Donnerstag, 24. September 2020

Euripides und die Troerinnen


Die Eroberung von der Kykladeninsel Melos wäre ein Randereignis des Peloponnesischen Krieges geblieben, hätte der griechische Historiker Thukydides nicht die Verhandlungen zwischen Athenern und Meliern in Form eines Dialogs wiedergegeben, der – in seinen Zentralaussagen bis heute gültig – das Wesen von Machtpolitik bloßlegt.

 

„Die Verhandlungen […] scheiterten, und so begann im Sommer 416 die Belagerung. Im folgenden Winter zwangen Hunger und Verrat die Melier schließlich zur bedingungslosen Kapitulation. Die Athener töteten alle erwachsenen Männer, verkauften Kinder und Frauen in die Sklaverei und schickten später 500 Siedler auf die entvölkerte Insel."

 

Euripides (ca. 484 - 406 v. Chr.)


Bei Thukydides sind die Athener der festen Überzeugung, dass  „allein die Macht [zähle]. Der Überlegene setze durch, was ihm beliebe, Recht sei eine Konvention, die nur dort greife, wo sich gleich starke Kräfte neutralisierten und auf einen Kompromiss einigen müßten."


Thukydides schrieb sein Werk bekanntlich nach der Beendigung des Peloponnesischen Krieges, d.h. nach der völligen Niederlage Athens. „Er bietet […] weit mehr als nur eine Analyse der athenischen Expansionspolitik. Der Historiker sucht das Wesen der Macht zu ergründen, der Dialog handelt scheinbar vom Peloponnesischen Krieg, tatsächlich aber von allen Kriegen."

 

Für Thukydides ist eines klar: „Alle sind dem Nómos unterworfen, der sie nicht anders handeln läßt, als sie handeln. Deswegen verzichten die thukydideischen Athener auf schöne Worte, um das zu sagen, was diese verbrämen.“ Thukydides zieht hier […] allgemeine Lehren vom Wesen des Krieges überhaupt: „Im Melier-Dialog sind die Athener nur noch eine Chiffre. Sie stehen für die Tragik der Großmächte. Um nicht zu kollabieren, müssen diese sich ausdehnen. Nur Ausgreifen sichert das Überleben, dem Ende der Expansion aber folgt der Zusammenbruch. Thukydides hat so etwas wie Mitleid mit den Großmächten: Ihre Verbrechen sind vergebens, denn ihr Untergang ist so zwangsläufig wie der von Melos."

 

Welche Resonanz die Ereignisse von Melos in der athenischen Gesellschaft fanden, ist natürlich heute schwer zu sagen. Es gibt gleichwohl ein zeitgenössisches Zeugnis, das deutlich macht, daß nicht alle Athener die Eroberung von Melos als Sieg verstanden: Die Tragödie Die Troerinnen von Euripides.

 

Euripides, der bis weit über den Sizilienfeldzug hinaus loyal zu seiner Heimatstadt Athen stand, nahm Stellung an dem Ort, den er beherrschte, d.h. auf der attischen Bühne. Auch wenn der Name Melos an keiner Stelle des Stückes genannt wird, so ist der Bezug allen Zuschauern mehr als klar gewesen.

 

Die Troerinnen ist das Schlussstück einer Tetralogie, deren andere Teile - Alexandros und Palamedes sowie das Satyrspiel Sisyphos – verloren gegangen sind. Sie wurde im Frühjahr 415 aufgeführt. „Die attische Flotte war siegreich von Melos zurückgekehrt, Athen schickte sich an, gegen Sizilien zu segeln, alle Gespräche drehten sich nur noch um die Reichtümer der großen Insel.

 

Dieser Euphorie stellt Euripides seine Tetralogie entgegen: Troia als Beispiel einer Stadt, die auf der Höhe ihrer Macht stürzt. Das Ausschlagen einer göttlichen Warnung, die Hybris der Menschen, führt Troia in den Untergang."

 

Die Troerinnen in der Verfilmung von Michalis Cacoyiannis
(mit Audrey Hepburn und Vanessa Redgrave)

Die Troerinnen setzen zu einem Zeitpunkt ein, an dem die Kampf um Troia bereits beendet ist. Die Stadt steht in Flammen, „es ist nicht mehr die mächtige Stadt am Ausgang des Hellespont, sondern eine entvölkerte Ruine. Die Sieger haben ihr Zeltlager bereits verlassen, die Besiegten sind dort eingezogen und warten auf ihr weiteres Schicksal, auf die Deportation.

 

Es sind nur mehr Frauen, die troianischen Männer sind gefallen, in den Tod geflüchtet. Sie haben mehr Glück gehabt, das Los der Sklavinnen ist schlimmer: `Doch Sterben ist besser noch als Leben voller Jammer. Den Toten kümmert’s nicht, wenn er ein Leid erfuhr´, sagt Andromache, Witwe Hektors. Die Griechen sind keine strahlenden Sieger, sondern Mörder: `Barbarengreuel dachtet ihr euch aus, ihr Griechen.´ Ihnen winkt keine Zukunft, sie werden erleiden, was die Troer erlitten und die Troerinnen noch erleiden. Selbst die Götter haben sich von ihnen abgewandt, wenn auch nicht wegen der Taten, zu denen auch sie fähig sind, sondern weil sie beleidigt sind."

 

Schon der Anfang des Stückes weist über das Ende hinaus. Der Sieg wird keine Früchte tragen. „Poseidon prophezeit es in seinem Prolog: `Ein Narr ist jeder Mensch, der Städte auslöscht, Tempel und Gräber, Heiligtümer der Entschlafenen, veröden läßt und selbst danach zugrunde geht!´."

 

Eigentlich hat das Stück keine eigentliche Handlung, sondern besteht aus locker miteinander verbundenen Szenen, „zusammengehalten von der Figur der Hekabe, Gattin des Priamos und Königin von Troia, die von Anfang bis Ende auf der Bühne präsent ist und in der sich alles Leid der troianischen Frauen bündelt.

 

Nach dem einleitenden Auftritt der Götter auf dem Theologeion, dem Kulissendach, erhebt sich die bis dahin am Boden kauernde Hekabe zu ihrer ersten Klage. Ab jetzt beherrschen Frauen die Bühne, die griechischen Helden werden zu Statisten degradiert, der wichtigste Mann des Stückes ist Talthybios, der Herold der Griechen, ein Subalterner und Befehlsempfänger."

 

„Durch die beiden Párodoi ziehen die Halbchöre der Troerinnen ein. Die versklavten Frauen erwarten ihr Los, fürchten die Orte, an die die Griechen sie verschleppen werden: Athen, Sparta, Thessalien oder Sizilien. Hekabe ahnt Schlimmes, doch es wird noch schlimmer kommen. Jeder Auftritt des griechischen Herolds steigert das Leid, das über die troianischen Frauen kommt. Wenn Hekabe glaubt, die Grenze des Erträglichen sei erreicht, überbringt Talthybios neue Hiobsbotschaften. Dieser selbst ist sich keines Unrechts bewußt, er überbringt die Befehle der Mächtigen, ob er sie gutheißt oder nicht, wird sie nicht ändern. Er fügt sich, und die anderen müssen sich fügen. Er schaudert nicht vor den Verbrechen zurück, er fürchtet nur, es könne sich nicht reibungslos vollziehen, was ohnehin geschehen muß."

 

Die Troerinnen von Cacoyannis (1971)

Die Griechen teilen die Beute unter sich auf, werfen das Los über die Troerinnen: „Hekabe fällt an Odysseus (das schlimmste Los), die Töchter Kassandra und Andromache werden an Agamemnon und Neoptolemos verteilt. Polyxene wird an Achills Grab geopfert werden. Talthybios beschwichtigt und mahnt zur Ruhe: der Reihe nach, jeder das Ihre.

 

Es folgt der Höhepunkt des ersten Epeisodion. Mit der Fackel, der Hochzeits-, nicht der Brandfackel, stürmt Kassandra aus dem Zelt. Sie kennt die Zukunft und wird daher nicht von der Angst der Ungewißheit niedergedrückt. Sie weiß, daß sie in Mykene sterben wird, aber sie kennt auch das Schicksal des Agamemnon und prophezeit den Untergang des Atridenhauses. Die Besiegte erhebt sich über die, die sich für Sieger halten."

 

Allen Zuschauern im Theater wird es allmählich dämmern, dass die Griechen in einen ungerechten Krieg gezogen sind, dass sie für die falschen Ziele entweder in der Fremde am dem Schlachtfeld umgekommen sind oder nach ihrer Rückkehr einen trostlosen Tod erleiden werden. „Die Zeit wird kommen, in der sie die geschlagenen Troier beneiden werden. Kassandra wiederholt, was schon Athene und Poseidon voraussagten: Es gibt keine Sieger."

 

Am Schluss des Stückes stürzt das brennende Troia in sich zusammen. „Talthybios gibt die letzten Befehle. Er hat die Klagen der Frauen satt: `Führt sie ab, zeigt keine Schonung.´ Die Soldaten treiben die Frauen zu den abfahrbereiten Schiffen. Aber auch den Siegern droht das Verhängnis. Der Zuschauer, der das Theater verläßt, weiß: Die griechische Flotte fährt in ihren Untergang. Binnen sieben Jahren werden sich die Prophezeiungen Kassandras erfüllt haben. Dann sind die Sieger in Meeresstrudeln ertrunken, von Kyklopen gefressen, an Felsen zerschmettert, von Mördern erschlagen, dem Wahnsinn verfallen, haben den Freitod gesucht oder irren noch auf dem Meer umher."

 

Wie bereits erwähnt, sind direkte Anspielungen auf das Schicksal von Melos bei Euripides nicht zu finden. Aber das war auch nicht nötig. „Das ganze Stück […] spielt im Schatten von Melos. Das Ereignis war zu frisch in Erinnerung, um aus ihr verdrängt werden zu können."

 

Massaker hatte es auch schon früher in der Geschichte der Griechen gegeben, auch Angriffe in Zeiten des Friedens waren nicht neu und auch nicht die Tatsache, dass Melos eine neutrale Polis war – das, was die Ereignisse um Melos heraushob, war etwas anderes:

 

„Der Feldzug gegen die Insel war das Präludium zu einer weit größeren Invasion. Die Dionysien, an denen die Dramen aufgeführt wurden, fielen in die Zeit zwischen Melos und Sizilien. Mit den Troerinnen verurteilt Euripides die athenische Aggressionspolitik und warnt vor ihrer Fortsetzung. Der militärische Erfolg von Melos, der den meisten Athenern Hoffnung auf noch einträglichere Siege machte, ist für Euripides ein Menetekel. Er erkennt die athenische Hybris, und er weiß, auch wenn er nicht an die alten Götter glaubt, daß der Überhebung unweigerlich der Sturz folgt."

 

Die Troerinnen in einer modernen Aufführung des The Sheldon Vexler Theatre

Die Troerinnen ist das politisch aktuellste Drama des Euripides. Die Athener von 415 konnten das Stück nur aus der Perspektive von Melos verstehen. Mit dem Angriff auf die Insel und der Zerstörung von Melos geht der kurze Friede des Nikias im Peloponnesischen Krieg zu Ende. „Nie war auf der attischen Bühne eine Mythenadaption leichter zu enträtseln gewesen. Das Drama spielte auf drei Zeitebenen und trug gleichsam drei Titel. Die `Troerinnen´ waren die Vergangenheit, die `Melierinnen´ die Gegenwart, die `Athenerinnen´ die Zukunft."

 

 

Zitate aus: Wolfgang Will: Athen oder Sparta. Die Geschichte des Peloponnesischen Krieges, München 2019 (C.H.Beck)

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