Donnerstag, 2. Oktober 2014

Hannah Arendt und der Totalitarismus - Teil 1: Die Massen

„Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1955 auf Deutsch erschienen) ist das vielleicht wichtigste, in jedem Fall umfangreichste Buch von Hannah Arendt. Auf insgesamt 1015 Seiten rekonstruiert sie einerseits die Entwicklung des Antisemitismus im 18. und 19. Jahrhundert sowie das Aufkommen des Rassismus und des Imperialismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert, andererseits entwirft sie eine umfassende Theorie des Totalitarismus, aufbauend auf den beiden historischen Formen totaler Herrschaft, dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus.

Arendt geht davon aus, dass totalitäre Herrschaft ohne Unterstützung durch eine Massenbewegung möglich ist: „Totalitäre Bewegungen sind Massenbewegungen, und sie sind bis heute die einzige Organisationsform, welche die modernen Massen gefunden haben und die ihnen adäquat scheint.“ (663)

„Ohne den Führer sind die Massen ein Haufen,
ohne die Massen ist der Führer ein Nichts“ (Hannah Arendt)

So seien totalitäre Bewegungen überall da möglich, wo Massen existieren, die „aus gleich welchen Gründen“ nach politischer Organisation verlangen. Das Entscheidende ist, dass die Massen nicht von gemeinsamen Interessen zusammengehalten werden, ihnen somit auch jedes spezifische Klassenbewusstsein fehlt, das sich bestimmte, begrenzte und erreichbare Ziele setzt.

Vielmehr ist der Ausdruck `Masse´ „überall da zutreffend, und nur da, wo wir es mit Gruppen zu tun haben, die sich, entweder, weil sie zu zahlreich oder weil sie zu gleichgültig für öffentliche Angelegenheiten sind, in keiner Organisation strukturieren lassen, die auf gemeinsamen Interessen an einer gemein erfahrenen und verwalteten Welt beruht, als in keinen Parteien, keinen Interessenverbänden, keinen lokalen Selbstverwaltungen, keinen Gewerkschaften, keinen Berufsvereinen“ (668).

Totale Herrschaft setzt also die allmähliche Zerstörung des politischen Raums und die Entfremdung des Individuums in der Massengesellschaft voraus. Mit dem Wegfall der Klassenstruktur und dem Zusammenbruch des Parteiensystems nun verwandelten sich Arendt zufolge die apathischen Mehrheiten, die bisher hinter jeder Parteien gestanden hatten, in „eine unorganisierte, unstrukturierte Masse verzweifelter und hasserfüllter Individuen, die nicht verband außer der allen gemeinsamen Einsicht, dass die Hoffnungen der Parteimitglieder auf die Wiederkehr der guten alten Zeit sich nicht erfüllen und dass sie jedenfalls diese Wiederkehr schwerlich erleben würden und dass daher diejenigen, welche bisher die Gemeinschaft vertraten … in Wahrheit Narren waren, die sich mit den bestehenden Mächten verbündeten, um alle übrigen entweder aus schierer Dummheit oder aus schwindelhafter Gemeinheit in den Abgrund zu führen“ (677f).
 
NSDAP - Reichsparteitag in Nürnberg (1936)

Das Erstaunliche nun ist, dass die politischen Eliten Europas „mindestens seit Jakob Burckhardt und Nietzsche“ auf das Emporkommen von Demagogen und Militärdiktaturen, auf die Verbreitung von Aberglauben, Leichtgläubigkeit, Dummheit und Brutalität vorbereitet waren. Es war daher schon unverzeihlich, dass sich viele Intellektuelle „in den Zeiten der Prüfung" von den Versprechungen des Kommunismus und Nationalsozialismus haben betören lassen.

Schlimmer jedoch war, dass sie kaum die Folgen dieses Phänomens eines radikalen Selbstverlusts vorausgesehen oder richtig eingeschätzt haben, „diese zynische oder gelangweilte Gleichgültigkeit, mit der die Massen dem eigenen Tod begegneten oder anderen persönlichen Katastrophen, und ihre überraschende Neigung für die abstraktesten Vorstellungen, diese leidenschaftliche Vorliebe, ihr Leben nach sinnlosen Begriffen zu gestalten, wenn sie dadurch nur dem Alltag und dem gesunden Menschenverstand, den sie mehr verachteten als irgend etwas sonst, entgehen konnten.“ (680)

Arendt verdeutlicht diese Beobachtung an den Moskauer Prozessen und der Liquidierung der Röhm-Fraktion. Beide wären nicht möglich gewesen, „wenn nicht gerade die Massen hinter Stalin und Hitler gestanden hätten“ (659).

Totalitäre Führer sind eben nicht nur Demagogen, und das Beunruhigende ihres Erfolges liegt nicht allein darin, dass sie an pöbelhafte Instinkte appellieren. Was die modernen Massen beispielsweise vom Mob unterscheidet, ist die Selbstlosigkeit und Desinteressiertheit am eigenen Wohlergehen, die sich so auffallend in den modernen totalitären Massenorganisationen manifestiert. Dass Mitglieder totalitärer Bewegungen sich nicht über Verbrechen gegen Gegner ihrer Ideologie aufregen, ist selbstverständlich. Aber keineswegs selbstverständlich ist, „dass wir die gleiche Bewunderung für das Verbrechen, oder doch zumindest die gleiche Indifferenz, auch dann antreffen, wenn die Betroffenen Mitglieder der eigenen Bewegung sind, und dass schließlich, wie wir aus zahllosen Beispielen aus der kommunistischen Partei wissen, die Anhänger auch dann nicht in ihren Überzeugungen zu erschüttern sind, wenn sie selbst die Opfer werden“ (660).
 
Das Selbstbild der Führer des Totalitarismus

Das war es auch, was die gesamte zivilisierte Welt an den Moskauer Prozessen so erschütterte und verwirrte: „Dass die Opfer als die willigen Helfershelfer der Ankläger erschienen und in ihren `Geständnissen´ die freien Erfindungen der Staatsanwaltschaft eher noch überboten. Die Parteidisziplin, der sie sich unterstellt hatten, als sie in die Bewegung eintraten … hielt allen Proben stand (…) Das Argument, dem sie sich alle beugten, lautete: `Wenn du wirklich, wie du behauptest, für die Sowjetunion bist, dann kannst du es augenblicklich nur dadurch beweisen, dass du die Geständnisse ablegst, die die Regierung von dir verlangt, weil sie in diesem Zeitpunkt solche Geständnisse braucht´“. Sie blieben, mit anderen Worten, auch auf der Anklagebank noch Funktionäre der Partei und bemühten sich … eifrig, das Beweismaterial für ihre eigenen Todesurteile … herbeizuschaffen“ (660f).

Die totalitären Bewegungen sind also „Massenorganisationen atomisierter und isolierter Individuen“, bei denen man eine im Vergleich zu anderen Parteien und Bewegungen, erstaunliche Ergebenheit und `Treue´ beobachten kann:

„Wie sehr die totale Ergebenheit der Mentalität des Massenindividuums entspricht, kann man deutlichst daran ablesen, dass totalitäre Führer und Bewegungen sich auf sie verlassen können, bevor sie die Macht ergriffen und den totalen Terror organisiert haben. Innerhalb der Bewegung genügt die ideologisch begründete Behauptung, dass die Bewegung im Begriff stehe, die gesamte Menschheit zu organisieren, vollkommen, denn wer diese Behauptung ernst nimmt, schließt sich ja von der zukünftigen Menschheit überhaupt aus, wenn er die Forderung der totalen `Treue´ nicht erfüllt“ (697f).
 
"Totalitäre Bewegungen sind Massenorganisationen
atomisierter und isolierter Individuen"

An dieser Stelle gibt Arendt bereits einen Ausblick auf einen der Wesenszüge totaler Herrschaft: Diese gibt sich nämlich niemals damit zufrieden, von außen, durch den Staat und einen Gewaltapparat, zu herrschen, sondern „in der ihr eigentümlichen Ideologie und der Rolle, die ihr in dem Zwangsapparat zugeteilt ist, hat die totale Herrschaft ein Mittel entdeckt, Menschen von innen her zu beherrschen und zu terrorisieren“ (701).

So haben weder der Nationalsozialismus, noch der Bolschewismus jemals eine neue Staatsform proklamiert oder behauptet, dass ihre Ziele mit dem Ergreifen der Macht und des Staatsapparats befriedigt seien. Was die Herrschaft betrifft, so ging es ihnen um etwas, was kein Staat und bloßer Gewaltapparat, sondern nur eine ständig „in Bewegung gehaltene Bewegung“ leisten kann, nämlich die ständige und sich auf alles erstreckende Beherrschung jedes einzelnen Menschen:

„Die Macht als Gewalt ist für die totalitäre Herrschaft niemals ein Ziel, sondern nur ein Mittel, und die Machtergreifung in einem gegebenen Land nur das willkommene Durchgangsstadium, nicht das Ende der Bewegung. Das praktische Ziel der Bewegungen ist, soviel Menschen wie möglich in die Bewegung hineinzuorganisieren und in Schwung zu bekommen; ein politisches Ziel, bei dem die Bewegung an ihr Ende kommen würde, gibt es überhaupt nicht“ (702).

Dazu gehört selbstverständlich auch die Unterdrückung aller höheren Formen geistiger Aktivität. Totale Beherrschung kann daher die freie Initiative in keinem Lebensbereich erlauben, „weil sie kein Handeln zulassen darf, das nicht absolut voraussehbar ist. Die totalitäre Bewegung muss daher, wenn sie erst einmal die Macht in der Hand hat, unerbittlich alle Talente und Begabungen, ohne Rücksicht auf etwaige Sympathien durch Scharlatane und Narren ersetzen; ihre Dummheit und ihr Mangel an Einfällen sind so lange die beste Bürgschaft für die Sicherheit des Regimes, als dieses noch nicht seine eigene Funktionärsschicht herangezogen hat, die selbst gegen die Menschlichkeit der Narrheit und Scharlatanerie gefeit ist“ (724).

(Fortsetzung folgt)


Zitate aus: Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 2009 (piper)   -   Weitere Literatur: Joachim Fest: Bürgerlichkeit als Lebensform. Späte Essays, Hamburg 2008 (Rowohlt)   -   Michael Rohrwasser: Der Stalinismus und die Renegaten, Stuttgart 1991 (Metzler)

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