In seinem Vortrag „Duldsamkeit und intellektuelle Verantwortlichkeit“,
den er am 26. Mai 1981 an der Universität Tübingen hielt, behandelt Karl Popper auch das Thema der Objektiven Wahrheit und der Wahrheitssuche.
Xenophanes (ca. 570 - 470) |
Es war der Vorsokratiker Xenophanes von Kolophen, der im 6. Jh. v.u.Z.
als erster eine Wahrheitstheorie entwickelte, die die Idee der objektiven
Wahrheit mit der Idee unserer grundsätzlichen menschlichen Fehlbarkeit verband.
Xenophanes begründete eine Tradition, die man auch als skeptische Schule
bezeichnet, wenngleich diese Bezeichnung leicht zu Mißverständnissen führen
kann.
Der Duden erklärt „Skepsis“ als „Zweifel und Ungläubigkeit“,
einen „Skeptiker“ als „mißtrauischen Menschen“ – und so wird das Wort heute
auch meist verwendet. Aber das griechische Verb „σκέπτεσθαι“, von dem sich die
Wortfamilie „skeptisch, Skeptiker, Skeptizismus“ herleitet, bedeutet
ursprünglich „prüfend betrachten, prüfen, erwägen, untersuchen, suchen,
forschen.“
Sicherlich hat es unter den Skeptikern auch viele Zweifler
und vielleicht auch misstrauische Menschen gegeben, aber die fatale
Gleichsetzung der Worte „Skepsis“ und „Zweifel“ wird Denkern wie Xenophanes,
aber auch Philosophen wie Sokrates, Erasmus, Montaigne, Locke, Voltaire und
Lessing, die für Popper alle mehr oder weniger zur Skeptischen Schule gehören,
nicht gerecht.
Was alle die Mitglieder dieser skeptischen Tradition
gemeinsam haben - und was auch Popper mit dieser Tradition gemeinsam hat, ist
nun die Tatsache, dass sie alle die menschliche Unwissenheit betonen und daraus
nicht nur erkenntnistheoretische, sondern auch – und das mag verwundern -
ethische Konsequenzen ziehen.
Xenophanes, von Beruf Rhapsode, wandte sich dagegen, daß die
Götter stehlen, lügen, ehebrechen, wie die Gesänge Homers und Hesiods erzählen.
So unterwarf er die homerische Götterlehre einer Kritik, dessen wichtigstes
Ergebnis die Entdeckung des Anthropomorphismus war, also die Entdeckung, „daß
die griechischen Göttergeschichten nicht ernst zu nehmen sind, weil sie die
Götter als Menschen darstellen.“
Stumpfnasig, schwarz, so sind die
äthiopischen Götter.
Blauäugig aber und blond - so sind
die Götterbilder der Thraker.
Aber die Rinder und Rosse und Löwen,
hätten sie Hände,
Hände wie Menschen, zum Zeichnen,
zum Malen, ein Bildwerk zu schaffen,
Dann würden Rosse die Götter gleich Rossen,
die Rinder gleich Rindern
Malen, und deren Gestalten, die
Formen der göttlichen Körper,
Nach ihrem eigenen Bilde erschaffen,
ein jedes nach seinem.
Die Götter der Griechen - allzu menschlich ... |
Wenn wir uns die Götter also nicht anthropomorph vorstellen
können, wie müssen wir sie uns dann denken? Auf diese Frage gibt Xenophanes
eine monotheistische Antwort:
Ein Gott nur ist der größte, allein
unter Göttern und Menschen,
Nicht an Gestalt den Sterblichen
gleich, noch in seinen Gedanken.
Stets am selbigen Ort verharrt er,
ohne Bewegung,
Und es geziemt ihm auch nicht, bald
hierhin, bald dorthin zu wandern.
Müh’los regiert er das All, allein
durch sein Wissen und Wollen.
Ganz ist er Sehen, und ganz ist er Denken,
und ganz ist er Hören.
Die für die Griechen völlig neue Idee des Monotheismus war für
Xenophanes einerseits die Lösung eines schwierigen Problems – und diese neue
Einsicht musste ihm selbst wie eine Offenbarung erscheinen -, andererseits gab Xenophanes unumwunden zu, daß seine
Theorie nicht sicher war und daß sie nicht mehr war als eine Vermutung. „Das war
ein selbstkritischer Sieg ohnegleichen, ein Sieg seiner intellektuellen Redlichkeit
und seiner Bescheidenheit.“
Der nächste Schritt bestand für Xenophanes darin, diese Selbstkritik
zu verallgemeinern: „Ihm wurde klar, daß das, was er über seine eigene Theorie
herausgefunden hatte – daß sie trotz ihrer intuitiven Überzeugungskraft nicht
mehr war als eine Vermutung –, von allen menschlichen Theorien gelten muß. Alles
ist nur Vermutung!“
Diese kritische Theorie bringt Xenophanes in die folgenden schönen
vier Verse:
Sichere Wahrheit erkannte kein
Mensch und wird keiner erkennen
Über die Götter und alle die Dinge,
von denen ich spreche.
Selbst wenn es einem einst glückt, die
vollkommenste Wahrheit zu künden,
Wissen kann er sie nie. Es ist alles
durchwebt von Vermutung.
Diese vier Zeilen „enthalten eine Theorie der objektiven
Wahrheit. Denn Xenophanes lehrt hier, daß etwas, das ich sage, wahr sein kann,
ohne daß ich oder sonst jemand weiß, daß es wahr ist. Das heißt aber, daß die Wahrheit
objektiv ist. Wahrheit ist die Übereinstimmung dessen, was ich sage, mit den
Tatsachen, ob ich es nun weiß oder nicht weiß, daß die Übereinstimmung besteht.“
Darüber hinaus enthalten diese Verse einen Hinweis auf den
Unterschied zwischen der objektiven Wahrheit und der subjektiven Gewißheit des
Wissens. Sie weisen darauf hin, dass jeder, auch wenn er die die vollkommenste
Wahrheit verkündet, diese Wahrheit nie mit Sicherheit wissen kann: „Denn es
gibt kein unfehlbares Kriterium der Wahrheit. Wir können eben nie, oder fast
nie, ganz sicher sein, dass wir uns nicht geirrt haben.“
Alles Wissen ist nur ein Vermutungswissen |
Gleichwohl war Xenophanes kein erkenntnistheoretischer
Pessimist. Er war vielmehr ein Sucher und natürlich gelang es ihm, im Laufe seines
langen Lebens, manche seiner Vermutungen kritisch zu verbessern. Er formuliert
das folgendermaßen:
Nicht vom Beginn an enthüllten die
Götter den Sterblichen alles.
Aber im Laufe der Zeit finden wir,
suchend, das Bess’re.
Wenn Xenophanes hier von „dem Besseren“ spricht, dann meint
er die Annäherung an die objektive Wahrheit, die Wahrheitsnähe, die Wahrheits-ähnlichkeit.
Xenophanes’ Theorie des menschlichen Wissens enthält also
die folgenden erkenntnistheoretischen Aussagen:
- „Unser Wissen besteht aus Aussagen.
- Aussagen sind wahr oder falsch.
- Die Wahrheit ist objektiv. Sie ist die Übereinstimmung des Aussageinhaltes mit den Tatsachen.
- Selbst dann, wenn wir die vollkommenste Wahrheit aussprechen, können wir das nicht wissen; das heißt, nicht mit Sicherheit, nicht mit Gewißheit wissen.
- Da „Wissen“ im vollen Sinn des Wortes „sicheres Wissen“ ist, so gibt es kein Wissen, sondern nur Vermutungswissen: „Es ist alles durchwebt von Vermutung.“
- Aber in unserem Vermutungswissen gibt es einen Fortschritt zum Besseren: die Wahrheit.
- Das bessere Wissen ist eine bessere Annäherung an die Wahrheit.
- Aber es bleibt immer Vermutungswissen – von Vermutung durchwebt.“
Xenophanes will also betonen, dass die objektive Wahrheit
von der subjektiven Sicherheit deutlich unterschieden werden muss. „Die
objektive Wahrheit ist die Übereinstimmung einer Aussage mit den Tatsachen, ob
wir das nun wissen – sicher wissen – oder nicht. Die Wahrheit darf also nicht
mit der Sicherheit verwechselt werden oder mit dem sicheren Wissen. Wer etwas
sicher weiß, der kennt die Wahrheit. Aber es kommt oft vor, daß jemand etwas vermutet,
ohne es sicher zu wissen; und daß seine Vermutung tatsächlich wahr ist.“
Xenophanes deutet ja richtig an, „daß es viele Wahrheiten
gibt – und wichtige Wahrheiten –, die niemand sicher weiß; ja, die niemand
wissen kann, obwohl sie von manchen vermutet werden. Und er deutet weiter an,
daß es Wahrheiten gibt, die niemand auch nur vermutet.“
Es gibt also unendlich viele Wahrheiten. Und daraus folgt
weiter, dass es unendlich viele Wahrheiten gibt, die wir niemals wissen können.
Es gibt unendlich viele, für uns unerkennbare Wahrheiten.
Popper bedauert, dass es auch heute noch viele Philosoph
Xenophanes vor dem Wiener Parlament: "Der Weg zur Wahrheit führt immer durch den Irrtum!" - Ein guter Merksatz für Politiker - |
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gibt, die denken, „daß die Wahrheit nur dann von Bedeutung für uns sein kann,
wenn wir sie besitzen; also wenn wir sie mit Sicherheit wissen. Aber gerade das
Wissen um die Tatsache, dass es Vermutungswissen gibt, ist von großer
Bedeutung. Es gibt Wahrheiten, denen wir nur in mühevollem Suchen näherkommen können.“ Und dieser Weg führt fast immer durch den Irrtum; und ohne
Wahrheit kann es keinen Irrtum geben.
Somit gibt es Popper zufolge ausreichende Gründe dafür, daß
auch heute die Sokratische Einsicht „Ich weiß, daß ich nicht weiß“ hochaktuell
ist. Denn aus dieser Feststellung ergeben sich drei Prinzipien, „die jeder
rationalen Diskussion zugrunde liegen, das heißt jeder Diskussion im Dienste
der Wahrheitssuche.“ Das Erstaunliche ist, dass diese Prinzipien „gleichzeitig erkenntnistheoretische
und ethische Prinzipien“ sind.
- „Das Prinzip der Fehlbarkeit: Vielleicht habe ich unrecht, und vielleicht hast du recht. Aber wir können auch beide unrecht haben.
- Das Prinzip der vernünftigen Diskussion: Wir wollen versuchen, möglichst unpersönlich unsere Gründe für und wider eine bestimmte, kritisierbare Theorie abzuwägen.
- Das Prinzip der Annäherung an die Wahrheit: Durch eine sachliche Diskussion kommen wir fast immer der Wahrheit näher; und wir kommen zu einem besseren Verständnis; auch dann, wenn wir nicht zu einer Einigung kommen."
Alle drei Prinzipien implizieren unter anderem Duldsamkeit und Toleranz:
„Wenn ich von dir lernen kann und im Interesse der Wahrheitssuche lernen will,
dann muß ich dich nicht nur dulden, sondern als potentiell gleichberechtigt anerkennen;
die potentielle Einheit und Gleichberechtigung aller Menschen sind eine Voraussetzung
unserer Bereitschaft, rational zu diskutieren. Wichtig ist auch das Prinzip,
daß wir von einer Diskussion viel lernen können ; auch dann, wenn sie nicht zu einer
Einigung führt. Denn die Diskussion kann uns lehren, einige der Schwächen
unserer Position zu verstehen.“
Es liegen also jeder Wissenschaft, auch der
Naturwissenschaft, letztlich ethische Prinzipien zugrunde. „Die Idee der
Wahrheit als das grundlegende regulative Prinzip ist ein solches ethisches
Prinzip.“
Auch die Wahrheitssuche und die Idee der Annäherung an die
Wahrheit sind weitere ethische Prinzipien; wie auch die Idee der
intellektuellen Redlichkeit und die der Fehlbarkeit, die uns zur
selbstkritischen Haltung und zur Toleranz führt.
Zitate aus: Karl Raimund Popper: Duldsamkeit und
intellektuelle Verantwortlichkeit, Vortrag, gehalten am 26. Mai 1981 an der
Universität Tübingen, in: Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vorträge und
Aufsätze aus dreißig Jahren, München 1999 (Piper Verlag)
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