Verständnis der vielen Möglichkeiten hat, ein menschliches Leben zu leben.“

Bildung als Artikuliertheit
„Der Gebildete ist ein Leser. Doch es reicht nicht, ein Bücherwurm und Vielwisser zu sein. Es gibt - so paradox es klingt - den ungebildeten Gelehrten. Der Unterschied: Der Gebildete weiß Bücher so zu lesen, dass sie ihn verändern.“

Humanismus also schützt nur denjenigen, der die humanistischen Schriften nicht bloß konsumiert, sondern sich auf sie einlässt; denjenigen, der nach dem Lesen ein anderer ist als vorher.“

Dies ist für Bieri ein untrügliches Zeichen von wahrer Bildung: „dass einer Wissen nicht als bloße Ansammlung von Information, als vergnüglichen Zeitvertreib oder gesellschaftliches Dekor betrachtet, sondern als etwas, das innere Veränderung und Erweiterung bedeuten kann, die handlungswirksam wird.“

Der gebildete sieht nach der Lektüre die Welt anders, „kann anders, differenzierter darüber reden und mehr Zusammenhänge erkennen. Der Leser von Literatur lernt noch etwas anderes: wie man über das Denken, Wollen und Fühlen von Menschen sprechen kann.“

Dieses Verständnis von Bildung führe zu einer weiteren Definition von Bildung: „Der Gebildete ist einer, der besser und interessanter über die Welt und sich selbst zu reden versteht als diejenigen, die immer nur die Wortfetzen und Gedankensplitter wiederholen, die ihnen vor langer Zeit einmal zugestoßen sind.“
  
Fortsetzung folgt


2 Kommentare:

  1. Lieber Paideia, das scheint ein interessanter Mann mit klugen Konzepten zu sein. Nur ein Kritikpunkt: Bieri behauptet unter anderem: "Damit verbunden ist die Abkehr von jeder Arroganz, die `die eigene Lebensform sei einem angeblichen Wesen des Menschen angemessener als jede andere. Solche Anmaßung, die zur Essenz eines jeden Imperialismus und einer jeden Missionierung gehört, ist ein untrügliches Zeichen von Unbildung´ und weiterhin behauptet er: "Zusammengefasst: `Nur wer die historische Zufälligkeit seiner kulturellen und moralischen Identität kennt und anerkennt, ist richtig erwachsen geworden´´" - Diese Thesen von Bieri sind mir zu relativistisch. Natürlich will ich keine Propaganda für einen Imperialismus westlicher Prägung machen. Aber es gibt Elemente unseres westlichen Denkens die universell gültig sind. Ich meine hier vor allem die Werte und die Prinzipien der Aufklärung, die vor allem im 18. Jahrhundert entwickelt wurden. Also wenn jemand aus einem nicht-westlichen Kulturkreis mir sagen würde: "Die Demokratie und die Werte der Aufklärung sind westlich und diese Prinzipien und Werte entsprechen nicht unsere Kultur" (welche sie auch immer sein mag), dann würde ich ihm widersprechen. Wenn ein radikaler Islamist zum Beispiel so etwas behaupten würde und mit diesem Argument eine Theokratie und die Scharia verteidigen würde, würde ich das nicht akzeptieren. Denn die Demokratie und die Werte der Aufklärung (hierzu gehört vor allem das Prinzip der Toleranz gegenüber Andersdenkenden und das Prinzip der Menschlichkeit) sind universell.

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  2. a really lovely person and thinker....really lovely....genuinely intelligent and not self seeking at all....Intelligence and goodness show themselves in people's physical feature and expressions, somehow. there was a 19th c theory about this and Schopenhauer wrote a little on this point. Birie shows its correctness. pity my German is not good enough to read him with confidence.

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