Donnerstag, 4. Dezember 2014

Karl Marx und die revolutionäre Prophezeiung

In seinem Buch „Der Mensch in der Revolte“ (1951) setzt sich Albert Camus mit den Ideologien auseinander, die nach innerweltlicher Erlösung streben. Dazu gehört selbstverständlich auch Karl Marx und sein utopischer Messianismus, der letztlich nicht anderes ist, als eine bürgerliche Prophezeiung, die ihren Ursprung im Fortschrittsgedanken, im Wissenschaftsverständnis und der Kultur der Technik und der Produktion hat – also in den bürgerlichen Mythen, die sich im 19 Jahrhundert als Dogma ausgebildet haben.

Karl Marx (1818 - 1883)
Gleichwohl ist Marxens Prophezeiung nicht nur bürgerlich, sondern in ihrem Prinzip auch revolutionär: „Da die ganze menschliche Wirklichkeit in den Produktionsverhältnissen ihren Ursprung hat, ist das geschichtliche Werden revolutionär, weil die Volkswirtschaft es auch ist.“

Das Schema ist bekannt: Die gesamte Wirklichkeit ist ein unendliches Werden, „unterbrochen vom fruchtbaren Stoß der Gegenkräfte, die jedes Mal in einer höheren Synthese gelöst werden, welche ihrerseits das Entgegengesetzte hervorruft und aufs Neue die Geschichte vorrücken lässt.“ Im Gegensatz zu Hegel wird die Dialektik also nicht unter dem Gesichtspunkt des Geistes, sondern unter demjenigen der Produktion und der Arbeit betrachtet. Die Originalität von Marx besteht daher „in der Behauptung, dass die Geschichte zu gleicher Zeit Dialektik und Wirtschaft ist.

Die historische Aufgabe der kapitalistischen Wirtschaft besteht nach Marx darin, die Bedingungen einer höheren Produktionsweise vorzubereiten. „Diese Produktionsweise ist nicht an sich revolutionär, sie ist nur die Krönung der Revolution.“

Kapitalistische Produktionsweise

Das Ende der Geschichte fällt dann mit einer Apokalypse zusammen: Die unvermeidliche Niederlage des Privatkapitalismus am Ende der Geschichte führt in eine Art Staatskapitalismus, der sich in den Dienst der Gemeinschaft stellt, „damit eine Gesellschaft entsteht, in der Kapital und Arbeit, künftig das Gleiche, mit der gleichen Bewegung Überfluss und Gerechtigkeit hervorbringen werden.“

Camus beschreibt hier den „unglaublichen Ehrgeiz des Marxismus“, „seine maßlosen Vorhersagen“, um zu verstehen, dass eine solche Hoffnung dazu zwingt, konkrete Probleme der jetzt lebenden Menschen zu vernachlässigen, weil sie zweitrangig erscheinen.

Denn jeder Sozialismus ist utopisch, „allen voran der wissenschaftliche Die Utopie ersetzt Gott durch die Zukunft. Sie identifiziert die Zukunft mit der Moral, der einzige Wert ist der, der dieser Zukunft dient.“ So kommt es, dass die Utopie immer autoritär und mit Zwangsausübung verbunden sein wird: „Der Messianismus muss gegen die Opfer aufgebaut werden.“

Romantik und klassenlose Gesellschaft
Mit blinder Romantik prophezeit Marx die klassenlose Gesellschaft und die Lösung des Geheimnisses der Geschichte. „Prophezeiungen können jedoch, sobald sie die lebendige Hoffnung von Millionen von Menschen wiedergeben, nicht ungestraft ohne Schlusspunkt bleiben. Es kommt eine Zeit, wo die Enttäuschung die geduldige Hoffnung in Wut verwandelt und wo das gleiche Ziel, das mit wütendem Eigensinn bejaht und noch unerbittlicher verlangt wird, zur Suche nach anderen Mitteln zwingt.“

Noch 1917 hatte Rosa Luxemburg verkündet: „Die Revolution wird sich morgen mit Getöse in ihrer ganzen Größe aufrichten und zu eurem Schrecken mit allen Trompeten verkünden: Ich war, ich bin, ich werde sein.“ Es kam bekanntlich anders. So muss Karl Liebknecht zugeben: „Die Zeit war nicht erfüllt.“ „Aber er sagt auch, und dabei erfassen wir, wie eine Niederlage den besiegten Glauben bis zur religiösen Verzückung aufpeitschen kann: `Beim Krachen des wirtschaftlichen Zusammenbruchs, dessen Grollen sich schon nähert, werden die eingeschlafenen Truppen der Proletarier aufwachen wie beim Fanfarenton des Jüngsten Gerichts, und die Leichname der umgebrachten Kämpfer werden auferstehen und Rechenschaft verlangen von den Fluchbeladenen.´“

Allein die russische Revolution bleibt übrig. Aber die Revolution darf sich nicht auf die Bauernklasse stützen, sondern auf die Arbeiterklasse. „Diese Vereinfachung sollte die Kulaken teuer zu stehen kommen, die mehr als fünf Millionen geschichtlicher Ausnahmen darstellten und alsbald durch den Tod oder die Deportation in die Regel wieder eingefügt wurden.“

Propagandaplakat für die Enteignung der Kulaken

So entfernte sich das Ende der Geschichte noch mehr. „Der Glaube ist unverletzt, aber er biegt sich unter einer riesigen Menge von Problemen und Entdeckungen, die der Marxismus nicht vorausgesehen hatte. Die neue Kirche steht aufs Neue vor Galilei: Um ihren Glauben zu bewahren, wird sie die Sonne leugnen und den freien Menschen demütigen.“

Aber auch das Proletariat hat nicht gehalten, was Marx sich von ihm versprochen hatte. Die Gewerkschaftsbewegung erreichte auf dem Wege der Reformen eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen und eine Erhöhung des Lebensstandards. Mit Nachdruck weist Camus aber auch darauf hin, dass die „wirkungsvollste revolutionäre oder gewerkschaftliche Aktion immer die Angelegenheit von Arbeitereliten gewesen ist, die der Hunger nicht auspumpte“ – eine Beobachtung, die auch heute noch zutrifft.

Natürlich sind wir immer noch weit von einer sozial gerechten Welt entfernt, aber die elenden Lebensbedingungen der Textilarbeiter haben sich eben nicht, wie Marx prophezeite, auch noch verschlimmert. Marxens Irrtum bestand in dem Glauben, „das schwärzeste Elend, insbesondere das industrielle Elend, könne zur politischen Reife führen.“

Arbeiter in der DDR
Das Gegenteil ist zu beobachten: Immer mehr wurde die Revolution einerseits Bürokraten und Doktrinären ausgeliefert, andererseits musste sie sich auf geschwächte und richtungslosen Massen stützen. Dabei hat der industrielle Sozialismus - und auch nicht der spätere real existierende Sozialismus in der DDR – nichts Wesentliches für die Stellung des Arbeiters getan, denn er hat am Prinzip von Produktion und Arbeit nicht gerüttelt, sondern sie im Gegenteil sogar verherrlicht. Er konnte dem Arbeiter lediglich eine historische Rechtfertigung anbieten, die vergleichbar ist mit der Verheißung himmlischer Freuden für jemanden, der in den Bergwerken Sibiriens stirbt.

Statt den Menschen zum Schöpfer seines eigenen Schicksals zu erheben, hat der autoritäre Sozialismus „diese lebendige Freiheit zugunsten einer idealen, kommenden Freiheit in Beschlag genommen. Dadurch hat er, ob er es wollte oder nicht, die Versklavung verstärkt, die mit dem Fabrik-Kapitalismus begonnen hatte. So bestand Camus zufolge „die geschichtliche Mission des Proletariats während hundertfünfzig Jahren, ausgenommen im Paris der Kommune, dem letzten Zufluchtsort der revoltierenden Revolution, darin, verraten zu werden.“

So musste die revolutionäre Prophezeiung mit wissenschaftlichem Anspruch gerade deshalb scheitern, weil sie eben nicht wissenschaftlich war. Marx wollte gleichzeitig deterministisch und prophetisch sein, dialektisch und dogmatisch. Wenn aber die Theorie allein durch die Ökonomie determiniert ist, „kann sie die Vergangenheit der Produktion beschreiben, aber nicht ihre Zukunft, die nur wahrscheinlich bleibt. Aufgabe des historischen Materialismus kann nur die Kritik der gegenwärtigen Gesellschaft sein, über die zukünftige Gesellschaft kann er, ohne dem wissenschaftlichen Geist untreu zu werden, nur Vermutungen anstellen.“

Der Marxismus ist also nicht wissenschaftlich, sondern bestenfalls wissenschaftsgläubig. So ist es für Camus auch nicht verwunderlich, „dass man, um den Marxismus wissenschaftlich zu machen und diese im Zeitalter der Wissenschaft nützliche Fiktion aufrechtzuerhalten, mit dem Terror vorgehen musste.“

"Vernunft" im Dienst der Prophezeiung:
Die Inquisition
Das Prinzip, die wissenschaftliche Vernunft in den Dienst einer Prophezeiung zu stellen ist überdies nicht neu. Von ihm wurden die Kirchen geleitet, „wenn sie die wahre Vernunft einem toten Glauben und die Freiheit des Geistes der Erhaltung der zeitlichen Macht unterstellen wollten.“

Am Schluss bleibt von Marxens Prophezeiung nur die Behauptung übrig, die Fristen seien eben etwas länger „und man müsse erwarten, dass eines noch unsichtbaren Tages das Ende alles rechtfertige. Mit anderen Worten sind wir im Fegefeuer, und man verspricht uns, es gäbe keine Hölle.“
   
Zitate aus: Albert Camus: Der Mensch in der Revolte, Reinbek 2013 (Rowohlt), hier: S. 259ff  

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