Donnerstag, 14. Mai 2015

Xenophanes und die Suche nach der Wahrheit

In seinem Vortrag „Duldsamkeit und intellektuelle Verantwortlichkeit“, den er am 26. Mai 1981 an der Universität Tübingen hielt, behandelt Karl Popper auch das Thema der Objektiven Wahrheit und der Wahrheitssuche.

Xenophanes (ca. 570 - 470)
Es war der Vorsokratiker Xenophanes von Kolophen, der im 6. Jh. v.u.Z. als erster eine Wahrheitstheorie entwickelte, die die Idee der objektiven Wahrheit mit der Idee unserer grundsätzlichen menschlichen Fehlbarkeit verband. Xenophanes begründete eine Tradition, die man auch als skeptische Schule bezeichnet, wenngleich diese Bezeichnung leicht zu Mißverständnissen führen kann.

Der Duden erklärt „Skepsis“ als „Zweifel und Ungläubigkeit“, einen „Skeptiker“ als „mißtrauischen Menschen“ – und so wird das Wort heute auch meist verwendet. Aber das griechische Verb „σκέπτεσθαι“, von dem sich die Wortfamilie „skeptisch, Skeptiker, Skeptizismus“ herleitet, bedeutet ursprünglich „prüfend betrachten, prüfen, erwägen, untersuchen, suchen, forschen.“

Sicherlich hat es unter den Skeptikern auch viele Zweifler und vielleicht auch misstrauische Menschen gegeben, aber die fatale Gleichsetzung der Worte „Skepsis“ und „Zweifel“ wird Denkern wie Xenophanes, aber auch Philosophen wie Sokrates, Erasmus, Montaigne, Locke, Voltaire und Lessing, die für Popper alle mehr oder weniger zur Skeptischen Schule gehören, nicht gerecht.

Was alle die Mitglieder dieser skeptischen Tradition gemeinsam haben - und was auch Popper mit dieser Tradition gemeinsam hat, ist nun die Tatsache, dass sie alle die menschliche Unwissenheit betonen und daraus nicht nur erkenntnistheoretische, sondern auch – und das mag verwundern - ethische Konsequenzen ziehen.

Xenophanes, von Beruf Rhapsode, wandte sich dagegen, daß die Götter stehlen, lügen, ehebrechen, wie die Gesänge Homers und Hesiods erzählen. So unterwarf er die homerische Götterlehre einer Kritik, dessen wichtigstes Ergebnis die Entdeckung des Anthropomorphismus war, also die Entdeckung, „daß die griechischen Göttergeschichten nicht ernst zu nehmen sind, weil sie die Götter als Menschen darstellen.“

Stumpfnasig, schwarz, so sind die äthiopischen Götter.
Blauäugig aber und blond - so sind die Götterbilder der Thraker.
Aber die Rinder und Rosse und Löwen, hätten sie Hände,
Hände wie Menschen, zum Zeichnen, zum Malen, ein Bildwerk zu schaffen,
Dann würden Rosse die Götter gleich Rossen, die Rinder gleich Rindern
Malen, und deren Gestalten, die Formen der göttlichen Körper,
Nach ihrem eigenen Bilde erschaffen, ein jedes nach seinem.

Die Götter der Griechen - allzu menschlich ...

Wenn wir uns die Götter also nicht anthropomorph vorstellen können, wie müssen wir sie uns dann denken? Auf diese Frage gibt Xenophanes eine monotheistische Antwort:

Ein Gott nur ist der größte, allein unter Göttern und Menschen,
Nicht an Gestalt den Sterblichen gleich, noch in seinen Gedanken.
Stets am selbigen Ort verharrt er, ohne Bewegung,
Und es geziemt ihm auch nicht, bald hierhin, bald dorthin zu wandern.
Müh’los regiert er das All, allein durch sein Wissen und Wollen.
Ganz ist er Sehen, und ganz ist er Denken, und ganz ist er Hören.

Die für die Griechen völlig neue Idee des Monotheismus war für Xenophanes einerseits die Lösung eines schwierigen Problems – und diese neue Einsicht musste ihm selbst wie eine Offenbarung erscheinen -, andererseits  gab Xenophanes unumwunden zu, daß seine Theorie nicht sicher war und daß sie nicht mehr war als eine Vermutung. „Das war ein selbstkritischer Sieg ohnegleichen, ein Sieg seiner intellektuellen Redlichkeit und seiner Bescheidenheit.“

Der nächste Schritt bestand für Xenophanes darin, diese Selbstkritik zu verallgemeinern: „Ihm wurde klar, daß das, was er über seine eigene Theorie herausgefunden hatte – daß sie trotz ihrer intuitiven Überzeugungskraft nicht mehr war als eine Vermutung –, von allen menschlichen Theorien gelten muß. Alles ist nur Vermutung!“

Diese kritische Theorie bringt Xenophanes in die folgenden schönen vier Verse:

Sichere Wahrheit erkannte kein Mensch und wird keiner erkennen
Über die Götter und alle die Dinge, von denen ich spreche.
Selbst wenn es einem einst glückt, die vollkommenste Wahrheit zu künden,
Wissen kann er sie nie. Es ist alles durchwebt von Vermutung.

Diese vier Zeilen „enthalten eine Theorie der objektiven Wahrheit. Denn Xenophanes lehrt hier, daß etwas, das ich sage, wahr sein kann, ohne daß ich oder sonst jemand weiß, daß es wahr ist. Das heißt aber, daß die Wahrheit objektiv ist. Wahrheit ist die Übereinstimmung dessen, was ich sage, mit den Tatsachen, ob ich es nun weiß oder nicht weiß, daß die Übereinstimmung besteht.“

Darüber hinaus enthalten diese Verse einen Hinweis auf den Unterschied zwischen der objektiven Wahrheit und der subjektiven Gewißheit des Wissens. Sie weisen darauf hin, dass jeder, auch wenn er die die vollkommenste Wahrheit verkündet, diese Wahrheit nie mit Sicherheit wissen kann: „Denn es gibt kein unfehlbares Kriterium der Wahrheit. Wir können eben nie, oder fast nie, ganz sicher sein, dass wir uns nicht geirrt haben.“

Alles Wissen ist nur ein Vermutungswissen

Gleichwohl war Xenophanes kein erkenntnistheoretischer Pessimist. Er war vielmehr ein Sucher und natürlich gelang es ihm, im Laufe seines langen Lebens, manche seiner Vermutungen kritisch zu verbessern. Er formuliert das folgendermaßen:

Nicht vom Beginn an enthüllten die Götter den Sterblichen alles.
Aber im Laufe der Zeit finden wir, suchend, das Bess’re.

Wenn Xenophanes hier von „dem Besseren“ spricht, dann meint er die Annäherung an die objektive Wahrheit,  die Wahrheitsnähe, die Wahrheits-ähnlichkeit.

Xenophanes’ Theorie des menschlichen Wissens enthält also die folgenden erkenntnistheoretischen Aussagen:
  1. „Unser Wissen besteht aus Aussagen.
  2. Aussagen sind wahr oder falsch.
  3. Die Wahrheit ist objektiv. Sie ist die Übereinstimmung des Aussageinhaltes mit den Tatsachen.
  4. Selbst dann, wenn wir die vollkommenste Wahrheit aussprechen, können wir das nicht wissen; das heißt, nicht mit Sicherheit, nicht mit Gewißheit wissen.
  5. Da „Wissen“ im vollen Sinn des Wortes „sicheres Wissen“ ist, so gibt es kein Wissen, sondern nur Vermutungswissen: „Es ist alles durchwebt von Vermutung.“
  6. Aber in unserem Vermutungswissen gibt es einen Fortschritt zum Besseren: die Wahrheit.
  7. Das bessere Wissen ist eine bessere Annäherung an die Wahrheit.
  8. Aber es bleibt immer Vermutungswissen – von Vermutung durchwebt.“

Xenophanes will also betonen, dass die objektive Wahrheit von der subjektiven Sicherheit deutlich unterschieden werden muss. „Die objektive Wahrheit ist die Übereinstimmung einer Aussage mit den Tatsachen, ob wir das nun wissen – sicher wissen – oder nicht. Die Wahrheit darf also nicht mit der Sicherheit verwechselt werden oder mit dem sicheren Wissen. Wer etwas sicher weiß, der kennt die Wahrheit. Aber es kommt oft vor, daß jemand etwas vermutet, ohne es sicher zu wissen; und daß seine Vermutung tatsächlich wahr ist.“

Xenophanes deutet ja richtig an, „daß es viele Wahrheiten gibt – und wichtige Wahrheiten –, die niemand sicher weiß; ja, die niemand wissen kann, obwohl sie von manchen vermutet werden. Und er deutet weiter an, daß es Wahrheiten gibt, die niemand auch nur vermutet.“

Es gibt also unendlich viele Wahrheiten. Und daraus folgt weiter, dass es unendlich viele Wahrheiten gibt, die wir niemals wissen können. Es gibt unendlich viele, für uns unerkennbare Wahrheiten.

Popper bedauert, dass es auch heute noch viele Philosoph
Xenophanes vor dem Wiener Parlament:
"Der Weg zur Wahrheit führt
immer durch den Irrtum!"
- Ein guter Merksatz für Politiker -
en gibt, die denken, „daß die Wahrheit nur dann von Bedeutung für uns sein kann, wenn wir sie besitzen; also wenn wir sie mit Sicherheit wissen. Aber gerade das Wissen um die Tatsache, dass es Vermutungswissen gibt, ist von großer Bedeutung. Es gibt Wahrheiten, denen wir nur in mühevollem Suchen näherkommen können.“ Und dieser Weg führt fast immer durch den Irrtum; und ohne Wahrheit kann es keinen Irrtum geben.

Somit gibt es Popper zufolge ausreichende Gründe dafür, daß auch heute die Sokratische Einsicht „Ich weiß, daß ich nicht weiß“ hochaktuell ist. Denn aus dieser Feststellung ergeben sich drei Prinzipien, „die jeder rationalen Diskussion zugrunde liegen, das heißt jeder Diskussion im Dienste der Wahrheitssuche.“ Das Erstaunliche ist, dass diese Prinzipien „gleichzeitig erkenntnistheoretische und ethische Prinzipien“ sind.

  1. „Das Prinzip der Fehlbarkeit: Vielleicht habe ich unrecht, und vielleicht hast du recht. Aber wir können auch beide unrecht haben.
  2. Das Prinzip der vernünftigen Diskussion: Wir wollen versuchen, möglichst unpersönlich unsere Gründe für und wider eine bestimmte, kritisierbare Theorie abzuwägen.
  3. Das Prinzip der Annäherung an die Wahrheit: Durch eine sachliche Diskussion kommen wir fast immer der Wahrheit näher; und wir kommen zu einem besseren Verständnis; auch dann, wenn wir nicht zu einer Einigung kommen."

Alle drei Prinzipien implizieren unter anderem Duldsamkeit und Toleranz: „Wenn ich von dir lernen kann und im Interesse der Wahrheitssuche lernen will, dann muß ich dich nicht nur dulden, sondern als potentiell gleichberechtigt anerkennen; die potentielle Einheit und Gleichberechtigung aller Menschen sind eine Voraussetzung unserer Bereitschaft, rational zu diskutieren. Wichtig ist auch das Prinzip, daß wir von einer Diskussion viel lernen können ; auch dann, wenn sie nicht zu einer Einigung führt. Denn die Diskussion kann uns lehren, einige der Schwächen unserer Position zu verstehen.“

Es liegen also jeder Wissenschaft, auch der Naturwissenschaft, letztlich ethische Prinzipien zugrunde. „Die Idee der Wahrheit als das grundlegende regulative Prinzip ist ein solches ethisches Prinzip.“

Auch die Wahrheitssuche und die Idee der Annäherung an die Wahrheit sind weitere ethische Prinzipien; wie auch die Idee der intellektuellen Redlichkeit und die der Fehlbarkeit, die uns zur selbstkritischen Haltung und zur Toleranz führt.


Zitate aus: Karl Raimund Popper: Duldsamkeit und intellektuelle Verantwortlichkeit, Vortrag, gehalten am 26. Mai 1981 an der Universität Tübingen, in: Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vorträge und Aufsätze aus dreißig Jahren, München 1999 (Piper Verlag)

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