Donnerstag, 21. Mai 2015

Karl Popper und Immanuel Kant (Teil 1) - "Der bestirnte Himmel über mir ..."

Gewidmet den Schülerinnen und Schülern 
meines Philosophiekurses 
(Abitur 2015) ... Danke!


Karl Raimund Popper (1902 - 1994)
Zum hundertfünfzigsten Todestag hielt Karl Popper in der BBC einen Vortrag, in dem er Kant als letzten großen Vorkämpfer der Aufklärung verteidigt – gegen die romantische Schule des „Deutschen Idealismus“ von Fichte, Schelling und Hegel, die die Aufklärung vernichtete.

Für Kant war Aufklärung „der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!, ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“

Dies ist Popper zufolge mehr als nur eine einfache Definition, es ist „ohne Zweifel ein persönliches Bekenntnis; es ist ein Abriß seiner eigenen Geschichte. Aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen und im beschränkten Gesichtskreis des Pietismus, beschritt Kant mutig den Weg der Selbstbefreiung durch das Wissen (…) Man könnte wohl sagen, daß die Idee der geistigen Selbstbefreiung der Leitstern seines Lebens war, und daß der Kampf um die Realisierung und Verbreitung dieser Idee sein Leben erfüllte.“

Eine entscheidende Rolle in dem Prozess der Selbstbefreiung spielte Kopernikus´ Himmelsmechanik und die Kosmologie Isaac Newtons. Das Kopernikanische und Newtonsche Weltsystem übten auf Kants intellektuelle Entwicklung einen denkbar starken Einfluß aus. Das erste wichtige Buch Kant beschäftigt sich dementsprechend mit der allgemeinen Naturgeschichte und der Theorie des Himmels: „Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprung des ganzen Weltgebäudes, nach Newtonschen Grundsätzen abgehandelt.“

Kants Erstlingswerk:
Ein Buch über Kosmologie!
Für Popper ist dieses Werk der wohl „großartigste Wurf, der je in der Kosmologie und Kosmogonie getan wurde. Es enthält die erste klare Formulierung nicht bloß jener Theorie, die heute gewöhnlich die `Kant-Laplacesche Hypothese vom Ursprung des Sonnensystems´ genannt wird, sondern auch eine Anwendung dieser Theorie auf das Milchstraßensystem selbst (…) Aber selbst das wird noch in den Schatten gestellt durch Kants Deutung der Nebelsterne als Milchstraßen, als ferne Sternensysteme, die unserem eigenen analog sind.“

Es war letztlich das kosmologische Problem, das Kant zu einer neuen Theorie der Erkenntnis führte und zu seiner Kritik der reinen Vernunft, denn das Problem, das er zu lösen versuchte – und vor dem kein Kosmologe weglaufen kann –, war das verwickelte Problem der Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt, und zwar sowohl mit Bezug auf den Raum als auch mit Bezug auf die Zeit.

Kant berichtet in einem Brief, er habe das zentrale Problem der Kritik der reinen Vernunft gefunden, als er versuchte zu entscheiden, ob die Welt einen zeitlichen Anfang hat oder nicht. „Zu seinem Erstaunen entdeckte er, daß sich scheinbar gültige Beweise für beide Möglichkeiten aufstellen ließen.“

Der erste Beweis beruht auf der Vorstellung einer unendlichen Folge von Jahren (oder Tagen oder irgendwelchen gleich langen und endlichen Zeitintervallen). Eine solche unendliche Folge von Jahren ist eine Folge, die immer weiter geht und niemals zu einem Ende kommt. Sie kann niemals abgeschlossen vorliegen: „Eine abgeschlossene oder vollendete unendliche Folge von Jahren ist (für Kant) ein Unding, ein Widerspruch in sich selbst.“

Kants erster Beweis argumentiert nun folgendermaßen: „Die Welt muß einen Anfang in der Zeit haben, da sonst im gegenwärtigen Augenblick eine unendliche Folge von Jahren verflossen ist und daher abgeschlossen und vollendet vorliegen muß. Das ist aber, wie wir gesehen haben, unmöglich. Damit ist der erste Beweis geführt.“

Der zweite Beweis beginnt mit einer Analyse des Begriffes einer völlig leeren Zeit – der Zeit vor der Entstehung der Welt. „Eine solche leere Zeit, in der es überhaupt nichts gibt, muß notwendigerweise eine Zeit sein, worin kein Zeitintervall von einem anderen Zeitintervall durch seine zeitlichen Beziehungen zu Dingen oder Vorgängen differenziert ist; denn Dinge oder Vorgänge gibt es eben überhaupt keine. Betrachten wir nun aber das letzte Zeitintervall einer solchen leeren Zeit – das Zeitintervall, das dem Anfang der Welt unmittelbar vorangeht: Dann wird offenbar, daß dieses Zeitintervall von allen vorhergehenden Intervallen dadurch differenziert ist, daß es in einer engen und unmittelbaren zeitlichen Beziehung zu einem bestimmten Vorgang, nämlich der Entstehung der Welt, steht; andererseits ist, wie wir gesehen haben, dasselbe Zeitintervall leer, das heißt es kann in keiner zeitlichen Beziehung zu einem Vorgang stehen. Also ist dieses letzte leere Zeitintervall ein Unding, ein Widerspruch in sich selbst (…)

Die Welt kann keinen Anfang in der Zeit haben, da es sonst ein Zeitintervall geben müßte – nämlich das Intervall unmittelbar vor der Entstehung der Welt –, das sowohl leer ist als auch dadurch charakterisiert, daß es in einer engen zeitlichen Beziehung zu einem Vorgang in der Welt steht. Das ist aber, wie wir gesehen haben, unmöglich.“

Antinomie: "A" kann nicht gleich "Nicht-A" sein

Wir haben hier einen Widerstreit zwischen zwei Beweisen, den Kant eine „Antinomie“ nannte. Eine Antinomie ist eine spezielle Art des logischen Widerspruchs, bei der die zueinander in Widerspruch stehenden Aussagen gleichermaßen gut begründet oder bewiesen sind. Die Antinomien, von denen Kant in der Kritik der reinen Vernunft spricht, sind sich logisch widersprechende Antworten auf die Fragen der Vernunft. Bereits in der Vorrede der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft schreibt Kant:

„Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.“

Kant fand sich noch in andere Antinomien verwickelt, zum Beispiel in solche hinsichtlich der Begrenzung der Welt im Raume oder auch in die Frage von Freiheit und Kausalität.

Was wir aus diesen Antinomien lernen können, ist nach Kant vor allem die Erkenntnis, dass unsere Vorstellungen von Raum und Zeit auf die Welt als Ganzes unanwendbar sind. „Die Vorstellungen von Raum und Zeit sind natürlich auf gewöhnliche physische Dinge und Vorgänge anwendbar. Dagegen sind Raum und Zeit selbst weder Dinge noch Vorgänge. Sie können nicht einmal beobachtet werden; sie haben einen ganz anderen Charakter.“

Raum und Zeit, so Popper weiter, stellen für Kant eher eine Art von Rahmen für Dinge und Vorgänge dar, vergleichbar mit einem System von Fächern oder einem Katalogsystem zur Ordnung von Beobachtungen. „So gehören Raum und Zeit nicht zu der wirklichen empirischen Welt der Dinge und Vorgänge, sondern zu unserem eigenen geistigen Rüstzeug, zu dem geistigen Instrument, womit wir die Welt angreifen. Raum und Zeit fungieren ähnlich wie Beobachtungsinstrumente. Wenn wir einen Vorgang beobachten, dann lokalisieren wir ihn in der Regel unmittelbar und intuitiv in einer raum-zeitlichen Ordnung. Wir können daher Raum und Zeit als ein Ordnungssystem charakterisieren.“

Immanuel Kant (1784 - 1804)
Zeit und Raum sind in unserem Geist apriorisch vor aller Erfahrung vorhanden, sie sind die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis.“ So stammt dieses Ordnungssystem gerade nicht aus der Erfahrung, auch wenn es in jeder Erfahrung verwendet wird und auf alle Erfahrungen angewendet. Dies ist der Grund dafür, daß der Mensch in solche Schwierigkeiten gerät, wenn er die Vorstellung von Raum und Zeit auf einem Gebiet anzuwenden versucht, das über alle mögliche Erfahrung hinausgeht – und genau das sind die transzendenten Fragen über den Beginn der Welt.

Kant gab seiner Theorie den irreführenden Namen „Transzendentaler Idealismus“ und „er hatte bald Grund, die Wahl dieses Namens zu bereuen, denn der Name führte manche seiner Leser dazu, ihn für einen Idealisten zu halten und zu glauben, Kant bestreite die Realität der physischen Dinge.“ Dagegen hatte Kant immer betont, daß die physischen Dinge in Raum und Zeit wirklich sind – real, nicht ideal.

Es sind ja gerade die wilden metaphysischen Auswüchse der spekulativen Vernunft des „Deutschen Idealismus“, auf die der Titel der „Kritik der reinen Vernunft“ - von Kant bewusst gewählt – abzielt, denn was Kants „Kritik“ kritisiert, ist eben die reine Vernunft. Kant kritisiert Aussagen der Vernunft über die Welt, die „rein“ in dem Sinne sind, „daß sie von Sinneserfahrung unberührt und durch keine Beobachtung kontrolliert sind. Kant kritisierte die „reine Vernunft“, indem er zeigte, daß reines spekulatives, durch keine Beobachtungen kontrolliertes Argumentieren über die Welt uns immer in Antinomien verwickeln muß.“

Kant schrieb seine Kritik unter dem Einfluss von Hume. Für beide war die Erkenntnis entscheidend, daß die Grenzen möglicher Sinneserfahrung und die Grenzen von vernünftigen Theorien über die Welt identisch sind. Auch die Gültigkeit der Newtonschen Physik stand hier auf dem Prüfstand: Natürlich war auch Kant völlig davon überzeugt, daß Newtons Theorie wahr und unanfechtbar sei. Aber Kant ging davon aus, „daß diese Theorie nicht nur das Resultat von angesammelten Beobachtungen sein könne. Was sonst konnte aber ihr Wahrheitsgrund sein?“

Obwohl sich die Gültigkeit der Newtonschen Physik in allen unseren Beobachtungen bewährt, „ist sie doch nicht das Resultat von Beobachtungen, sondern von unseren eigenen Denkmethoden: von den Methoden, die wir anwenden, um unsere Sinnesempfindungen zu ordnen, zueinander in Beziehung zu setzen, zu assimilieren, zu verstehen. Nicht die Sinnesdaten, sondern unser eigener Verstand – die Organisation und Konstitution unseres geistigen Assimilierungssystems – ist verantwortlich für unsere naturwissenschaftlichen Theorien.“

Die Natur – oder wie in der der Antike: der Kosmos - die wir mit ihrer Ordnung und ihren Gesetzen erkennen, ist letztlich das Resultat einer ordnenden und assimilierenden Tätigkeit unseres Geistes. Kants eigene Formulierung dieser Idee ist unübertroffen: „Der Verstand schöpft seine Gesetze … nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor!“

Dies ist die Idee von der „Kopernikanischen Wende“: „Kopernikus“, schreibt Kant, „nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fortwollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen könnte, wenn er den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in Ruhe ließe.“

Der Schritt in ein neues Weltbild
Wir müssen also nach Kant den Gedanken aufgeben, „daß wir passive Zuschauer sind, die warten, bis die Natur ihnen ihre Gesetzmäßigkeiten aufdrängt. An die Stelle dessen müssen wir den Gedanken setzen, daß, indem wir unsere Sinnesempfindungen assimilieren, wir, die Zuschauer, ihnen die Ordnung und die Gesetze unseres Verstandes aufzwingen. Unser Kosmos trägt den Stempel unseres Geistes.“

Für den Forschungsprozess ergeben sich aus dieser Idee entscheidende Konsequenzen: Für Popper gibt es „so etwas wie ein Kantisches intellektuelles Klima“. So müsse die Vernunft des Forschers die Natur nötigen, auf seine Fragen zu antworten, er dürfe sich aber nicht von ihr gleichsam am Leitbande gängeln lassen. „Der Forscher muß die Natur ins Kreuzverhör nehmen, um sie im Lichte seiner Zweifel, Vermutungen, Ideen und Inspirationen zu sehen. Das, glaube ich, ist eine tiefe philosophische Einsicht. Sie ermöglicht es, die Naturwissenschaft (nicht nur die theoretische, sondern auch die experimentelle) als eine echt menschliche Schöpfung anzusehen und ihre Geschichte, ähnlich wie die Geschichte der Kunst und der Literatur, als einen Teil der Ideengeschichte zu behandeln.“

Neben der epistemischen gibt es noch eine anthropologische Bedeutung der „Kopernikanischen Wende“. „Kopernikus nahm der Menschheit ihre zentrale Position in der Welt. Kants `Kopernikanische Wendung´ ist eine Wiedergutmachung dieser Position. Denn Kant beweist uns nicht nur, daß unsere räumliche Stellung in der Welt irrelevant ist, sondern zeigt uns auch, daß sich, in gewissem Sinne, unsere Welt um uns dreht. Denn wir sind es ja, die, wenigstens zum Teil, die Ordnung erzeugen, welche wir in der Welt finden. Wir sind es, die unser Wissen von der Welt erschaff en. Wir sind es, die die Welt aktiv erforschen; und die Forschung ist eine schöpferische Kunst.“


Nachbemerkung: "Für das Problem der Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt im Raume gibt es seit Einstein einen glänzenden Lösungsvorschlag, nämlich eine Welt, die endlich, aber ohne Grenzen ist. Einstein, so kann man wohl sagen, durchhieb damit den Kantischen Knoten; aber er hatte dafür viel schärfere Waffen zur Verfügung als Kant und dessen Zeitgenossen. Für das Problem der zeitlichen Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt gibt es dagegen heute noch keinen so einleuchtenden Lösungsvorschlag."


(Fortsetzung folgt)


Zitate aus: Karl Popper: Immanuel Kant  - Der Philosoph der Aufklärung. Eine Gedächtnisrede zu seinem hundertfünfzigsten Todestag, gehalten in englischer Sprache im englischen Rundfunk (British Broadcasting Corporation) am 12. Februar 1954, in: Karl Popper: Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vorträge und Aufsätze aus dreißig Jahren, München 1999 (Piper Verlag)   

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