„Elemente und Ursprünge totaler
Herrschaft“ (1955 auf Deutsch erschienen) ist das vielleicht wichtigste, in
jedem Fall umfangreichste Buch von Hannah Arendt. Auf insgesamt 1015 Seiten
rekonstruiert sie einerseits die Entwicklung des Antisemitismus im 18. und 19.
Jahrhundert sowie das Aufkommen des Rassismus und des Imperialismus im 19. und
frühen 20. Jahrhundert, andererseits entwirft sie eine umfassende Theorie des
Totalitarismus, aufbauend auf den beiden historischen Formen totaler
Herrschaft, dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus.
Der außerordentlich blutige Terror
im Anfangsstadium einer totalen Herrschaft dient vor allem dazu, den
politischen Gegner zu erledigen und alle Opposition unmöglich zu machen. Der
totale Terror aber erst dann entfesselt, wenn das Anfangsstadium überwunden ist
und das Regime keinerlei Opposition mehr zu fürchten hat.
Auschwitz |
Die Konzentrations- und
Vernichtungslager im Totalitarismus haben hierbei die Funktion von Laboratorien,
„in denen experimentiert wird, ob der fundamentale Anspruch der totalitären
Systeme, dass Menschen total beherrschbar sind, zutreffend ist. Arendt zufolge
handelt es sich „darum, festzustellen, was überhaupt möglich ist, und den
Beweis dafür zu erbringen, dass schlechthin alles möglich ist“ (907).
Zwar ist uns nichts von dem, was
sich in den Lagern abgespielt hat,
„unbekannt aus perversen und bösartigen Phantasiewelten“, doch urplötzlich
stellt sich heraus, „dass das, was die menschliche Phantasie seit Jahrtausenden
in ein Reich jenseits menschlicher Kompetenz verbannt hat, tatsächlich
herstellbar ist“ (919f).
In keinem Fall sind die
Konzentrationslager um der möglichen Arbeitsleistung willen eingerichtet
worden. Vielmehr hängt die Unglaubwürdigkeit der Gräuel aufs engste mit ihrer
ökonomischen Zwecklosigkeit zusammen. Die Nazis haben diese Zwecklosigkeit
sogar bis zur offenen Zweckwidrigkeit betrieben, „als sie mitten im Kriege und
bei offenbaren Mangel an rollendem Material Millionen von Juden transportierten
und riesige, kostspielige Vernichtungsfabriken anlegten“ (918).
Totale Herrschaft geht davon aus, alle
Menschen in ihrer unendlichen Pluralität und Verschiedenheit neu zu
organisieren, „als ob sie alle zusammen nur einen einzigen Menschen darstellten.“
Das Ziel dabei ist, „jeden Menschen auf eine sich immer gleichbleibende
Identität von Reaktionen zu reduzieren, so dass jedes dieser Reaktionsbündel
mit jedem anderen vertauschbar ist“ (ebd.).
Sachsenhausen |
Insofern dienen die Lager nicht nur
der Ausrottung von Menschen, der Erniedrigung von Individuen, sondern auch „dem
ungeheuerlichen Experiment, unter wissenschaftlich exakten Bedingungen
Spontaneität als menschliche Verhaltensweise abzuschaffen und Menschen in ein
Ding zu verwandeln, das unter gleichen Bedingungen sich immer gleich verhalten
wird, also etwas, was selbst Tiere nicht sind; denn der Pawlow´sche Hund, den
man bekanntlich darauf dressiert hatte, nicht zu essen, wenn er hungrig war,
sondern wenn eine Glocke ertönte, war ein pervertiertes Tier“ (908).
Dabei hängt das Experiment der
totalen Herrschaft in den Konzentrationslagern vor allem davon ab, dass die
Lager gegen die Welt der Lebenden vollkommen abgedichtet sind. „Mit dieser
Abdichtung hängt die eigentümliche Unwirklichkeit und Unglaubwürdigkeit
zusammen, die allen Berichten aus den Lagern innewohnt“ (908).
Daher sind die Berichte der
Überlebenden von Konzentrations- und Vernichtungslagern für Arendt „von
auffallender Monotonie“, denn „je echter diese Zeugnisse sind, desto
kommunikationsloser sind sie, desto klagloser berichten sie, was sich
menschlicher Fassungskraft und menschlicher Erfahrung entzieht.“ Mehr noch, die
Ungeheuerlichkeit der begangenen Untaten „schafft automatisch eine Garantie
dafür, dass den Mördern, die mit Lügen ihre Unschuld beteuern, eher Glauben
geschenkt wird als den Opfern, deren Wahrheit den gesunden Menschenverstand
beleidigt“ (908f).
Das eigentliche Grauen der
Konzentrations- und Vernichtungslager besteht nun darin, „dass die Insassen,
selbst wenn sie zufällig am Leben bleiben, von der Welt der Lebenden wirksamer
abgeschnitten sind, als wenn sie gestorben wären, weil der Terror Vergessen
erzwingt. Der Mord geschieht also ganz ohne Ansehen der Person; er kommt dem
Zerdrücken einer Mücke gleich (…) Es gibt keine Parallele zu dem Leben in den
Konzentrationslagern“ (916f).
Der erste entscheidende Schritt ist die
Tötung der juristischen Person, denn das Konzentrationslager steht immer außerhalb
des normalen Strafvollzug, weil „die Insassen niemals `zur Ahndung von
strafbaren oder sonst verwerflichen Taten´ eingeliefert werden“ (922).
Neben politischen Gefangenen und
normalen Kriminellen fügte sich in Deutschland wie in Russland „ein drittes Element,
das bald die Majorität aller Insassen bilden sollte. Diese größte Gruppe
besteht aus Menschen, die überhaupt nichts getan haben, was, sei es in ihrem
eigenen Bewusstsein oder im Bewusstsein ihrer Peiniger, in irgendeinem
rationalen Zusammenhang mit ihrer Haft steht“ (925).
Dementsprechend waren die Gaskammern
auch nicht als Abschreckungs- oder gar als Strafmaßnahme gedacht; sondern sie „waren
bestimmt für Juden oder Zigeuner oder Polen `überhaupt´, und sie dienten
letztlich dem Beweis, dass Menschen überhaupt überflüssig sind“ (926).
Der nächste entscheidende Schritt in
den Lagern ist die Ermordung der moralischen Person. „Dies geschieht wesentlich
dadurch, dass zum ersten Mal in der Geschichte Märtyrertum unmöglich gemacht
worden ist“ (929). In anderen Momenten hatte es die Möglichkeit gegeben, „sich
auf das Gewissen zu berufen und seinen unsichtbaren Trost, dass es immerhin
noch besser war, als Opfer zu sterben, denn als Beamter des Sterbens zu leben.“
Diesen individualistischen Ausweg
der moralischen Person haben die totalitären Regierungen dadurch abgeschnitten,
dass sie die Entscheidung des Gewissens selbst absolut fragwürdig und
zweideutig gemacht haben. Die Alternative ist hier nicht mehr zwischen Gut und
Böse, sondern zwischen Mord und Mord. Arendt zitiert hier das Beispiel von der
Frau in Griechenland, das Camus in einem Vortrag erwähnte hatte. Die Nazis hatten
ihr die Wahl überlassen, welches von ihren drei Kindern getötet werden solle:
„In der Schaffung von
Lebensbedingungen, in denen Gewissen schlechthin nicht mehr ausreicht und das
Gute unter keinen Umständen mehr getan werden kann, wird die bewusst
organisierte Komplizität aller Menschen an den Verbrechen totalitärer Regime
auch auf die Opfer ausgedehnt und damit wirklich `total´ gemacht“ (930, unter
Verwendung von Albert Camus: Die Krise des Menschen, Vortrag an der Columbia Universität New York, März 1946).
Das eigentlich Grauenhafte der Lager
nicht die spontane Vertiertheit – diese trat merklich zurück, nachdem die SS
ihre Verwaltung übernommen hatte –, sondern die absolut kalte, absolut
berechnende und systematische Zerstörung der menschlichen Körper zum Zwecke der
Zerstörung der menschlichen Würde, „die sich genug in der Gewalt hatte, den Tod
zu verhindern oder auf unabsehbar lange Zeit hinauszuschieben“ (932f).
Dass die Zerstörung der
Individualität nach Vernichtung der juristischen und Ermordung der moralischen Peron
in nahezu allen Fällen gelingt, ist wohl einleuchtend, geht aber am klarsten
aus dem Verhalten der Inhaftierten selbst hervor, der Tatsache, „dass die
Millionen von Menschen sich widerstandslos in den Gastod haben abkommandiert
lassen“ (934).
Die Zerstörung der Individualität
ist identisch mit „der Ertötung der Spontaneität, der Fähigkeit des Menschen,
von sich aus etwas Neues zu beginnen, das aus Reaktionen zu Umwelt und
Geschehnissen nicht erklärbar ist. Was danach übrig bleibt, sind jene
unheimlichen, weil mit wirklichen, menschlichen Gesichtern ausgestatteten
Marionetten, die sich alle benehmen wie der Pawlowsche Hund, die alle bis in
den Tod vollkommen zuverlässig reagieren und nur reagieren. Das ist der größte
Triumpf des Systems“ (935).
Die Rolle der Lager im
Totalitarismus wird aber auch deutlich, wenn man dessen Totalitätsanspruch wirklich
ernst nimmt und von der Prämisse ausgeht, dass totale Herrschaft in diesem
Stadium eben keine Utopie mehr ist: „Die Unzweckmäßigkeit der Lager, ihre
zynisch zugestandene Zweckwidrigkeit, ist nur scheinbar. In Wahrheit dienen sie
effektiver der Aufrechterhaltung der Macht des Regimes als jede andere seiner
Institutionen. Ohne die Lager, ohne die unbestimmte Angst vor ihnen und ohne
die sehr bestimmte Erziehung zu totaler Herrschaft, die nirgendwo sonst in
ihren radikalsten Möglichkeiten ausprobiert werden könnte, kann eine totale
Herrschaft weder ihr Kerntruppen fanatisieren noch ein ganzes Volk in kompletter
Apathie erhalten. Herrscher wie Beherrschte würden nur zu schnell wieder in
`bürgerlichen Schlendrian´ anheimfallen, kurz, sie würden sich in jener
Richtung entwickeln, die alle vom gesunden Menschenverstand beratenen
Beobachter so sehr vorauszusagen liebten“ (936).
Es geht dem Totalitarismus also nicht
darum, „nur“ ein despotisches Regime über Menschen zu errichten, sondern ein
System, durch das Menschen überflüssig gemacht werden. „Totale Macht ist nur zu
leisten und zu gewährleisten, wenn es auf nichts anderes mehr ankommt als auf
absolut kontrollierbare Reaktionsbereitschaft, auf restlos aller Spontaneität
beraubte Marionetten. Menschen sind, gerade weil sie so mächtig sind,
vollkommen nur dann zu beherrschen, wenn sie Exemplare der tierischen Spezies
Menschen geworden sind“ (937).
Konzentrations- und Vernichtungslager |
Während die totale Herrschaft also einerseits
„alle Sinnzusammenhänge zerstört, mit denen wir normalerweise rechnen und in
denen wir normalerweise handeln, errichtet sie andererseits eine Art Suprasinn,
durch den in absoluter und von uns niemals erwarteter Stimmigkeit jede, auch
die absurdeste Handlung und Institution ihren `Sinn´ empfängt.“ Über die
Sinnlosigkeit der totalitären Gesellschaft thront der Suprasinn der Ideologien, die behaupten, den Schlüssel zur Geschichte oder die Lösung aller Rätsel gefunden zu haben.
Hierbei zeigt sich für Arendt nachträglich,
dass die Ideologien des 19. Jahrhunderts und die kuriosen `Weltanschauungen´
des wissenschaftlichen Aberglaubens und der Halbbildung nur so lange harmlos
sind, als niemand im Ernst an sie glaubt. Sobald ihr Anspruch auf absolute und
totale Geltung erst genommen wird, „entwickeln sie sich zu logischen Systemen,
in denen nun jegliches zwangsläufig folgt, weil eine Prämisse axiomatisch
angenommen ist“ (939).
In diesem bekannten Wunsch, ein
eindeutiges Weltbild, eine in sich stimmige Weltanschauung zu haben, der aus
der Erfahrungsunfähigkeit der modernen Massen stammt und der eigentliche Motor
aller Ideologien ist, „liegt bereits jene Verachtung für Wirklichkeit und
Tatsächlichkeit in ihrer unendlich variierenden und nie einheitlich zu
fassenden reinen Gegebenheit, die eines der hervorstechenden Merkmale der
totalitären fiktiven Welt bildet“ (939).
In dem Bestreben, den Beweis dafür
zu erbringen, dass alles möglich ist, hat die totale Herrschaft schließlich entdeckt,
dass es ein radikal Böses wirklich gibt und dass es in dem besteht, was
Menschen weder bestrafen noch vergeben können. „Als das Unmögliche möglich
wurde, stellte sich heraus, dass es identisch ist mit dem unbestrafbaren,
unverzeihlichen radikal Bösen, das man weder verstehen noch erklären kann durch
die bösen Motive von Eigennutz, Habgier, Neid, Machtgier, Ressentiment,
Feigheit oder was es sonst noch geben mag und demgegenüber daher alle menschlichen
Reaktionen gleich machtlos sind; dies konnte kein Zorn rächen, keine Liebe
ertragen, keine Freundschaft verziehen, kein Gesetz bestrafen.
So wie die Opfer
in den Fabriken zur Herstellung von Leichen und den Höhlen des Vergessens nicht
mehr `Menschen´ sind in den Augen ihrer Peiniger, so sind diese neuesten
Verbrecher selbst jenseits dessen, womit jeder von uns bereit sein muss, sich
im Bewusstsein der Sündhaftigkeit des Menschen zu solidarisieren“ (941).
Zitate aus: Hannah
Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 2009 (piper)
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