Donnerstag, 10. September 2020

Levent Tezcan und die Maßlosigkeit in der Rassismusdebatte


Am 28. Juli 2020 erschien in der tageszeitung ein bemerkenswerter Kommentar von Levent Tezcan mit dem programmatischen Titel „Gefährliche Wendung. Selbst Liberale und Linke sind nicht mehr davor gefeit, als Rassisten gebrandmarkt zu werden. Das ist eine neuartige Maßlosigkeit.

Levent Tezcan
Levent Tezcan wurde 1961 in Havza, einer anatolischen Kleinstadt, geboren. Er kam 1988 als politischer Flüchtling nach Deutschland und ist heute Professor am Institut für Soziologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

In beeindruckender Weise demaskiert Tezcan die gegenwärtige Rassismus-debatte und ihre vehementen Vertreter. Tezcan stellt fest, dass die gesamte Debatte über Rassismus mittlerweile eine gefährliche Wendung angenommen habe. Letztlich, so eine seiner zentralen Thesen, führe die Rassismuskritik nicht mehr zu neuer Solidarität, sondern diene dem Zelebrieren eines affirmierten Opferstatus und drohe zur Selbstbestätigung auszuarten: 

„Menschen mit Migrationshintergrund melden sich zu Wort. Sie sind gebildet, wortgewandt. Sie sollen den Rassismus anprangern, nicht mehr nur den Rassismus, der von faschistischen Parteien unverblümt propagiert wird; auch nicht den, der noch in den Gesetzen und Institutionen steckt. Sie wollen ihn aus den entlegensten Ecken der Sprache, Kultur, Erinnerung herauszerren. Sie initiieren #MeTwo-Debatten.“

Das Problem dabei ist: „Mit einem quasireli­giö­sen Furor will eine neue Generation People of ­Color jede auch noch so verborgene rassistische Regung in der Seele ausrotten. Selbst die Liberalen, gar die Linken, die immer schon ein sicherer Hafen für die Fremden im Lande waren, sind nicht mehr davor gefeit, als Rassisten gebrandmarkt zu werden.

Kürzlich sagte in einem Spiegel-Interview die Erziehungswissenschaftlerin DiAngelo, dass sich „mit Liberalen am schwersten reden“ lasse. Sie würden nicht akzeptieren, dass sie rassistisch sind. Rassismus habe nichts mit Intentionen zu tun, heißt es. Er sei bereits in die Strukturen eingebaut. Wer nicht Schwarz/PoC ist (und also automatisch „weiß“), ist demnach unvermeidlich ein Rassist aufgrund seiner privilegierten Geburt.“

Tezcan kritisiert dieses Auftreten mit deutlichen Worten: „Gewappnet mit dem moralischen Panzer des Minderheitenstatus, sind diese neuen Minderheits-vertreter immer schon im Recht, sprechen sie doch aus Diskrimminierungserfahrung (…), diese scheinbar unbestreitbare Erfahrung, stattet ihre Sprecher gleich mit dem moralischen Anspruch aus, bereits dadurch im Besitz der Wahrheit zu sein. Unablässig prangern sie das rassistische Ressentiment an, sind aber selbst voll Ressentiments gegenüber denjenigen, die sie für die Dominanten halten.“

DiAngelo: Wer nicht Schwarz/PoC ist, ist unvermeidlich
ein Rassist aufgrund seiner privilegierten Geburt!"
Tezcan geht soweit, im Rassismus die neue „Ursünde“ der modernen Gesellschaft zu sehen. Im Kern geht es dabei um vermeintliche Privilegien der potentiell rassistischen Mehrheits-gesellschaft. So bemerkt Tezcan, dass er als Hochschullehrer zweifellos viele Privilegien genießt, „die die große Mehrheit der Gesellschaft (ob schwarz, weiß oder türkisch) nicht besitzt. Nach der Logik der neuen Rassismuskritiker kann ich aber meinem germanischen Kollegen, einem beschlagenen Soziologen, der sich von einem Drittmittelantrag zum nächsten bis zur Rente durchschlagen muss, jederzeit seine „Privilegien“ vorwerfen und, bei Bedarf, daraus Rassismus ableiten.“

„Man muss sich die perverse Logik genau vor Augen führen, die hier am Werke ist: Selbst wenn ich wollte, könnte ich mich dem neuen kulturellen Paradigma „Gestehe, wie rassistisch du bist“ nicht unterziehen. Während „Weiße“ nicht keine Rassisten sein können, kann ich gar nicht rassistisch sein. Welch ein Glück? Ich fühle mich ganz und gar diskriminiert, wenn mir die Möglichkeit genommen wird, rassistisch sein zu können. Rassistisch sein zu dürfen, ist und bleibt ein „weißes Privileg“!“

Werden politische Positionen nach Herkunft verteilt, würde sich der gesellschaftliche Diskurs in gefährlicher Nähe eines zwar nicht rassistischen, wohl aber eines rassischen Denkens bewegen, so Tezcan.

Die westliche Zivilisation sei wohl die erste, deren Selbstverständnis es nicht nur zulässt, sondern geradezu vorschreibt, dass die Schwachen den Mächtigen vorwerfen dürfen, dass diese eben die Mächtigen sind. „Als Nachfahre von Osmanen, deren Eroberungssinn dem der Europäer lange in nichts nachstand, kann ich mir schwer vorstellen, dass so etwas dort, aber auch bei den Römern, antiken Griechen, Mongolen, in den Hindureichen, um vom Reich der Mitte ganz zu schweigen, je denkbar gewesen wäre.“

Für viele People of Color beginnt, so Tezcan weiter, „die Geschichte mit dem westlichen Kolonialismus und sie wird auch, darin belehren uns täglich die Postkolonialen, nie enden. Umso absurder wird das Bild, wenn immer mehr Nachfahren von Osmanen und Arabern ins Outfit von People of Color schlüpfen und den Kolonialismus als nie enden werdenden Beginn der Geschichte der Ursünde anprangern. Was für eine Allianz!“
 
Absurd, wenn immer mehr Nachfahren von Osmanen und Arabern ins Outfit von People of Color schlüpfen und den Kolonialismus als nie enden werdenden Beginn der Geschichte der Ursünde anprangern.

Dieser Allianz genüge der brutale, menschenverachtende Rassismus der Rassisten nationalsozialistischer Art nicht für einen antirassistischen Kampf. „Schon die erste Regel, die Ausweisung der inzwischen maßlos skandalisierten Frage: „Woher kommst du eigentlich?“ als rassistisch, belegt hinreichend die Maßlosigkeit.

Führt von der Frage nach dem Woher ein direkter oder indirekter Weg zur öffentlichen Ermordung eines Menschen? Lässt sich ein rassistischer Mord, lässt sich der mörderische Rassismus überhaupt auf derartige Fragen zurückführen?“

Im Falle des Rassen-Rassismus ist der Ausgang der Lage ganz klar: mörderisch. Im Falle der Frage nach Herkunft im „alltäglichen Rassismus“ sind Möglichkeiten für einen Ausgang aus der Situation nahezu unendlich …

Zitate aus: Levent Tezcan: Gefährliche Wendung. Selbst Liberale und Linke sind nicht mehr davor gefeit, als Rassisten gebrandmarkt zu werden. Das ist eine neuartige Maßlosigkeit, die tageszeitung, 29.07.2020

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