Gewidmet den Schülerinnen und Schülern
meines Philosophiekurses
(Abitur 2015) ... Danke!
Karl Raimund Popper (1902 - 1994) |
Für Kant war Aufklärung „der Ausgang des Menschen aus seiner
selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines
Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese
Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes,
sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines
anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu
bedienen!, ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“
Dies ist Popper zufolge mehr als nur eine einfache
Definition, es ist „ohne Zweifel ein persönliches Bekenntnis; es ist ein Abriß
seiner eigenen Geschichte. Aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen und im
beschränkten Gesichtskreis des Pietismus, beschritt Kant mutig den Weg der Selbstbefreiung
durch das Wissen (…) Man könnte wohl sagen, daß die Idee der geistigen
Selbstbefreiung der Leitstern seines Lebens war, und daß der Kampf um die
Realisierung und Verbreitung dieser Idee sein Leben erfüllte.“
Eine entscheidende Rolle in dem Prozess der Selbstbefreiung
spielte Kopernikus´ Himmelsmechanik und die Kosmologie Isaac Newtons. Das Kopernikanische
und Newtonsche Weltsystem übten auf Kants intellektuelle Entwicklung einen
denkbar starken Einfluß aus. Das erste wichtige Buch Kant beschäftigt sich
dementsprechend mit der allgemeinen Naturgeschichte und der Theorie des Himmels:
„Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprung des ganzen Weltgebäudes,
nach Newtonschen Grundsätzen abgehandelt.“
Kants Erstlingswerk: Ein Buch über Kosmologie! |
Für Popper ist dieses Werk der wohl „großartigste Wurf, der
je in der Kosmologie und Kosmogonie getan wurde. Es enthält die erste klare
Formulierung nicht bloß jener Theorie, die heute gewöhnlich die `Kant-Laplacesche
Hypothese vom Ursprung des Sonnensystems´ genannt wird, sondern auch eine
Anwendung dieser Theorie auf das Milchstraßensystem selbst (…) Aber selbst das
wird noch in den Schatten gestellt durch Kants Deutung der Nebelsterne als
Milchstraßen, als ferne Sternensysteme, die unserem eigenen analog sind.“
Es war letztlich das kosmologische Problem, das Kant zu
einer neuen Theorie der Erkenntnis führte und zu seiner Kritik der reinen
Vernunft, denn das Problem, das er zu lösen versuchte – und vor dem kein
Kosmologe weglaufen kann –, war das verwickelte Problem der Endlichkeit oder
Unendlichkeit der Welt, und zwar sowohl mit Bezug auf den Raum als auch mit
Bezug auf die Zeit.
Kant berichtet in einem Brief, er habe das zentrale Problem
der Kritik der reinen Vernunft gefunden, als er versuchte zu entscheiden, ob
die Welt einen zeitlichen Anfang hat oder nicht. „Zu seinem Erstaunen entdeckte
er, daß sich scheinbar gültige Beweise für beide Möglichkeiten aufstellen
ließen.“
Der erste Beweis beruht auf der Vorstellung einer
unendlichen Folge von Jahren (oder Tagen oder irgendwelchen gleich langen und
endlichen Zeitintervallen). Eine solche unendliche Folge von Jahren ist eine
Folge, die immer weiter geht und niemals zu einem Ende kommt. Sie kann niemals
abgeschlossen vorliegen: „Eine abgeschlossene oder vollendete unendliche Folge
von Jahren ist (für Kant) ein Unding, ein Widerspruch in sich selbst.“
Kants erster Beweis argumentiert nun folgendermaßen: „Die
Welt muß einen Anfang in der Zeit haben, da sonst im gegenwärtigen Augenblick
eine unendliche Folge von Jahren verflossen ist und daher abgeschlossen und
vollendet vorliegen muß. Das ist aber, wie wir gesehen haben, unmöglich. Damit
ist der erste Beweis geführt.“
Der zweite Beweis beginnt mit einer Analyse des Begriffes
einer völlig leeren Zeit – der Zeit vor der Entstehung der Welt. „Eine solche
leere Zeit, in der es überhaupt nichts gibt, muß notwendigerweise eine Zeit
sein, worin kein Zeitintervall von einem anderen Zeitintervall durch seine
zeitlichen Beziehungen zu Dingen oder Vorgängen differenziert ist; denn Dinge
oder Vorgänge gibt es eben überhaupt keine. Betrachten wir nun aber das letzte
Zeitintervall einer solchen leeren Zeit – das Zeitintervall, das dem Anfang der
Welt unmittelbar vorangeht: Dann wird offenbar, daß dieses Zeitintervall von
allen vorhergehenden Intervallen dadurch differenziert ist, daß es in einer
engen und unmittelbaren zeitlichen Beziehung zu einem bestimmten Vorgang,
nämlich der Entstehung der Welt, steht; andererseits ist, wie wir gesehen
haben, dasselbe Zeitintervall leer, das heißt es kann in keiner zeitlichen
Beziehung zu einem Vorgang stehen. Also ist dieses letzte leere Zeitintervall
ein Unding, ein Widerspruch in sich selbst (…)
Die Welt kann keinen Anfang in der Zeit haben, da es sonst
ein Zeitintervall geben müßte – nämlich das Intervall unmittelbar vor der
Entstehung der Welt –, das sowohl leer ist als auch dadurch charakterisiert,
daß es in einer engen zeitlichen Beziehung zu einem Vorgang in der Welt steht.
Das ist aber, wie wir gesehen haben, unmöglich.“
Antinomie: "A" kann nicht gleich "Nicht-A" sein |
Wir haben hier einen Widerstreit zwischen zwei Beweisen, den
Kant eine „Antinomie“ nannte. Eine Antinomie ist eine spezielle Art des
logischen Widerspruchs, bei der die zueinander in
Widerspruch stehenden Aussagen gleichermaßen gut begründet oder bewiesen sind. Die
Antinomien, von denen Kant in der Kritik der reinen Vernunft spricht, sind sich
logisch widersprechende Antworten auf die Fragen der Vernunft. Bereits in der
Vorrede der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft schreibt Kant:
„Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in
einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie
nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst
aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen
alles Vermögen der menschlichen Vernunft.“
Kant fand sich noch in andere Antinomien verwickelt, zum
Beispiel in solche hinsichtlich der Begrenzung der Welt im Raume oder auch in
die Frage von Freiheit und Kausalität.
Was wir aus diesen Antinomien lernen können, ist nach Kant
vor allem die Erkenntnis, dass unsere Vorstellungen von Raum und Zeit auf die
Welt als Ganzes unanwendbar sind. „Die Vorstellungen von Raum und Zeit sind
natürlich auf gewöhnliche physische Dinge und Vorgänge anwendbar. Dagegen sind
Raum und Zeit selbst weder Dinge noch Vorgänge. Sie können nicht einmal
beobachtet werden; sie haben einen ganz anderen Charakter.“
Raum und Zeit, so Popper weiter, stellen für Kant eher eine
Art von Rahmen für Dinge und Vorgänge dar, vergleichbar mit einem System von
Fächern oder einem Katalogsystem zur Ordnung von Beobachtungen. „So gehören Raum
und Zeit nicht zu der wirklichen empirischen Welt der Dinge und Vorgänge,
sondern zu unserem eigenen geistigen Rüstzeug, zu dem geistigen Instrument,
womit wir die Welt angreifen. Raum und Zeit fungieren ähnlich wie
Beobachtungsinstrumente. Wenn wir einen Vorgang beobachten, dann lokalisieren
wir ihn in der Regel unmittelbar und intuitiv in einer raum-zeitlichen Ordnung.
Wir können daher Raum und Zeit als ein Ordnungssystem charakterisieren.“
Immanuel Kant (1784 - 1804) |
„Zeit und Raum“ sind in unserem Geist apriorisch vor aller Erfahrung vorhanden, sie sind die „Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis.“ So stammt dieses Ordnungssystem gerade nicht aus der Erfahrung, auch wenn es in jeder Erfahrung verwendet wird und auf alle Erfahrungen angewendet.
Dies ist der Grund dafür, daß der Mensch in solche Schwierigkeiten gerät, wenn er
die Vorstellung von Raum und Zeit auf einem Gebiet anzuwenden versucht, das
über alle mögliche Erfahrung hinausgeht – und genau das sind die transzendenten
Fragen über den Beginn der Welt.
Kant gab seiner Theorie den irreführenden Namen „Transzendentaler
Idealismus“ und „er hatte bald Grund, die Wahl dieses Namens zu bereuen, denn
der Name führte manche seiner Leser dazu, ihn für einen Idealisten zu halten
und zu glauben, Kant bestreite die Realität der physischen Dinge.“ Dagegen
hatte Kant immer betont, daß die physischen Dinge in Raum und Zeit wirklich
sind – real, nicht ideal.
Es sind ja gerade die wilden metaphysischen Auswüchse der
spekulativen Vernunft des „Deutschen Idealismus“, auf die der Titel der „Kritik
der reinen Vernunft“ - von Kant bewusst gewählt – abzielt, denn was Kants
„Kritik“ kritisiert, ist eben die reine Vernunft. Kant kritisiert Aussagen der Vernunft
über die Welt, die „rein“ in dem Sinne sind, „daß sie von Sinneserfahrung
unberührt und durch keine Beobachtung kontrolliert sind. Kant kritisierte die „reine
Vernunft“, indem er zeigte, daß reines spekulatives, durch keine Beobachtungen
kontrolliertes Argumentieren über die Welt uns immer in Antinomien verwickeln
muß.“
Kant schrieb seine Kritik unter dem Einfluss von Hume. Für
beide war die Erkenntnis entscheidend, daß die Grenzen möglicher
Sinneserfahrung und die Grenzen von vernünftigen Theorien über die Welt
identisch sind. Auch die Gültigkeit der Newtonschen Physik stand hier auf dem
Prüfstand: Natürlich war auch Kant völlig davon überzeugt, daß Newtons Theorie
wahr und unanfechtbar sei. Aber Kant ging davon aus, „daß diese Theorie nicht
nur das Resultat von angesammelten Beobachtungen sein könne. Was sonst konnte
aber ihr Wahrheitsgrund sein?“
Obwohl sich die Gültigkeit der Newtonschen Physik in allen
unseren Beobachtungen bewährt, „ist sie doch nicht das Resultat von
Beobachtungen, sondern von unseren eigenen Denkmethoden: von den Methoden, die
wir anwenden, um unsere Sinnesempfindungen zu ordnen, zueinander in Beziehung
zu setzen, zu assimilieren, zu verstehen. Nicht die Sinnesdaten, sondern unser
eigener Verstand – die Organisation und Konstitution unseres geistigen
Assimilierungssystems – ist verantwortlich für unsere naturwissenschaftlichen
Theorien.“
Die Natur – oder wie in der der Antike: der Kosmos - die wir
mit ihrer Ordnung und ihren Gesetzen erkennen, ist letztlich das Resultat
einer ordnenden und assimilierenden Tätigkeit unseres Geistes. Kants eigene Formulierung dieser Idee ist unübertroffen: „Der
Verstand schöpft seine Gesetze … nicht aus der Natur, sondern schreibt sie
dieser vor!“
Dies ist die Idee von der „Kopernikanischen Wende“:
„Kopernikus“, schreibt Kant, „nachdem es mit der Erklärung der
Himmelsbewegungen nicht gut fortwollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer
drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen könnte,
wenn er den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in Ruhe ließe.“
Der Schritt in ein neues Weltbild |
Wir müssen also nach Kant den Gedanken aufgeben, „daß wir
passive Zuschauer sind, die warten, bis die Natur ihnen ihre Gesetzmäßigkeiten
aufdrängt. An die Stelle dessen müssen wir den Gedanken setzen, daß, indem wir unsere
Sinnesempfindungen assimilieren, wir, die Zuschauer, ihnen die Ordnung und die
Gesetze unseres Verstandes aufzwingen. Unser Kosmos trägt den Stempel unseres
Geistes.“
Für den Forschungsprozess ergeben sich aus dieser Idee
entscheidende Konsequenzen: Für Popper gibt es „so etwas wie ein Kantisches
intellektuelles Klima“. So müsse die Vernunft des Forschers die Natur nötigen,
auf seine Fragen zu antworten, er dürfe sich aber nicht von ihr gleichsam am
Leitbande gängeln lassen. „Der Forscher muß die Natur ins Kreuzverhör nehmen,
um sie im Lichte seiner Zweifel, Vermutungen, Ideen und Inspirationen zu sehen.
Das, glaube ich, ist eine tiefe philosophische Einsicht. Sie ermöglicht es, die
Naturwissenschaft (nicht nur die theoretische, sondern auch die experimentelle)
als eine echt menschliche Schöpfung anzusehen und ihre Geschichte, ähnlich wie
die Geschichte der Kunst und der Literatur, als einen Teil der Ideengeschichte
zu behandeln.“
Neben der epistemischen gibt es noch eine anthropologische Bedeutung der „Kopernikanischen Wende“. „Kopernikus nahm der
Menschheit ihre zentrale Position in der Welt. Kants `Kopernikanische Wendung´
ist eine Wiedergutmachung dieser Position. Denn Kant beweist uns nicht nur, daß
unsere räumliche Stellung in der Welt irrelevant ist, sondern zeigt uns auch,
daß sich, in gewissem Sinne, unsere Welt um uns dreht. Denn wir sind es ja,
die, wenigstens zum Teil, die Ordnung erzeugen, welche wir in der Welt finden.
Wir sind es, die unser Wissen von der Welt erschaff en. Wir sind es, die die
Welt aktiv erforschen; und die Forschung ist eine schöpferische Kunst.“
Nachbemerkung: "Für das Problem der Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt
im Raume gibt es seit Einstein einen glänzenden Lösungsvorschlag, nämlich eine
Welt, die endlich, aber ohne Grenzen ist. Einstein, so kann man wohl sagen,
durchhieb damit den Kantischen Knoten; aber er hatte dafür viel schärfere Waffen zur Verfügung als Kant und dessen Zeitgenossen. Für das Problem der
zeitlichen Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt gibt es dagegen heute noch
keinen so einleuchtenden Lösungsvorschlag."
(Fortsetzung folgt)
Zitate aus: Karl Popper: Immanuel Kant - Der Philosoph der Aufklärung. Eine
Gedächtnisrede zu seinem hundertfünfzigsten Todestag, gehalten in englischer
Sprache im englischen Rundfunk (British Broadcasting Corporation) am 12.
Februar 1954, in: Karl Popper: Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vorträge
und Aufsätze aus dreißig Jahren, München 1999 (Piper Verlag)
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