Johann Sebastian Bach |
Ende Mai 1723 nahm Bach seinen Dienst in Leipzig
als Thomaskantor auf. Als Kantor und Musikdirektor war er für die Musik in den
vier Hauptkirchen der Stadt verantwortlich. Dazu zählte die Vorbereitung einer
Kantaten-aufführung an jedem Sonntag (!) und an den Feiertagen.
Für den 1. Sonntag nach Trinitatis des Jahres 1726, den 23.
Juni, komponierte Johann Sebastian Bach die Kantate „Brich dem Hungrigen dein
Brot“ (BWV 39). Das Werk gehört zum dritten Leipziger Kantatenjahrgang.
Die vorgeschriebene 1. Lesung für den Sonntag war der Text
„Gott ist Liebe“ (1. Joh 4,16–21)
Gott ist die Liebe;
und wer in der Liebe
bleibt, der bleibt in Gott
und Gott in ihm. (…)
Und dies Gebot haben
wir von ihm,
dass, wer Gott liebt,
dass der auch seinen
Bruder liebe.“
Die 2. Lesung aus dem Evangelium war das „Gleichnis vom
reichen Mann und armen Lazarus“ (Lk 16,19–31),
das zwei Figuren einander gegenüberstellt: Der arme Lazarus liegt vor dem Tor
des Reichen und begehrt die Brotstücke, die von dessen Tisch auf den Boden
fallen, die ihm der Reiche aber verweigert.
Lazarus
und der Reiche (Codex Aureus Epternacensis) |
Nach seinem Tod findet sich Lazarus in Abrahams Schoß
wieder. Auch der Reiche stirbt und wird begraben, findet sich aber in der
Unterwelt wieder, in der er qualvolle Schmerzen leidet. Von Abraham wird der
Reiche aufgeklärt: “Mein Kind, denk daran, daß du schon zu Lebzeiten deinen
Anteil am Guten erhalten hast, Lazarus aber nur Schlechtes. Jetzt wird er dafür
getröstet, du aber mußt leiden.“
Das Thema der Kantate ist - in klarer Anlehnung an die
beiden Lesungen – der Aufruf zur Nächstenliebe. Der Titel des Werkes schlägt
den Bogen zur alttestamentlichen Tradition der Nächstenliebe, wie sie sich vor
allem bei den Propheten findet:
„Brich mit dem
Hungrigen dein Brot,
und die im Elend ohne
Obdach sind,
führe ins Haus! (…)
Dann wird dein Licht
hervorbrechen wie die Morgenröte,
und deine Heilung wird
schnell voranschreiten,
und deine
Gerechtigkeit wird vor dir hergehen,
und die Herrlichkeit
des HERRN
wird deinen Zug
beschließen.“ (Jes 58, 7f )
Auch der abschließende Choral, die 6. Strophe des Liedes „Kommt,
laßt euch den Herren lehren“ von David Denicke betont die Notwendigkeit der
Solidarität mit den Bedürftigen:
Selig sind, die aus
Erbarmen
sich annehmen fremder
Noth,
sind mitleidig mit den
Armen,
bitten treulich für
sie Gott ;
die behilflich sind
mit Rath,
auch, wo möglich, mit
der That,
werden wieder Hilf
empfangen,
und Barmherzigkeit
erlangen.
Vier Jahre, nachdem die Kantate im Gottesdienst in Leipzig
erklang, wurden etwa 20.000 protestantische Christen aus dem Fürsterzbistum
Salzburg aufgrund des Ausweisungserlasses von 1731 aus ihrer Heimat vertrieben.
Berliner Briefmarke (1982)
|
Von ihrem Beginn an hatte die Reformation im Fürsterzbistum
Salzburg stets viele Anhänger gefunden, obwohl im Erzbistum ausschließlich die
katholische Konfession erlaubt war.
Die Existenz von „Geheimprotestanten“ – Protestanten, die
vorgaben, katholisch zu sein - war den Behörden gleichwohl bekannt. Wer in die
Hände der Machthaber geriet, wurde unter Bruch der Bestimmungen des
Westfälischen Friedens sofort aus Salzburg ausgewiesen.
Schließlich bekannten sich die Protestanten in einer Bittschrift
offen zum protestantischen Glauben. Ihr Ziel war es, im Land anerkannt zu werden
und eigene protestantische Prediger zu erhalten. Dazu war die Salzburger
Regierung nicht bereit und beschloss, die Protestanten so schnell wie möglich
des Landes zu verweisen, damit sie sich nicht weiter ausbreiten könnten.
Der Ausweisungsbeschluss des Erzbischofs vom 31. Oktober
1731 widersprach ganz eindeutig dem Westfälischen Frieden. Zwar war eine Ausweisung
Andersgläubiger im Fall Salzburgs nicht prinzipiell illegal, aber ihre konkrete
Ausgestaltung verletzte eindeutig die Friedensbestimmungen: Statt mindestens
drei Jahren wurden Besitzlosen nur acht Tage Abzugsfrist gewährt, Besitzenden
je nach Vermögen ein bis drei Monate.
Im Spätherbst und Winter 1731/32 begannen die Ausweisungen.
Die Verteilung der Flüchtlinge in den protestantischen Gegenden Süddeutschlands
bereitete erhebliche Probleme. Einige Gruppen machten sich auf den Weg in die
Niederlande, andere wanderten nach Amerika auf.
Symbolische Darstellung des Empfangs
Salzburger Exulanten in Preußen
durch König Friedrich Wilhelm I.
(unbekannter Künstler)
Es war der Preußenkönig Friedrich Wilhelm I., der am 2.
Februar 1732 eine offizielle Einladung für die Salzburger Lutheraner
aussprach. Sie sollten bei der Wiederbesiedelung des Kronlandes in Ostpreußen
helfen.
Bei ihrem Zug kamen die Salzburger auch durch Leipzig. 1600 Protestanten
trafen Mitte Juni 1732 in Leipzig ein, wurden mit hingebender Gastfreundschaft
aufgenommen, selbst bei den Thomanern wurden Flüchtlinge untergebracht. Auch an
die geistlich Stärkung wurde gedacht und so ließ Bach in dem am Sonntag
stattfindenden Festgottesdienst die Kantate „Brich mit dem Hungrigen dein
Brot“, die er vier Jahre vorher komponiert hatte, wieder aufführen. Ein Zeichen für Bachs tiefe Frömmigkeit und
lutherischen Glauben. Schließlich zogen die Flüchtlinge weiter, ihrer neuen
preußischen Heimat entgegen.
Für die Region Salzburg hatte der hohe Bevölkerungsverlust
durch die Vertreibung anders als lange vermutet keine katastrophalen
wirtschaftlichen Folgen. Erst 1966 sprach der Erzbischof Andreas Rohracher im
Rahmen eines Festaktes sein tiefes Bedauern über die Vertreibung aus.
Zum Anhören: Brich´ mit dem Hungrigen dein Brot (BWV 39)
Literatur: Hermann Keller: Bachs Frömmigkeit und Glaube, in: Württembergische Blätter für Kirchenmusik, 13.
Jahrgang Nr. 2, Februar 1939 - Aufbau und vollständiger Text der Kantate online unter: https://webdocs.cs.ualberta.ca/~wfb/cantatas/39.html
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