Lenin (1870 - 1924) |
In seinem Buch „Der Mensch in der Revolte“
(1951) setzt sich Albert Camus mit den Ideologen auseinander, die nach
innerweltlicher Erlösung streben. Dazu gehört neben Karl Marx mit seinem utopischen Messianismus auch Lenin, der mit seinen
Gedanken zur Revolution letztlich alle sentimentalen Formen der revolutionären
Aktion ohne Gnade auslöschen wollte. Revolution und Moral seien letztlich zwei
voneinander unterschiedliche Dinge, und die revolutionäre Gewalt werde
sicherlich nicht „im Gehorsam der Zehn Gebote aufgestellt.“
Mit Lenin entsteht Camus zufolge eine völlig neue
Form des Kommunismus. So tritt Lenin „ins Kommando ein, sucht nach dem besten
Gang des Motors und entscheidet, welche Tugend zu einem Lenker der Geschichte
passt und welche nicht.“
Er tastet zwar ein wenig am Anfang, zögert vor
dem Problem, ob Russland zuerst das kapitalistische und industrielle Stadium
durchmachen muss – das aber hieße daran zu zweifeln, ob die Revolution in
Russland stattfinden könnte – und so wirft er den wirtschaftlichen Fatalismus
einfach über Borg und macht sich ans Werk, der sozialistischen Lehre eine
vollkommen neue wissenschaftliche Grundlage zu geben.
Dabei leugnet Lenin zunächst die Spontaneität
der Massen, dass heißt er geht von der Prämisse aus, das die Arbeiter nicht von
sich aus eine unabhängige Ideologie ausarbeiten werden: „`Die Theorie´, sagt
er, `muss sich die Spontaneität unterwerden.´ Unverschlüsselt heißt das, die
Revolution bedürfe der Führer und der ideologischen Führer.“ Die sozialistische
Lehre ist also eine Angelegenheit der intellektuellen Lehrer, bzw. von
Berufsrevolutionären.
Das Proletariat aber hat von diesem Augenblick
an keine Sendung mehr. „Es ist nur ein machtvolles Mittel unter anderen in den
Händen revolutionärer Asketen.“
Das Proletariat verkommt zu einem machtvollen Mittel in den Händen von Berufsrevolutionären. |
Diese Gedanken zum Problem der Machtergreifung
ziehen schließlich die Frage nach dem Staat nach sich, einem Thema, dem sich Lenin
in seiner Schrift „der Staat und die Revolution“ (1917) widmet. Sie gehört zu
den sonderbarsten und widerspruchvollsten Werken der sozialistischen
Theorieliteratur.
Mit Hilfe von Marx und Engels wendet sich Lenin
gegen jeden Reformismus, der sich des bürgerlichen Staates bedienen möchte, um
die Ziele des Sozialismus zu erreichen. Der bürgerliche Staat mit seinem
Verwaltungs- und Sicherheitsapparat müsse allein schon deshalb verschwinden,
weil er in seinem Wesen nicht anderes ist als eine Einrichtung zur
Unterdrückung einer Klasse durch eine andere.
Der proletarische Staat sei gerade kein Staat
wie jeder andere, sondern ein Staat, „der seinem Wesen nach nicht aufhört zu
verfallen: `sobald es keine Klassen mehr gibt, die man unterdrückt halten muss
… ist ein Staat nicht mehr nötig … An die Stelle der Regierung der Personen
tritt die Verwaltung der Sachen. Der Staat ist nicht abgeschafft, er geht ein´.“
Wenn der bürgerliche Staat schließlich besiegt
ist, bildet sich der proletarische Staat zurück. Die Diktatur des Proletariats
ist also deshalb notwendig, „1. um zu beseitigen oder zu unterdrücken, was von
der bürgerlichen Klasse noch übrig geblieben ist; 2. und die Sozialisierung der
Produktionsmittel zu verwirklichen. Sind diese beiden Aufgaben vollendet, geht
sie sofort ein.“
Nur zehn Seiten später behauptet Lenin nun, dass
die Macht notwendig sei „zur Unterdrückung des Widerstands der Ausbeuter `und
auch, um die große Masse der Bevölkerung, Bauernschaft, Kleinbürgertum,
Halbproletariat, bei der Errichtung der sozialistischen Wirtschaft zu leiten´.
Die Wende ist hier unbestreitbar; der provisorische Staat von Marx und Engels
wird mit einer neuen Mission beauftragt, die ihm ein langes Leben verleihen
kann.“
Die Revolution ist letztlich die Angelegenheit von qualifizierten Führern und Lehrern. |
Das aber ist der Grundwiderspruch in der
sozialistischen Staatstheorie, wie er insbesondere im Stalinismus deutlich
wurde, denn: Entweder hat dieses Regime die klassenlose Gesellschaft
verwirklicht, dann rechtfertigt sich die Beibehaltung eines ungeheuren
Unterdrückungsapparates nach marxistischen Begriffen nicht, oder es hat sie
nicht verwirklicht, und dann ist der Beweis erbracht, dass die marxistische
Doktrin irrig und insbesondere die Sozialisierung der Produktionsmittel nicht
gleichbedeutend ist mit dem Verschwinden der Klassen.“
Bis zur obersten Stufe des Kommunismus, auf der
„jeder nach seinen Bedürfnissen“ lebt und handelt, wird es also einen Staat
geben. Auch Lenin gibt zu, dass er nicht weiß und vor allem nicht wissen kann,
mit welcher Geschwindigkeit die Entwicklung auf diese oberste Stufe erfolgen
wird, und `dass es keinem Sozialisten in den Sinn gekommen ist, den Eintritt
der höheren Stufe des Kommunismus zu versprechen.´
Auf dem Weg zur höheren Stufe des Kommunismus: "Jeder nach seinen Bedürfnissen"! |
Für Camus steht fest, dass „an dieser Stelle die
Freiheit endgültig stirbt. Von der Herrschaft der Massen, vom Begriff der proletarischen
Revolution geht man zuerst zur Idee einer von Berufsagenten unternommenen und
geleiteten Revolution über. Die unbarmherzige Kritik am Staat söhnt sich darauf
mit der notwendigen, doch vorübergehenden Diktatur des Proletariats in Gestalt
seines Führers aus. Am Schluss verkündet man, das Ende dieses vorläufigen
Zustandes sei nicht vorherzusehen, und überdies sei es niemandem eingefallen,
ein Ende zu versprechen.“
So also stellt sich Lenin den Zusammenhang von
Revolution und Staat vor: Solange es auf der Welt, nicht in einer bestimmten
Gesellschaft, einen Unterdrückten oder einen Besitzer gibt, wird der Staat also
aufrechterhalten werden. „Ebenso lange wird er gezwungen sein, sich zu
vergrößern, um die Ungerechtigkeiten eine nach der anderen zu beseitigen, die
Regierungen der Ungerechtigkeit, die hartnäckigen bürgerlichen Nationen, die
Völker, die für ihre eigenen Interessen blind sind. Und wenn auf der endlich
unterworfenen, von Gegner gesäuberten Welt die letzte Ungerechtigkeit im Blut
der Gerechten und Ungerechten ertränkt ist, dann wird der Staat, an die Grenze
der Macht angelangt, ein scheußlicher Götze, der die ganze Erde umfasst, sich
im schweigenden Reich der Gerechtigkeit brav auflösen.“
"Unser sozialistisches Leben" (Markus Hahne, 2011) |
Hier identifiziert sich die sozialistische
Doktrin endgültig mit der Prophetie. Zugunsten einer entfernten Gerechtigkeit
legitimiert sie die Ungerechtigkeit während der ganzen Zeit der Geschichte; sie
wird zu jener Vorspiegelung, die Lenin mehr als alles andere in der Welt
verabscheute. Sie lässt das Unrecht, das Verbrechen und die Lüge hinnehmen
durch die Verheißung des Wunders. Noch mehr Produktion und noch mehr Macht,
ununterbrochene Arbeit, unaufhörliche Schmerzen, dauernder Krieg, und ein
Augenblick wird kommen, da sich die allgemeine Knechtschaft im totalen Staat
wunderbarerweise ins Gegenteil verkehren wird: in die freie Muße in einer
universalen Republik.“
So könne man schließlich auch die
pseudorevolutionäre Mystifikation wie folgt formulieren: „Man muss jede
Freiheit töten, um das Reich zu erobern, und das Reich wird eines Tages die
Freiheit sein.“
Zitate aus: Albert Camus: Der Mensch in der
Revolte, Reinbek 2013 (Rowohlt), hier: S. 296ff
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