Donnerstag, 1. Oktober 2020

Ulrich Sarcinelli und die digitale Gesellschaft im demokratischen Staat (Teil 1)


Im Sekundentakt werden Nachrichten durchs Internet geschleust. Das bringt die Politik mit ihren langsamen Denk- und Entscheidungsprozessen in Zugzwang. Sie muss Lösungen finden, wie sie den "digitalen Menschen" überhaupt noch erreichen kann.

 

Ulrich Sarcinelli (* 1946)
Wir leben in einer Zeit, in der zwei politische Kommunikationskulturen miteinander – besser nebeneinander – existieren: Die traditionelle Diskussionskultur der Parlamente, der TV-Talkshows oder auch des direkten Gespräches zwischen Politikern und Bürgern. Daneben gibt es die digitale Kommunikation, meist in Form einer rasanten, auf Schwarz-Weiß-Malerei basierten und unkontrollierbaren Empörungskultur in den Sozialen Medien. Und genau diese neue digitale Kultur könnte den demokratischen Staat gefährden, weil sie völlig andere Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen etabliert, so die These von Ulrich Sarcinelli in seinem Beitrag für die Reihe SWR Wissen.

 

Für Sarcinelli scheint die Diagnose klar, zumindest aus juristischer Sicht: „In Zeiten des Internets, dieser geographisch und sozial grenzenlosen Universalplattform, hat der Staat, der Nationalstaat zumal, an Macht eingebüßt. Das gilt für seine drei Kernelemente: für das Staatsgebiet, das Staatsvolk und für seine Staatsgewalt. Von Kontrollverlusten und Staatsversagen ist deshalb allenthalben die Rede, von Souveränitätseinbußen und Legitimitätsdefiziten.“

 

So entsteht zwangsläufig die Frage, ob der Staat in Zeiten des digitalen Wandels zum Auslaufmodell, zu einem „postfaktischen“ Phänomen wird. Die Vorstellung vom Staat als Auslaufmodell ist in historischer Sicht keineswegs neu! So haben Fichte, Marx und Engels, Nietzsche und vor allem Carl Schmitt den Untergang des Staats prognostiziert. Für Schmitt beispielsweise sei der Staat im Übergang zur liberalen Massendemokratie „als Träger der souveränen Staatsgewalt einem Ansturm vieler Kräfte und Mächte ausgesetzt. Im gesellschaftlichen Pluralismus schwinde der Dualismus von Staat und Gesellschaft und damit ein zentrales Unterscheidungsmerkmal des Politischen […]. Schmitts Befund, dass das Politische weit mehr ist als das Staatliche, gilt heute – und zwar mit Blick auf innerstaatliche wie auf zwischenstaatliche und multilaterale Politikverflechtungen – als eine Binsenweisheit.“

 

Für die belgische Politiktheoretikerin Chantal Mouffe dagegen ist der Staat kein postnationales Auslaufmodell. Sie fordert „die Schaffung einer lebendigen Sphäre des öffentlichen Streits“ und wendet sich „damit gegen den Traum progressiver Gesellschaftswissenschaftler (z.B. Ulrich Beck, Antony Giddens, Collin Crouch, Jürgen Habermas u.a.) von einer versöhnten Welt, in der Macht, Souveränität und Hegemonie als überwunden gelten. In ihrer jüngsten Streitschrift spricht sie sich sogar `Für einen linken Populismus´ […] aus, mit klaren Frontlinien und Polarisierung. Chantal Mouffe stellt damit den linken Populismus auf rechte Füße und bringt den Nationalstaat gegen Brüssel in Stellung.“

 

Die Frage ist nach Sarcinelli durchaus berechtigt, ob wir inzwischen den „Leviathan“ – hier verstanden als Staat als durchsetzungsfähige Ordnungsmacht mit Gewaltmonopol – nicht doch vermissen. „Nicht nur die anhaltende Debatte über die Flüchtlingsfrage gibt der Diskussion über Staatsversagen und Steuerungsverlust immer wieder Nahrung. Gleiches gilt für die Unfähigkeit zur Regulierung der internationalen Finanzmärkte, für die Klimapolitik und viele andere Politikfelder. Hier werden nicht nur die Grenzen rein staatlicher Handlungs-kompetenz deutlich, sondern auch die Grenzen im Rahmen europäischer und multilateraler Regelungen.“

 

Thomas Hobbes: Der Leviathan (Titelbild der Erstausgabe 1651) 


Dennoch hält Sarcinelli am Staat als der zentralen demokratischen Legitimationsinstanz fest. Obwohl wir in einem Zeitalter hoher Unsicherheit leben, „in einer Zeit, in der Rechtsstaatlichkeit nur in einem Geflecht von nationalen und suprainternationalen Regelungen geschützt werden kann, wo die Kontrolle der Staaten über ihre Ressourcen trotz Steuerhoheit und Gewaltmonopol zunehmend eingeschränkt wird, in einer Zeit aber auch, in der die Widerstände gegen Souveränitätsverluste national und international zunehmen“, erfolge demo-kratische Legitimation immer noch weitgehend auf nationaler Ebene. „Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die politische Architektur von Staatlichkeit verändert hat.“

 

Das sei übrigens kein Phänomen der Gegenwart. „Die Unterscheidung zwischen Staatlichkeit und Souveränität begleitet die deutsche Geschichte seit der Reichs-gründung. Neben der gesamtstaatlichen Souveränität des Bundes haben die Glieder, die Bundesländer in Deutschland, ihre Staatlichkeit behalten, bis heute. Das zeigt der deutsche Föderalismus mit seinen bisweilen mühsamen Kooperations- und Entscheidungsmechanismen.

 

Wenn es um staatliche Ordnungen geht, sind wir vielfach mit einem `komplexen Patchwork´ […] von Verträgen und Mitgliedschaften konfrontiert, mit jeweils eigenen Normen und Regeln. Von der engen Einbindung Deutschlands in den europäischen Staatenverbund ganz zu schweigen. Es gibt also viel mehr und ganz andere Arrangements hoheitlicher Herrschaft als den Nationalstaat.“

 

Dies führt verfassungsrechtlich zwangsläufig zu einer gewissen „Verantwortungs-diffusion“, die nicht selten als politisches Verantwortlichkeits-durcheinander wahrgenommen werde. „Das ist alles andere als trivial. Denn die Zuschreibung von Verdiensten wird ebenso erschwert wie die gezielte politische Sanktionierung im Wege demokratischer Wahlen. Letztlich geht es um eine veränderte „Architektur moderner politischer Ordnungen.“

 

Folglich gibt es heute eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Staatsauffassungen und Souveränitätskonzepten. „Sie reichen von Versuchen, den Staat als Ort des Politischen zu reanimieren bis hin zu postnationalen Abgesängen auf den Staat. Und dazwischen steht ein ‚bunter Strauß‘ mit differenzierten Arrangements hoheitlicher Herrschaftsausübung. Das alles gilt es in den Blick zu nehmen, wenn über die Rolle des Staates im Internetzeitalter nachgedacht wird. Halten wir zunächst einmal fest: Staatlichkeit verändert sich. Der moderne Staat ist Teil eines multinationalen, verflochtenen Systems. Aber der Staat verschwindet nicht einfach.“

 

Die Frage ist nun, welche Bedeutung diese staats- und politiktheoretischen Entwicklungen für die Gestaltung eines Gemeinwesens in Zeiten der Digitalisierung besitzen. Die These Sarcinellis lautet: „Auch in der globalisierten und digitalisierten Welt löst sich die politische Geographie nicht auf. Der Staat bleibt die zentrale Legitimationsinstanz.

 

"Der Staat bleibt die zentrale Legitimationsinstanz."

Trotz Transnationalisierung bleibt der Staat auch in Zeiten der geographisch unbegrenzten medialen Universalplattform Internet der maßgebliche kommu-nikative Bezugsrahmen für politische Akteure ebenso wie für uns Bürger. Denn öffentliche Diskurse über politische Themen finden ganz überwiegend innerhalb nationaler Gemeinschaften statt. Selbst in der Europäischen Union kann von einer entwickelten europäischen Öffentlichkeit keine Rede sein.“

 

So könne es auf nicht absehbare Zeit nur im staatlichen Kontext gelingen, gleichermaßen eine für die solidarische Produktion kollektiver Güter notwendige Sozialintegration und eine für die Durchsetzung bindender Entscheidungen erforderliche Systemintegration zu erreichen. „Bei allen Integrationserfolgen gilt dies sogar für die Staaten der Europäischen Union.“

 

„Trotz internationaler Kooperation, Verflechtung und Verantwortungsteilung unterliegt demokratische Politik in letzter politischer Konsequenz nur im staatlichen Kontext dem Gebot von Zustimmungsabhängigkeit und Begründungspflicht. Beides ist Grundlage von `Legitimation durch Kommunikation´ […]. Und hier stehen die Medien mit ihrem Auftrag zu informieren, zu orientieren und zu bewerten in einer besonderen Verantwortung.“

 

Allerdings verlange die Pflicht, Öffentlichkeit herzustellen und damit die Grundlage für den freien Austausch von Informationen und Meinungen zu schaffen, mehr als die „Bewirtschaftung von Aufmerksamkeit“ […], nämlich die Wahrnehmung von öffentlicher Verantwortung.

 

Gleichwohl haben sich die ‚Spielregeln‘ des Kommunikationsbetriebs im Zuge der Digitalisierung dramatisch verändert und so stellt sich die Frage, was der Staat bei der Steuerung und Gestaltung der Kommunikationsverhältnisse heute tun könne.


(Fortsetzung folgt)



Zitate aus: Ullrich Sarcinelli: „Der demokratische Staat und die digitale Gesellschaft“, SWR2-Wissen, Sendung vom 17. Februar 2019



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