In seinem Buch „Der Mensch in der Revolte“ (1951)
setzt sich Albert Camus mit den Ideologien auseinander, die nach
innerweltlicher Erlösung streben. Dazu gehört selbstverständlich auch Karl Marx
und sein utopischer Messianismus, der letztlich nicht anderes ist, als eine
bürgerliche Prophezeiung, die ihren Ursprung im Fortschrittsgedanken, im
Wissenschaftsverständnis und der Kultur der Technik und der Produktion hat –
also in den bürgerlichen Mythen, die sich im 19 Jahrhundert als Dogma
ausgebildet haben.
Karl Marx (1818 - 1883) |
Gleichwohl ist Marxens Prophezeiung nicht nur
bürgerlich, sondern in ihrem Prinzip auch revolutionär: „Da die ganze
menschliche Wirklichkeit in den Produktionsverhältnissen ihren Ursprung hat,
ist das geschichtliche Werden revolutionär, weil die Volkswirtschaft es auch
ist.“
Das Schema ist bekannt: Die gesamte Wirklichkeit
ist ein unendliches Werden, „unterbrochen vom fruchtbaren Stoß der Gegenkräfte,
die jedes Mal in einer höheren Synthese gelöst werden, welche ihrerseits das
Entgegengesetzte hervorruft und aufs Neue die Geschichte vorrücken lässt.“ Im
Gegensatz zu Hegel wird die Dialektik also nicht unter dem Gesichtspunkt des
Geistes, sondern unter demjenigen der Produktion und der Arbeit betrachtet. Die
Originalität von Marx besteht daher „in der Behauptung, dass die Geschichte zu
gleicher Zeit Dialektik und Wirtschaft ist.
Die historische Aufgabe der kapitalistischen
Wirtschaft besteht nach Marx darin, die Bedingungen einer höheren
Produktionsweise vorzubereiten. „Diese Produktionsweise ist nicht an sich
revolutionär, sie ist nur die Krönung der Revolution.“
Kapitalistische Produktionsweise |
Das Ende der Geschichte fällt dann mit einer
Apokalypse zusammen: Die unvermeidliche Niederlage des Privatkapitalismus am
Ende der Geschichte führt in eine Art Staatskapitalismus, der sich in den
Dienst der Gemeinschaft stellt, „damit eine Gesellschaft entsteht, in der
Kapital und Arbeit, künftig das Gleiche, mit der gleichen Bewegung Überfluss
und Gerechtigkeit hervorbringen werden.“
Camus beschreibt hier den „unglaublichen Ehrgeiz
des Marxismus“, „seine maßlosen Vorhersagen“, um zu verstehen, dass eine solche
Hoffnung dazu zwingt, konkrete Probleme der jetzt lebenden Menschen zu
vernachlässigen, weil sie zweitrangig erscheinen.
Denn jeder Sozialismus ist utopisch, „allen
voran der wissenschaftliche Die Utopie ersetzt Gott durch die Zukunft. Sie
identifiziert die Zukunft mit der Moral, der einzige Wert ist der, der dieser
Zukunft dient.“ So kommt es, dass die Utopie immer autoritär und mit
Zwangsausübung verbunden sein wird: „Der Messianismus muss gegen die Opfer
aufgebaut werden.“
Romantik und klassenlose Gesellschaft |
Mit blinder Romantik prophezeit Marx die
klassenlose Gesellschaft und die Lösung des Geheimnisses der Geschichte.
„Prophezeiungen können jedoch, sobald sie die lebendige Hoffnung von Millionen
von Menschen wiedergeben, nicht ungestraft ohne Schlusspunkt bleiben. Es kommt
eine Zeit, wo die Enttäuschung die geduldige Hoffnung in Wut verwandelt und wo
das gleiche Ziel, das mit wütendem Eigensinn bejaht und noch unerbittlicher
verlangt wird, zur Suche nach anderen Mitteln zwingt.“
Noch 1917 hatte Rosa Luxemburg verkündet: „Die
Revolution wird sich morgen mit Getöse in ihrer ganzen Größe aufrichten und zu
eurem Schrecken mit allen Trompeten verkünden: Ich war, ich bin, ich werde
sein.“ Es kam bekanntlich anders. So muss Karl Liebknecht zugeben: „Die Zeit
war nicht erfüllt.“ „Aber er sagt auch, und dabei erfassen wir, wie eine
Niederlage den besiegten Glauben bis zur religiösen Verzückung aufpeitschen
kann: `Beim Krachen des wirtschaftlichen Zusammenbruchs, dessen Grollen sich
schon nähert, werden die eingeschlafenen Truppen der Proletarier aufwachen wie
beim Fanfarenton des Jüngsten Gerichts, und die Leichname der umgebrachten
Kämpfer werden auferstehen und Rechenschaft verlangen von den Fluchbeladenen.´“
Allein die russische Revolution bleibt übrig.
Aber die Revolution darf sich nicht auf die Bauernklasse stützen, sondern auf
die Arbeiterklasse. „Diese Vereinfachung sollte die Kulaken teuer zu stehen kommen, die mehr als fünf Millionen geschichtlicher Ausnahmen darstellten und alsbald durch den Tod oder die Deportation in die Regel wieder eingefügt wurden.“
Propagandaplakat für die Enteignung der Kulaken |
So entfernte sich das Ende der Geschichte noch
mehr. „Der Glaube ist unverletzt, aber er biegt sich unter einer riesigen Menge
von Problemen und Entdeckungen, die der Marxismus nicht vorausgesehen hatte.
Die neue Kirche steht aufs Neue vor Galilei: Um ihren Glauben zu bewahren, wird
sie die Sonne leugnen und den freien Menschen demütigen.“
Aber auch das Proletariat hat nicht gehalten,
was Marx sich von ihm versprochen hatte. Die Gewerkschaftsbewegung erreichte
auf dem Wege der Reformen eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen und eine
Erhöhung des Lebensstandards. Mit Nachdruck weist Camus aber auch darauf hin,
dass die „wirkungsvollste revolutionäre oder gewerkschaftliche Aktion immer die
Angelegenheit von Arbeitereliten gewesen ist, die der Hunger nicht auspumpte“ –
eine Beobachtung, die auch heute noch zutrifft.
Natürlich sind wir immer noch weit von einer
sozial gerechten Welt entfernt, aber die elenden Lebensbedingungen der
Textilarbeiter haben sich eben nicht, wie Marx prophezeite, auch noch
verschlimmert. Marxens Irrtum bestand in dem Glauben, „das schwärzeste Elend,
insbesondere das industrielle Elend, könne zur politischen Reife führen.“
Arbeiter in der DDR |
Das Gegenteil ist zu beobachten: Immer mehr
wurde die Revolution einerseits Bürokraten und Doktrinären ausgeliefert,
andererseits musste sie sich auf geschwächte und richtungslosen Massen stützen.
Dabei hat der industrielle Sozialismus - und auch nicht der spätere real existierende
Sozialismus in der DDR – nichts Wesentliches für die Stellung des Arbeiters
getan, denn er hat am Prinzip von Produktion und Arbeit nicht gerüttelt,
sondern sie im Gegenteil sogar verherrlicht. Er konnte dem Arbeiter lediglich
eine historische Rechtfertigung anbieten, die vergleichbar ist mit der
Verheißung himmlischer Freuden für jemanden, der in den Bergwerken Sibiriens
stirbt.
Statt den Menschen zum Schöpfer seines eigenen
Schicksals zu erheben, hat der autoritäre Sozialismus „diese lebendige Freiheit
zugunsten einer idealen, kommenden Freiheit in Beschlag genommen. Dadurch hat
er, ob er es wollte oder nicht, die Versklavung verstärkt, die mit dem Fabrik-Kapitalismus
begonnen hatte. So bestand Camus zufolge „die geschichtliche Mission des
Proletariats während hundertfünfzig Jahren, ausgenommen im Paris der Kommune,
dem letzten Zufluchtsort der revoltierenden Revolution, darin, verraten zu
werden.“
So musste die revolutionäre Prophezeiung mit
wissenschaftlichem Anspruch gerade deshalb scheitern, weil sie eben nicht
wissenschaftlich war. Marx wollte gleichzeitig deterministisch und prophetisch
sein, dialektisch und dogmatisch. Wenn aber die Theorie allein durch die
Ökonomie determiniert ist, „kann sie die Vergangenheit der Produktion
beschreiben, aber nicht ihre Zukunft, die nur wahrscheinlich bleibt. Aufgabe
des historischen Materialismus kann nur die Kritik der gegenwärtigen
Gesellschaft sein, über die zukünftige Gesellschaft kann er, ohne dem
wissenschaftlichen Geist untreu zu werden, nur Vermutungen anstellen.“
Der Marxismus ist also nicht wissenschaftlich,
sondern bestenfalls wissenschaftsgläubig. So ist es für Camus auch nicht
verwunderlich, „dass man, um den Marxismus wissenschaftlich zu machen und diese
im Zeitalter der Wissenschaft nützliche Fiktion aufrechtzuerhalten, mit dem
Terror vorgehen musste.“
"Vernunft" im Dienst der Prophezeiung: Die Inquisition |
Das Prinzip, die wissenschaftliche Vernunft in
den Dienst einer Prophezeiung zu stellen ist überdies nicht neu. Von ihm wurden
die Kirchen geleitet, „wenn sie die wahre Vernunft einem toten Glauben und die
Freiheit des Geistes der Erhaltung der zeitlichen Macht unterstellen wollten.“
Am Schluss bleibt von Marxens Prophezeiung nur
die Behauptung übrig, die Fristen seien eben etwas länger „und man müsse
erwarten, dass eines noch unsichtbaren Tages das Ende alles rechtfertige. Mit
anderen Worten sind wir im Fegefeuer, und man verspricht uns, es gäbe keine
Hölle.“
Zitate aus: Albert Camus: Der Mensch in der
Revolte, Reinbek 2013 (Rowohlt), hier: S. 259ff
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