Donnerstag, 18. Oktober 2012

Aristoteles und die Demagogen


Aristoteles (Francesco Hayez - 1811)
Für Aristoteles ist der Staat zunächst nicht mehr als ein Zusammenschluss kleinerer Einheiten (Familie, Hausgemeinschaft, Dorf) zu einer großen und vielfältigen Gemeinschaft.

„Es ist doch klar, dass ein Staat, der immer mehr eins wird, schließlich gar kein Staat mehr ist. Seiner Natur nach ist er eine Vielheit. Auch wenn man eine Einheit herstellen könnte, so dürfte man es nicht. Denn dann würde man den Staat überhaupt aufheben. Der Staat besteht ja nicht nur aus vielen Menschen, sondern auch aus solchen, die der Art nach verschieden sind. Aus ganz Gleichen entsteht kein Staat“ (1261 a 20ff).

Als Gemeinschaft hat der Staat die Aufgabe, sowohl das Überleben zu garantieren als auch das vollkommene Leben seiner Bürger zu ermöglichen, so dass diese selbst und auf ihre individuelle Art und Weise die Glückseligkeit erreichen können.

„Obwohl zunächst entstanden, um das Überleben zu sichern, besteht der Staat doch weiter, um das vollkommene Leben zu ermöglichen. Darum existiert auch jeder Staat von Natur aus“ (1281 a 1).

Unter diesen Prämissen untersucht Aristoteles nun verschiedene Staatsformen und teilt sie in „gute“ und „entartete“ Verfassungen ein, entsprechend ihrer Tendenz, die oben beschriebenen Ziele zu erreichen, bzw. für das Wohl der Allgemeinheit und nicht für den Eigennutz der Herrschenden zu sorgen. Der Monarchie und Aristokratie  werden auf diese Weise die Tyrannis und die Oligarchie gegenübergestellt.

Der Demokratie widmet Aristoteles im IV. Buch besondere Aufmerksamkeit. Hier unterscheidet er insgesamt fünf verschiedene Formen demokratischer Herrschaft, darunter auch die von ihm favorisierte „Politie“, bei der Reiche und Arme zu gleichen Teilen an der Regierung teilhaben:

„Von den Demokratien ist die erste diejenige, in der die Gleichheit am meisten vorhanden ist. Unter Gleichheit versteht das Gesetz einer solchen Demokratie dies, dass keiner, reich oder arm, einen Vorrang hat, dass kein Teil über den anderen regiert, sondern beide vollkommen ebenbürtig sind“ (1291 b 30)

Grundsätzlich aber hält er die Demokratie für eine Herrschaft von (zu) vielen Freien und Armen zu Lasten der Tüchtigen und zum Schaden der Wohlhabenden. Weil die Armen in einem Staat immer zahlreicher sind, sind sie in einer auf dem Mehrheitsprinzip beruhenden Demokratie stets mächtiger.

Dies zeigt sich insbesondere an der letzten der fünf demokratischen Staatsformen, der extremen Demokratie. Während in den ersten vier Formen der Demokratie die Regierung auf der Grundlage von Recht und Gesetz erfolgt, liegt die Ausübung der Herrschaft in der extremen Demokratie stets in den Händen von Demagogen.

Aristoteles beschreibt mit dem Begriff „Demagogie“ zunächst eine moralisch verwerfliche Verhaltensweise, nämlich die Schmeichelei gegenüber Personen oder Gruppen zum Zweck persönlichen Macht- oder Gelderwerbs: „Der Demagoge ist nämlich der Schmeichler des Volkes“ (1313 b 40).

Darüber hinaus ist „Demagogie“ ein Verhalten, das vor allem aber in degenerierten Demokratien vorkommt:

Demosthenes (Fries im österreichischen Reichsrat)  
„Denn in solchen Demokratien, in welchen das Gesetz herrscht, kommt kein Demagoge auf, sondern die tüchtigsten unter den Bürgern sind die Stimmführer, wo aber die Gesetze nicht die Herren sind, da stehen Demagogen auf. Dort nämlich wird das Volk der Monarch, wenn auch ein aus vielen einzelnen zusammengesetzter, da die vielen nicht jeder für sich, sondern als Gesamtheit die Regierungsgewalt ausüben.

Ein solche Art von Volk, da es Alleinherrscher ist, sucht unumschränkt zu gebieten, indem es sich von den Gesetzen nicht regieren lässt, und wird so zu einem Despoten, so dass auch die Schmeichler bei ihm zu Ehren kommen, und es entspricht eine solche Volksherrschaft der Tyrannenherrschaft unter den Monarchien.

Darum ist auch der Charakter beider derselbe, und beide herrschen despotisch über alle Besseren, und die Volksbeschlüsse spielen hier die nämliche Rolle wie dort die Befehle;

Auch Demagoge und Schmeichler entsprechen einander genau, und beide haben bei beiden am meisten Einfluss, der Schmeichler beim Tyrannen und der Demagoge bei einem solchen Volk.

Die Demagogen nun sind schuld daran, dass alles nach Volksbeschlüssen und nicht nach den Gesetzen entschieden wird, indem sie alles vors Volk ziehen. Denn dadurch werden sie mächtig, dass das Volk alles selbst entscheidet und sie nun eben wieder die Meinung des Volkes bestimmen, indem sie es ja sind, denen die Menge gehorcht. Dies nun nimmt eine solche Berufung bereitwillig an, und so lösen sich die Ämter auf“ (1292 a 7-30).

Zwischen Demagoge und Volk gibt es somit eine wechselseitige Abhängigkeit: Weil die Macht in der extremen Demokratie beim Volk liegt, gehorcht es den Demagogen, die diese Alleinherrschaft des Volkes zugleich unterstützen und somit gleichermaßen Ursache als auch Folge einer „gesetzlosen“ Demokratie sind. 

Aristoteles´ Kritik zielt deutlich auf die Athener Demokratie in ihrer radikalen Phase. Explizit nennt er Ephialtes und Perikles (1274 a 10-14), an denen er deutlich macht, wie Demagogen die Macht des Volkes ausbauen, indem sie die Einflussmöglichkeiten der „Reichen“ beschränken, diesen ihr Geld wegnehmen und an das Volk verteilen.

"Die Gefallenenrede des Perikles" (Philipp von Foltz) 

So sei athenische Demokratie schließlich in eine Herrschaft des Pöbels ausgeartet: Die Masse der Bürger habe weder ausreichende Kenntnis in politischen Angelegenheiten besessen, um sachgerechte Entscheidungen zu treffen, noch habe sie sich mit einem Gegenstand ausreichend vertraut machen können, um gerechte Urteile zu fällen.

Von Demagogen geschickt ausgenutzt hat zudem die Form der Entscheidungsfindung an sich – die sofortige Entscheidung nach der Diskussion, ohne die Sache noch einmal in Ruhe überdenken zu können – zu einer stark emotionalisierten Atmosphäre geführt, in der rationale Argumentationen geringe Durchsetzungschancen hatten.

Falls die auf diese Weise beschlossenen Unternehmungen in einem Misserfolg endeten, habe das Volk Sündenböcke gesucht, und – da der neidischen breiten Masse herausragende Individuen sowieso ein Dorn im Auge gewesen seien – die besten Leute der Polis durch Ostrakismus vertrieben oder durch Prozesse verfolgt (Sokrates, Miltiades, Themistokles).

So kommt man nach der Lektüre von Aristoteles zu dem aufschlussreichen Ergebnis, dass Demagogen ein moralisch verwerflicher, und dennoch strukturell notwendiger Bestandteil von Volksherrschaften und zugleich ein Faktor für deren Untergang sind.

Zitate aus: Aristoteles: Politik (München 1976)

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