Sonntag, 15. April 2012

Isaiah Berlin über John Stuart Mill

Am 2. Dezember 1959 hält Isaiah Berlin im Rahmen der „Robert Waley Cohen Memorial Lecture“ in der Londoner County Hall einen Vortrag mit dem Titel „John Stuart Mill und die Ziele des Lebens.“ In seiner Rede huldigt Berlin Mill als den bedeutendsten Verfechter der bürgerlichen Freiheiten und des modernen Liberalismus.

Isaiah Berlin

Ähnlich wie sein Lehrer Jeremy Bentham wandte sich auch Mill gegen jede Form des Dogmatismus und Obskurantismus, gegen alles, was sich der Vernunft, der Analyse, der empirischen Wissenschaft in den Weg stellte. Auch Mill verkündete, das Glück sei das einzige Ziel menschlichen Daseins, aber bald wich er vom Utilitarismus Benthams ab, denn „den größten Wert maß er nicht der Rationalität oder der Zufriedenheit bei, sondern der Vielfalt, der Beweglichkeit, der Fülle des Lebens – dem unerklärlichen Sprung des individuellen Genies, der Spontaneität und Einzigartigkeit eines Menschen, einer Gruppe, einer Zivilisation“ (261).

Für Mill unterscheidet sich der Mensch von den Tieren in erster Linie nicht durch seine Vernunft, sondern dadurch, dass er wählen und sich entscheiden kann und dass er erst dann ganz er selbst ist, wenn er sich entscheidet und nicht den Entscheidungen anderer unterliegt. So sucht und bestimmt jeder Mensch seine Ziele und nicht nur die Mittel, - Ziele, die jeder Mensch auf seine Weise verfolgt, und dies bedeutet: Je vielfältiger diese Weisen, desto reicher das Leben.

Mill vertritt einen Individualismus, der auf Unabhängigkeit und der abweichenden Meinung beruht, der durch jene einsamen Denker verkörpert wird, die dem Establishment trotzen.

Nicht nur in der Erziehung, auch sonst verabscheute Mill jede Standardisierung. So kann er beobachten, dass selbst im Namen von Philanthropie, Demokratie und Gleichheit die Ziele der Menschen künstlich beschränkt und geschmälert werden, dass die Mehrheit der Menschen in eine Herde von „fleißigen Schafen“ verwandelt wurde, dass das „kollektive Mittelmaß“ alle Originalität und individuelle Begabung nach und nach erstickt.

John Stuart Mill
So erkennt Mill schließlich in der individuellen Freiheit die entscheidende Grundlage jeder gesellschaftlichen Ordnung. Er glaubt an die Freiheit, „weil er überzeugt ist, dass Menschen sich nicht entwickeln, dass sie nicht gedeihen und zu wirklichen Menschen werden können, wenn man ihnen nicht einen Freiraum garantiert, in dem sie von der Einmischung anderer unbehelligt bleiben, einen Raum, den er für unverletzlich hält oder dazu machen will“ (276f). 

Freiheit wird so zu einem Zustand, „in dem die Menschen nicht daran gehindert werden, den Gegenstand ihrer Verehrung und die Art, wie sie ihn verehren, selbst zu wählen“ (293). Erst wenn dieser Zustand erreicht sei, dürfe sich eine Gesellschaft als wirklich frei bezeichnen.

Entsprechend dem Worte Kants „Aus so krummen Holz, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nicht ganz Gerades gezimmert werden“ sah auch Mill, dass es Unterschiede zwischen den Menschen gab, dass sie die Fähigkeit haben, zu wählen und sich zu entscheiden – für das Gute ebenso wie für das Schlechte. So gehören Fehlbarkeit und das Recht auf Irrtum ebenso zur Freiheit wie Dogmatismus und endgültige Wahrheiten ihre Feinde sind.

So war Mill in ständiger Sorge, „Vielfalt zu erhalten, dem Wandel die Türen offenzuhalten, den Gefahren des gesellschaftlichen Drucks zu widerstehen“ (280).

In seinem berühmten Traktat „Über die Freiheit“ (1859) fasst Mill seine Freiheitsidee mit folgenden Worten zusammen: „Die Menschen gewinnen mehr dadurch, dass sie einander gestatten, so zu leben, wie es ihnen richtig erscheint, als wenn sie jeden zwingen, nach dem Belieben der übrigen zu leben“ – eine Binsenweisheit zwar, aber eine, die bis heute immer wieder neu gegen Konformismus und Intoleranz erkämpft werden muss.

Zitate aus: Isaiah Berlin: Freiheit. Vier Versuche, Frankfurt am Main 2006 (fischer)

Weitere Literatur: John Stuart Mill, Über die Freiheit, Köln 2009 (Anaconda)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen