Donnerstag, 30. April 2015

Karl Popper und der kritische Pluralismus

Am 26. Mai 1981 hielt Karl Raimund Popper an der Universität Tübingen einen Vortrag mit dem Titel „Duldsamkeit und intellektuelle Verantwortlichkeit“.

Sir Karl Raimund Popper (1902 - 1994)
Der Titel spielt Popper zufolge auf das Argument der Toleranz an, das von Voltaire, dem Vater der Aufklärung stammt: „Was ist Toleranz?, fragt Voltaire. Und er antwortet: Toleranz ist die notwendige Folge der Einsicht, daß wir fehlbare Menschen sind. Irren ist menschlich, und wir alle machen dauernd Fehler. So laßt uns denn einander unsere Torheiten verzeihen. Das ist das Fundament des Naturrechts.“

Popper nach appelliert Voltaire hier an die intellektuelle Redlichkeit, d.h. „wir sollen uns unsere Fehler, unsere Fehlbarkeit, unsere Unwissenheit eingestehen.“ Natürlich weiß auch Voltaire, daß es durch und durch überzeugte Fanatiker gibt. Aber deren Überzeugung ist deshalb nicht redlich, weil sie sich selbst, ihre Überzeugungen und deren Gründe nicht ehrlich geprüft haben. Diese „kritische Selbstprüfung“ aber ist für Popper ein unerlässlicher Teil intellektuellen Redlichkeit.

Der Fanatismus dagegen ist „oft ein Versuch, unseren eigenen, uneingestandenen Unglauben, den wir unterdrückt haben und der uns daher nur halb bewußt ist, zu übertönen.“

Auch wenn Voltaire die Toleranz damit begründet, dass wir einander unsere Torheiten vergeben sollen, wäre es eine weitverbreitete Torheit zu glauben, es sei ein Zeichen von Toleranz, alles – also auch die Intoleranz – zu tolerieren. „In der Tat, hier hat die Toleranz ihre Grenzen. Wenn wir der Intoleranz den Rechtsanspruch zugestehen, toleriert zu werden, dann zerstören wir die Toleranz und den Rechtsstaat. Das war das Schicksal der Weimarer Republik.“

Toleranz bedeutet nicht, Intoleranz zu tolerieren!

Neben der Intoleranz gibt es gleichwohl noch „andere Torheiten, die wir nicht tolerieren sollten.“ Dazu gehört für Popper vor allem „jene Torheit, die die Intellektuellen dazu bringt, mit der letzten Mode zu gehen; eine Torheit, die viele dazu gebracht hat, in einem dunklen, eindrucksvollen Stil zu schreiben, in jenem orakelhaft en Stil, den Goethe im Hexeneinmaleins und an anderen Stellen des Faust so vernichtend kritisiert hat.

Dieser Stil, der Stil der großen, dunklen, eindrucksvollen und unverständlichen Worte, diese Schreibweise sollte nicht länger bewundert, ja sie sollte von den Intellektuellen nicht einmal länger geduldet werden.“ Dieser Stil ist nicht nur intellektuell unverantwortlich, sondern zerstört gleichermaßen den gesunden Menschenverstand und die Vernunft.

Vor allem aber macht sie jene Haltung möglich, die man als Relativismus bezeichnet hat. „Diese Haltung führt zu der These, daß alle Thesen intellektuell mehr oder weniger gleich vertretbar sind. Alles ist erlaubt. Daher führt die These des Relativismus offenbar zur Anarchie, zur Rechtlosigkeit; und so zur Herrschaft der Gewalt.“

Popper stellt deshalb dem Relativismus eine Position gegenüber, die leider fast immer mit dem Relativismus verwechselt wird, die aber von diesem grundverschieden ist. Popper bezeichnet diese Position als „kritischen Pluralismus.“ Weil der Relativismus „aus einer laxen Toleranz entspringt“ letztlich immer zur Herrschaft der Gewalt führt, kann der kritische Pluralismus zur Zähmung dieser Gewalt beitragen.

Für die Trennung des kritischen Pluralismus vom Relativismus ist für Popper die Idee der Wahrheit von entscheidender Bedeutung.

Der Relativismus ist schließlich „die Position, daß man alles behaupten kann, oder fast alles, und daher nichts. Alles ist wahr, oder nichts. Die Wahrheit ist also bedeutungslos.“

"Wenn alles gilt, gilt nichts mehr."
Pluralismus muss sich in den Dienst
der Wahrheitssuche stellen.
Der kritische Pluralismus dagegen „ist die Position, daß im Interesse der Wahrheitssuche jede Theorie – je mehr Theorien, desto besser – zum Wettbewerb zwischen den Theorien zugelassen werden soll. Dieser Wettbewerb besteht in der rationalen Diskussion der Theorien und in ihrer kritischen Eliminierung. Die Diskussion ist rational; und das heißt, daß es um die Wahrheit der konkurrierenden Theorien geht: die Theorie, die in der kritischen Diskussion der Wahrheit näher zu kommen scheint, ist die bessere; und die bessere Theorie verdrängt die schlechteren Theorien. Es geht also um die Wahrheit.“

Schon in der Antike bei Xenophanes zeigt sich dieser Pluralismus, der im Dienst der Suche nach der Wahrheit steht.

Nicht vom Beginn an enthüllten die Götter den Sterblichen alles.
Aber im Laufe der Zeit finden wir, suchend, das Bess’re.

Redlichkeit also ist letztlich Bescheidenheit gegenüber der eigenen Erkenntnis. Wir müssen Popper zufolge einen Unterschied machen zwischen der objektiven Wahrheit und der subjektiven Gewißheit des Wissens. Danach kann ich, „auch wenn ich die vollkommenste Wahrheit verkünde, diese Wahrheit nie mit Sicherheit wissen“, denn „es gibt kein unfehlbares Kriterium der Wahrheit. Wir können eben nie, oder fast nie, ganz sicher sein, dass wir uns nicht geirrt haben.“

Aus der Redlichkeit ergibt sich notwendig die Duldsamkeit, die Geduld mit uns selbst und anderen. Duldsamkeit impliziert Toleranz: „Wenn ich von dir lernen kann und im Interesse der Wahrheitssuche lernen will, dann muß ich dich nicht nur dulden, sondern als potentiell gleichberechtigt anerkennen; die potentielle Einheit und Gleichberechtigung aller Menschen sind eine Voraussetzung unserer Bereitschaft , rational zu diskutieren.“

Wichtig dabei sei auch das Prinzip, daß wir von einer Diskussion viel lernen können, „auch dann, wenn sie nicht zu einer Einigung führt.“

Aber Duldsamkeit kann niemals Duldung der Unduldsamkeit, der Gewalt und der Grausamkeit sein.

Zitate aus: Karl Raimund Popper: Duldsamkeit und intellektuelle Verantwortlichkeit, Vortrag, gehalten am 26. Mai 1981 an der Universität Tübingen, in: Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vorträge und Aufsätze aus dreißig Jahren, München 1999 (Piper Verlag)

Donnerstag, 23. April 2015

Die Bibel und die Korruption

Begriffe wie „Korruption“, „Bestechung“ und „Bestechlichkeit“, „Unterschlagung“ und „Rechtsbeugung“ und andere ähnliche Begriffen aus dem Strafrecht den – heutzutage immer stärker zunehmenden - Missbrauch einer Vertrauensstellung in Verwaltung, Justiz, Wirtschaft und Politik.

Selbstverständlich kann der Versuch, die Handlungsweise eines anderen durch Gewährung oder Versprechen von Vorteilen zu beeinflussen, systemtheoretisch auch als Form eines reziproken Gabentausches und damit als eine Form menschlicher Interaktion betrachtet werden, die unter Umständen gemeinschaftsbildend sein kann. Dies hatte schon Cicero festgestellt:

„Bedeutsam ist auch jene Gemeinschaft, die sich bildet aus dem gegenseitigen Geben und Empfangen von Wohltaten. Solange diese wechselseitig und erwünscht sind, werden diejenigen, unter denen sie vorkommen, in enger Gemeinschaft verbunden.“ (Cicero, De officiis I,56)

Geschenk oder Bestechung?
Bemerkenswert ist auch, dass im Babylonischen Talmud  der Begriff שׁחד (šochad) sowohl das „Geschenk“ als auch die „Bestechungsgabe“ bezeichnen kann. Das entsprechende Verb (שׁהוא חד šæhû’ chad) bedeutet auch hier „das, was eint“. So beschreibt שׁחד šôchad auch fast nie ein absichtsloses Schenken, sondern eines, dem der Gedanke des do ut des („ich gebe, damit du gibst“) zugrunde liegt In der Praxis wird die Grenze von „Bestechung“ zu „Geschenk“ daher wohl oft unscharf geblieben sein (Babylonischer Talmud, Traktat Ketubbot 105a).

Es ist wohl kein Zufall, dass ausgerechnet dort, wo Recht und Gesetz zu den konstitutiven Elementen des Staates wurden, wo der Kampf um das Recht und die Gleichheit des Individuums dazu führte, dass sich der Mensch mit dem Gesetz eine neue strenge Fessel schuf, die die auseinanderstrebenden Kräfte weiter zusammenhält, wo „der Staat sich objektiv im Gesetz ausdrückt, das Gesetz König wird“ (Jaeger), das dort – im griechischen Recht - durchaus klar zwischen Bestechung (δῶρα) und anderen Vergehen wie Unterschlagung (κλοπή) unterschieden wurde (Aristoteles, Athenaion politeia 54,2).

Letztlich setzt sich bis in unsere Zeit ein Verständnis durch, das „Bestechung“ und „Korruption“ als die Gewährung oder das Versprechen von Vorteilen materieller oder anderer Art definiert. In Abgrenzung zu Nötigung oder Erpressung muss die Bestechung beiden Parteien jedoch einen Vorteil verschaffen. Während nun jede Person bestechen kann, ist Bestechlichkeit nur bei Amtsträgern im weiteren Sinne, d.h. bei Personen mit Stellvertretungsfunktion, möglich. Nach diesem Verständnis beeinflusst Bestechung die Entscheidung oder Aktion eines Funktionsträgers in dessen Amtsbereich.

Auch in der Bibel, vornehmlich im Alten Testament wird das Problem der Bestechung und Korruption in allen Abschnitten der alttestamentlichen Geschichte immer wieder virulent.

„Deine eigenen Söhne sind nicht 

in deinen Wegen gewandelt“ (1.Sam 8)
Besonders deutlich wird dies in der Episode, in der die vom gesamten Volk attestierte Gerechtigkeit des Propheten Samuels der Rechtsbeugung seiner Söhne gegenübergestellt wird, die Bestechungs-geschenke annehmen (1.Sam 8,3 und 1.Sam 12,3).

Bereits in der vorköniglichen Zeit der Richter wird in Israel das Annehmen von Geschenken (s.o. שׁחד šôchad) im Zusammenhang mit der Rechtsprechung daher apodiktisch verboten:

Du sollst dich nicht durch Geschenke bestechen lassen; denn Geschenke machen die Sehenden blind und verdrehen die Sache derer, die im Recht sind. (Ex 23,8)

Dass dieser Anspruch nicht immer eingelöst wurde, belegen die zahlreichen Klagen über bestechliche Richter:

Du sollst das Recht nicht beugen und sollst auch die Person nicht ansehen und keine Geschenke nehmen; (…) Der Gerechtigkeit, ja der Gerechtigkeit jage nach! (Dtn 16, 19-20a)

In die gleiche Tradition gehören auch die Worte des Propheten Micha und Jesaja über die Missstände in Jerusalem:

Der Prophet Micha
(8. Jh. v. Chr.)
So hört doch dies, ihr Häupter im Hause Jakob und ihr Herren im Hause Israel, die ihr das Recht verabscheut und alles, was gerade ist, krumm macht; die ihr Zion mit Blut baut und Jerusalem mit Unrecht – seine Häupter richten für Geschenke, seine Priester lehren für Lohn und seine Propheten wahrsagen für Geld – und euch dennoch auf den HERRN verlasst und sprecht: »Ist nicht der HERR unter uns? Es kann kein Unglück über uns kommen (Mi 3, 9-11).

Deine Fürsten sind Abtrünnige und Diebsgesellen, sie nehmen alle gern Geschenke an und trachten nach Gaben. Den Waisen schaffen sie nicht Recht, und der Witwen Sache kommt nicht vor sie. (Jes 1, 23)

Weh denen, die Helden sind, Wein zu saufen, und wackere Männer, Rauschtrank zu mischen, die den Schuldigen gerecht sprechen für Geschenke und das Recht nehmen denen, die im Recht sind! (Jes 5, 23)

Gleichwohl bleiben alle diese Klagen recht pauschal und die näheren historischen Hintergründe und Vorgehensweisen unbestimmt.

Die Begründung für die Ablehnung von Bestechung im alttestamentlichen Judentum ist das Verständnis von Gerechtigkeit als Qualität einer „Gemeinschaft“. Bestechung wird demnach als unsolidarisches und treuloses Verhalten gewertet. Weil diese „Gemeinschaft“ im Kontext des Volkes Israel auch immer eine Gemeinschaft mit Gott bedeutet, ist Bestechung immer auch ein Vergehen gegen die Gebote Gottes und dementsprechend wird auf die negativen Folgen von Bestechlichkeit hingewiesen.

Verflucht sei, wer Bestechung annimmt, so daß er eine Seele erschlägt, unschuldiges Blut! Und alles Volk soll sagen: Amen! (Dtn 26, 25)

Wer unrechtem Gewinn nachgeht, zerstört sein Haus; wer aber Bestechung hasst, der wird leben. Der Gottlose nimmt gern heimlich Geschenke, zu beugen den Weg des Rechts. (Spr 15, 27)

"Es ströme aber das Recht wie Wasser
und die Gerechtigkeit wie ein nie
versiegender Bach" (Amos 5, 24)
Wer dagegen Bestechung ablehnt, übersteht das Endgericht unbeschadet und wird leben. Eine weltliche Bestrafung für die Annahme von Bestechung wird dagegen im Alten Testament nirgends beschrieben.

Wer in Gerechtigkeit wandelt und aufrichtig redet; wer verschmäht, durch Bedrückung Gewinn zu machen; wer seine Hände abzieht, daß er keine Bestechung nehme; wer seine Ohren verstopft, daß er nicht von Blutvergießen höre; wer seine Augen zuschließt, daß er Böses nicht ansehe; der wird in der Höhe wohnen, eine Felsenfeste ist seine Burg, sein Brot wird ihm gegeben, sein Wasser versiegt nie. (Jes 33, 15f)

Auch im christlichen Kontext spielten die alttestamentlichen Vorschriften zur unparteilichen Rechtsprechung eine große Rolle. Allerdings werden „Bestechung“ und „Bestechlichkeit“ in den neutestamentlichen Lasterkatalogen nicht explizit erwähnt, sondern unter dem Themenkomplex Habsucht und Geldgier subsumiert.

Eine Ausnahme ist vielleicht das Gleichnis vom ungerechten Verwalter (Lk 16,1-8), das einzelne Züge eines Bestechungsfalls deutlich werden lässt. Aber auch Johannes der Täufer empfiehlt umkehrwilligen Zöllnern, die als besonders bestechungsanfällig galten:

Fordert nicht mehr, als euch vorgeschrieben ist! (Lk 3,13)

Jesus und sein Versucher
Die Versuchung ist groß! Der größte Bestecher der Welt versuchte sogar Jesus selbst zu korrumpieren. So versprach der Teufel Jesus „alle Reiche der Welt“, allerdings müsse sich Jesus dafür vor ihm niederwerfen und ihn anbeten (Mt 4,8f). Die teuflische Strategie ging nicht auf, Jesus widerstand. Aber Jesus war ja auch kein Politiker ...


Zitate aus:  Marcus Sigismund, Art. „Bestechung, www.bibelwissenschaft.de/stichwort/15068    


Weitere Literatur: Werner Jaeger: Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Berlin 1989 (de Gruyter)   -    Wolfgang Schuller (Hg.): Korruption im Altertum, München 1982

Donnerstag, 16. April 2015

Karl Raimund Popper und die intellektuelle Bescheidenheit

Es gibt in der langen Geschichte der Philosophie Texte, die vom ersten bis zum letzten Buchstaben durch eine faszinierende Klarheit bestechen. 

Über Wissen und Nicht-Wissen
Zu ihnen gehört mit Sicherheit der Vergleich von Sokrates und Platon, in diesem Fall die Gegenüberstellung von intellektueller Bescheidenheit und intellektueller Anmaßung in dem Vortrag, den Karl Raimund Popper am 8. Juni 1979 in der Aula der Universität Frankfurt a. M. anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde hielt.

Das Thema seines Vortrages lautete „Über Wissen und Nicht-wissen“. Popper beschloss, dieses Thema historisch zu behandeln, und „wenn auch nur sehr kurz“ die Lehre des Sokrates in den Mittelpunkt zu stellen. Er beginnt mit „der schönsten philosophischen Schrift, die ich kenne, mit Platons Apologie des Sokrates.“

„Platons Apologie enthält die Verteidigungsrede des Sokrates und einen kurzen Bericht über seine Verurteilung. Ich halte die Rede für authentisch.  Sokrates erzählt hier, wie erstaunt und bestürzt er war, als er hörte, daß das Delphische Orakel auf die verwegene Frage: „Gibt es jemanden, der weiser ist als Sokrates?“ antwortete: „Niemand ist weiser.“ „Als ich das hörte“, sagte Sokrates, „da fragte ich mich: Was will der Gott damit wohl sagen ? Denn ich weiß, daß ich nicht weise bin; weder sehr weise, noch auch nur ein wenig.“

Da Sokrates nicht durch Nachdenken herausbringen konnte, was der Gott mit seinem Orakelspruch meinte, so beschloss er, den Versuch zu machen, das Orakel zu widerlegen. Er ging also zu einem, der als weise galt – zu einem der Staatsmänner Athens – um von ihm zu lernen.

Intellektuelle Bescheidenheit (Sokrates)
Das Ergebnis beschreibt Sokrates folgendermaßen: „Weiser als dieser Mann bin ich schon: Zwar weiß keiner von uns beiden etwas Rechtes. Er aber glaubt, daß er etwas weiß, und weiß nichts. Ich weiß zwar auch nichts; aber ich bilde mir nicht ein, etwas zu wissen.“

Nachdem er mit den Politikern gesprochen hatte, ging Sokrates zu den Dichtern. Das Ergebnis war das gleiche. Und dann ging er zu den Handwerkern. Diese wußten nun in der Tat Dinge, von denen er nichts verstand. Aber sie bildeten sich ein, auch vieles andere zu wissen, sogar das Wichtigste. Und ihr Dünkel wog ihr echtes Wissen mehr als reichlich auf.

So kam Sokrates schließlich zu folgender Deutung der Absicht des Delphischen Orakels: Der Gott wollte offenbar gar nichts über Sokrates sagen; er hatte sich dieses Namens nur bedient, um zu sagen: „Unter den Menschen ist derjenige der weiseste, der, wie Sokrates, erkennt, daß er in Wahrheit keine Weisheit besitzt.“

Sokrates’ Einsicht in unser Nichtwissen – „Ich weiß, daß ich fast nichts weiß, und kaum das“ – scheint mir von der allergrößten Bedeutung zu sein. Diese Einsicht wurde nie deutlicher formuliert als in Platons Apologie des Sokrates. Man hat diese sokratische Einsicht oft nicht ernst genommen. Unter dem Einfluß von Aristoteles hat man sie für Ironie gehalten. Platon selbst gab schließlich die Sokratische Lehre von unserem Nichtwissen auf, und damit auch die charakteristisch sokratische Haltung: die Forderung nach intellektueller Bescheidenheit.

Das wird deutlich, wenn wir die Sokratische Lehre vom Staatsmann mit der Platonischen Lehre vergleichen. Es ist das ein Punkt, der einem doctor rerum politicarum besonders wichtig sein muß.

Sowohl Sokrates wie auch Platon stellen die Forderung auf, daß der Staatsmann weise sein soll. Aber das bedeutet bei beiden etwas Grundverschiedenes. Bei Sokrates bedeutet es, daß der Staatsmann sich seiner eklatanten Unwissenheit voll bewußt sein soll. Sokrates wirbt also für intellektuelle Bescheidenheit. „Erkenne dich selbst!“ bedeutet für ihn: „Sei dir bewußt, wie wenig du weißt !“

Intellektuelle Anmaßung (Platon)
Im Gegensatz dazu interpretiert Platon die Forderung, daß der Staatsmann weise sein soll, als eine Forderung nach der Herrschaft der Weisen, nach der Sophokratie. Nur der wohlunterrichtete Dialektiker, der gelehrte Philosoph, ist fähig zu herrschen. Das ist der Sinn der berühmten Platonischen Forderung, daß die Philosophen Könige werden müssen und die Könige voll ausgebildete Philosophen. Die Philosophen waren von dieser Platonischen Forderung zutiefst beeindruckt; die Könige vermutlich etwas weniger.

Ein größerer Gegensatz zwischen zwei Interpretationen der Forderung, daß der Staatsmann weise sein soll, läßt sich kaum denken. Es ist der Gegensatz zwischen intellektueller Bescheidenheit und intellektueller Anmaßung. Und es ist auch der Gegensatz zwischen dem Fallibilismus – der Anerkennung der Fehlbarkeit alles menschlichen Wissens – und dem Szientismus oder Szientizismus: der These, daß dem Wissen und den Wissenden, der Wissenschaft und den Wissenschaftlern, der Weisheit und dem Weisen, der Gelehrtheit und dem Gelehrten, Autorität zugeschrieben werden soll.

Man sieht hier klar, daß ein Gegensatz in der Beurteilung des menschlichen Wissens – also ein erkenntnistheoretischer Gegensatz – zu gegensätzlichen ethisch-politischen Zielsetzungen und Forderungen führen kann.“

Wissen, und das wird in diesen wunderbaren Gedanken Poppers mehr als deutlich, ist eben im Gegensatz zum Meinen oder zum Vermuten, wesentlich autoritär – und intellektuell anmaßend …


Zitate aus: Karl R. Popper: Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vorträge und Aufsätze aus dreißig Jahren, München 1999 (piper)

Donnerstag, 9. April 2015

Hans-Dietrich Genscher, Heinrich Böll und der Rechtsstaat

Heinrich Böll (1917 - 1985)
Im Dezember 1972 erhält der deutsche Schriftsteller Heinrich Böll den Nobelpreises für Literatur. Maßgeblich dazu beigetragen hatte der im Jahr zuvor erschienene „ Gruppenbild mit Dame“, zweifellos der Höhepunkt in Bölls literarischem Schaffen. Böll ergreift in diesem Werk Partei für die „Abfälligen“ der Gesellschaft, für Außenseiter und Leistungsverweigerer. Der Roman wurde zum Bestseller. Aber Das gesellschaftskritische Engagement Heinrich Bölls schlug sich nicht nur in seinem schriftstellerischen Werk nieder.

Mit der Verleihung des Nobelpreises ging für Böll ein Jahr außerordentlich erfolgreich zu Ende, das nicht bewegter hätte beginnen können. Am 10. Januar 1997 erschien im Spiegel ein Essay Bölls unter dem Titel „Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?“. Darin beschäftigt sich Böll mit der Person und dem Werdegang der RAF-Terroristin Ulrike Meinhof. Er warb nicht nur für eine faire Behandlung der Terroristin Ulrike Meinhof geworben, sondern griff in diesem Zusammenhang die Berichterstattung der Springer-Presse scharf an warf ihr eine demagogische Berichterstattung und Volksverhetzung vor.

Der Artikel im Spiegel 3/1972

In dem Essay heißt es: „"Es kann kein Zweifel bestehen: Ulrike Meinhof hat dieser Gesellschaft den Krieg erklärt. Es ist inzwischen ein Krieg von sechs gegen 60 Millionen. Ein sinnloser Krieg. Ulrike Meinhof will möglicherweise keine Gnade. Trotzdem sollte man ihr freies Geleit bieten, einen öffentlichen Prozess."

Der Titel war vom Spiegel gegen Bölls Willen verändert worden, die durch die Nennung des Vornamens suggerierte Vertrautheit des Autors mit Meinhof entsprach weder Bölls Intention noch dem Inhalt des Textes.

Fahndungsplakat der RAF
(Anfang der 70er Jahre)
In konservativen Kreisen galt er seitdem als „geistiger Sympathisant“ des Terrorismus. Der CDU-Abgeordnete Friedrich Vogel sprach in einer Bundestagsdebatte über innere Sicherheit im Juni 1972 von "den Bölls und Brückners" als intellektuellen Helfershelfern des Terrors und stellte damit – neben Heinrich Böll – den Psychologie-Professor Peter Brückner an den Pranger.

Der SPD-Politiker Diether Posser veröffentlichte im Spiegel vom 24. Januar 1972 einen Kommentar, in dem er Böll unter anderem kritiklose Übernahme von Verlautbarungen der RAF sowie gefährliche Verharmlosung der Gruppe vorwarf und zu dem Fazit gelangte, dass der im Zorn entstandene Essay Bölls unsachlich und übertrieben gewesen sei.

Böll antwortete darauf am 31. Januar mit einem Beitrag „Verfolgt war nicht nur Paulus , in dem er Posser in mehreren Punkten zustimmte und zusammenfasste: „Die Wirkung meines Artikels entspricht nicht andeutungsweise dem, was mir vorschwebte: eine Art Entspannung herbeizuführen und die Gruppe, wenn auch versteckt, zur Aufgabe aufzufordern. Ich gebe zu, daß ich das Ausmaß der Demagogie, die ich heraufbeschwören würde, nicht ermessen habe.“

In seinem am 29. Januar 1972 in der Süddeutschen Zeitung abgedruckten ArtikelMan muß zu weit gehen“ stellte Böll klar: „Ich habe die Gruppe um Ulrike Meinhof relativiert – ja. Verharmlost nein. Ich habe versucht, die Proportionen zurechtzurücken. Nichts weiter.“

Trotz dieser Klarstellungen hielten es die Behörden nicht für ausgeschlossen, dass gesuchte RAF-Mitglieder bei Böll Unterschlupf finden könnten, und so wurde bei ihm am 1. Juni 1972 in Langenbroich eine Hausdurchsuchung vorgenommen. Daraufhin kritisierten 14 Schriftsteller am 13. Juni 1972 in einem offenen Brief an den Bundestag den Umgang mit unbequemen Staatsbürgern.

Im bewaffneten Kampf der Roten Armee Fraktion hatte es zu diesem Zeitpunkt die ersten Toten gegeben, die Gruppe um Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof befand sich auf der Flucht, und einige Intellektuelle galten unter Politikern als Wegbereiter des Terrorismus.

Hans-Dietrich Genscher (* 1927)
Der damalige Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher erklärte in einem Interview:  "Es ist unbestritten, dass die Terroristen Unterstützung und Sympathie bei verschiedenen Leuten finden, nicht nur, dass man sie beherbergt, sondern auch dadurch, dass man ihre gewalttätigen Handlungen bagatellisiert oder beschönigt."

In diesem emotional aufgeheiztem Klima richteten 14 Schriftsteller am 13. Juni 1972 einen offenen Brief an den Deutschen Bundestag: „"Die unterzeichneten deutschen Schriftsteller warnen vor einer abermaligen Zerstörung der Keime einer freiheitlich demokratischen Grundordnung in Deutschland unter dem Vorwand ihrer Verteidigung. Die Verfolgung von definierbaren Straftaten wie Bombenanschlägen und sonstigem Terror ist eine Sache, die Diskriminierung politischer Gesinnungen ist eine vollständig andere.“ Zu den Unterzeichnern zählten unter anderen Alfred Andersch, Ernst Bloch, Walter Jens, Uwe Johnson, Wolfgang Koeppen, Günter Wallraff und Eckart Spoo.

Böll beschwerte sich fünf Tage nach der Hausdurchsuchung schriftlich bei Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher.

Das alles ist bekannt. Weniger bekannt ist die Reaktion von Hans-Dietrich Genscher (damals Innenminister), denn in dieser brisanten Situation ging Genscher auf Böll zu und lud ihn – auf Vorschlag Herbert Wehners (SPD) – zu einem Gespräch in sein damaliges Privathaus auf dem Heiderhof in Bad Godesberg ein. „Böll sagt ohne Zögern zu. Es war Genschers erste persönliche Begegnung mit dem großen Schriftsteller. Sie dauerte einen ganzen Nachmittag. In seinen Erinnerungen äußert sich Genscher sehr respektvoll über Böll, `dessen literarisches Werk zum Ansehen der deutschen Nachkriegsdemokratie Bedeutendes beigetragen hat.´ Er gewann den Eindruck, dass eine Annäherung für beide möglich wurde. Heute sagt er rückblickend: `Böll ist nach meinem Gefühl beeindruckt aus diesem Gespräch weggegangen. Ich hatte ihm gesagt, für mich ist das Menschenleben das Entscheidende … Einen Menschen zu töten und sich zum Richter über einen anderen Menschen zu machen, das ist inakzeptabel.´

Genschers Schilderung des Gesprächs mit Böll ist eines der besten Zeugnisse für sein Verständnis von Liberalismus und einem liberalen Rechtsstaat. Die wichtigste Funktion ist für ihn die Sicherung der Freiheit. Eben dies erwarten die Bürger von ihm. Die Stärke des Rechtsstaats beruht nicht nur auf der Wirksamkeit der Mittel, mit denen er sich schützt, sondern vielmehr auf dem Vertrauen, das die Bürger ihm entgegenbringen (…).

Das wichtigste Gespräch
in seinem Leben
Typisch ist auch, wie er Prinzipien, die für Böll wichtig sind, aufgreift und sie in einen anderen Zusammenhang stellt, sozusagen `umdreht´. Er nennt den Terrorismus eine Bedrohung der Menschenwürde und ihrer Unantastbarkeit. Auf dieser Grundlage ist die Durchsetzung politischer Ziele mit Gewalt nicht mehr zu rechtfertigen.

Genscher meint, eines der wichtigsten Gespräche in seinem Leben geführt zu haben. Es habe ihm geholfen´, `differenzierter zu argumentieren´. Das Gespräch, das damals natürlich Aufsehen erregte, war keine politische Werbeveranstaltung. Es hat aber zweifellos die Glaubwürdigkeit des Innenministers in seiner Auseinandersetzung mit Terrorismus und Extremismus gestärkt. Darauf kam es ihm wohl auch an“ (Heumann, 142f).

Jahre später bedauerten Willy Brandt und auch andere Politiker räumten Fehler bei der Verteidigung des Rechtsstaates ein. Der frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum sprach rückblickend von überzogenen Reaktionen: „"Alle, die versucht haben, Brücken zu bauen wie der Bischof Scharf in Berlin oder Heinrich Böll, wurden verunglimpft, also, der Staat hat im Grunde die Fassung verloren. Wir sind den Terroristen auf den Leim gegangen. Sie wollten uns den Krieg erklären, und wir haben die Kriegserklärung angenommen."

Zitate aus: Hans-Dieter Heumann: Hans-Dietrich Genscher: Die Biographie, 2011 (Verlag Ferd.Schöningh)

Weitere Quellen: Otto Langels im Deutschlandradio: Protest gegen den Vorwurf der "geistigen Mittäterschaft am Terrorismus". Vor 40 Jahren solidarisierten sich 14 Schriftsteller in einem offenen Brief mit Heinrich Böll, Kalenderblatt, Beitrag vom 13.06.2012    -   Heinrich Böll: „Will Ulrike Gnade oder freies Geleit? Schriftsteller Heinrich Böll über die Baader-Meinhof-Gruppe und "Bild"“, Spiegel 3/1972   -   Diether Posser: Diese Praxis ist verheerend. NRW-Minister Diether Posser über Heinrich Böll, "Bild" und Baader-Meinhof, Spiegel 5/1972    -   HeinrichBöll: Verfolgt war nicht nur Paulus. Heinrich Böll zum Böll-Kommentar Diether Possers, Spiegel 6/1972



Donnerstag, 2. April 2015

Der Staat und das Subsidiaritätsprinzip


"The legitimate object of government
is to do for a community of
people whatever they need to have done
but cannot do at all, or cannot so well do for themselves 
in their separate and individual capacities.

In all that the people can individually do as well for themselves, 
government ought not to interfere.“

(Abraham Lincoln, 1809–1865)


Das Gemeinwohl ist dann erfolgversprechend eingerichtet, wenn die Individuen in größtmöglicher Freiheit und Mitverantwortung an den gesellschaftlichen Prozessen beteiligt sind. Was das Individuum aus eigener Kraft vollbringen können, das darf ihm nicht entzogen und übergeordneten Stellen zugewiesen werden. Vielmehr müssen sämtlichen Aufgaben dort erledigt werden, wo sie anfallen. Wenn dabei Probleme auftauchen, dann müssen sie zunächst auf jener Ebene aus dem Weg geräumt werden, auf der sie auch entstanden sind. Erst wenn dies nicht zu bewältigen ist, darf durch Hilfe "von oben“ eingegriffen werden. Letztlich geht es darum, das Individuum (oder die gesellschaftliche Teilgruppe) in ihren selbstverantwortlichen Mitwirkungsmöglichkeiten vor Bevormundung zu schützen.

Neben diesen personalen Aspekten ist das Subsidiaritätsprinzip aber auch aus staatsrechtlicher, ökonomischer, politischer und verwaltungstechnischer Sicht betrachtet mehr als sinnvoll.

Staatsrechtlich betrachtet bedeutet Subsidiarität, dass im Staat die Ebenen mit selbstverantwortlicher Entscheidungsbefugnis (Gemeinde, Kreis, Regierungsbezirk, Provinz, Land, Bund, EU) von unten nach oben eingerichtet sind, und zwar nach dem Grundsatz stufenweiser, föderativer Gliederung.

Subsidiarität
Das bedeutet, dass die die öffentlichen Aufgaben in Bezug auf die jeweilige sachliche und räumliche Reichweite der staatlichen Institutionen abgegrenzt werden. Aufgaben, die in unteren Stufen verrichtet werden können, dürfen von oberen Ebenen nicht an sich gezogen und dort erfüllt werden.

Gleichwohl müssen die oberen Stufen im Falle vorübergehender Schwierigkeiten den nachgeordneten Einheiten bei ihrer Aufgabenerfüllung im Sinne der Hilfe zur Selbsthilfe beistehen. Bestimmte Angelegenheit, die aus Gründen des Gesamtinteresses von einer oberen Ebene grundsätzlich geregelt werden muss, können in Einzelfällen zur Durchführung im einzelnen auf die unteren Stufen rückgelagert werden.

Im Hinblick auf die ökonomischen Aspekte der Subsidiarität ist vom Grundsatz der Privatinitiative auszugehen. Demnach schafft der Staat durch eine Markt- und Wettbewerbsordnung die Rahmenbedingungen dafür, dass die Bürger Güter produzieren und vertreiben können. Zugleich sichert der Staat den Bestand und das Gelingen privatwirtschaftlicher Produktion und Distribution.

Staatliche Betätigung in der Wirtschaft ist letztlich nur dort zulässig, wo öffentliche Güter  bereitgestellt werden müssen – etwa im Küstenschutz oder bei der äußeren Sicherheit. In jedem Fall muss der Einsatz wirtschaftspolitischer Mittel marktkonform sein und darf nicht zur Verunsicherung privater Erwartungen über zukünftige ökonomische Verhältnisse führen.

Daher sind wirtschaftspolitische Maßnahmen, die Verantwortlichkeit der Wirtschaftssubjekte fördern – beispielsweise können die Eltern selbst entscheiden, in welche öffentliche oder private Schule ihr Kind gehen soll – anderen, zwangsrechtlichen Maßnahmen – jedes Kind wird durch behördliche Entscheidung einer bestimmten Schule zugewiesen – vorzuziehen. Wie schon auf staatsrechtlicher Ebene sollten staatliche Unterstützungsmaßnahmen in der Wirtschaft ausschließlich auf die Erhaltung der Fähigkeit zur Selbsthilfe ausgerichtet sein. Sie dürfen nur zeitlich befristet bei stetig sinkender Finanzhilfe, grundsätzlich nicht auf Dauer gewährt werden.

Der Staat als "Tax Eater" (Honoré Daumier, 1831)

Politisch betrachtet führt die Aufgliederung und Dezentralisierung politischer Aufgaben zu einer angemessenen Befriedigung der Wünsche und Bedürfnisse, je verschiedenartiger die Präferenzen der Bürger sind.

Auf diese Weise kann auch Forderung nach fiskalischer Äquivalenz am besten erfüllt werden. Nach diesem Grundsatz sollen die geleisteten Steuerzahlungen der Bürger in einem angemessenen Verhältnis zu den in Anspruch genommenen Staatsleistungen stehen.

Jeder Bürger ist bekanntlich Steuerzahler und zugleich –empfänger, „taxpayer“ und „taxeater“, wie die Amerikaner sagen. Je weiter entfernter der Staat, desto eher glaubt der Bürger, dass es eine anonyme „Gesellschaft“ ist, die da gute Gaben gibt, und nicht etwa konkrete Mitbürger, denen in die Tasche gegriffen wird. Der „taxeater“ gewinnt die Oberhand. Je näher die Gemeinschaft ist, desto mehr werden die Transfers auch von deren Ethos oder Gemeinsinn definiert und begrenzt. Nach dem Subsidiaritätsprinzip kann jeder Bürger bei den anstehenden Aufgaben und Lösungen persönlich und mitgestaltend eingebunden werden, als „taxpayer“ und als „taxeater“.

Zusätzlich fördert ein geordneter Wettbewerb der dezentral gegliederten Einheiten untereinander die ständige Innovationsbereitschaft und bewirkt dadurch auch eine laufende Steigerung der Qualität öffentlicher Leistungen.  

So ist der Wettbewerb Gordon Tullock zufolge „eines der grundlegendsten Merkmale des Föderalismus. Vom Standpunkt des Bürgers ist es eine gute Sache, wenn Städte und Staaten in einem Wettbewerb stehen und immer bessere Leistungen mit weniger Steuern anbieten können. Solch ein Wettbewerb, Menschen anzulocken, mag den Sozialisten und jenen, die etwas gegen die Marktwirtschaft haben, Kummer bereiten. Auch Beamte mögen es nicht, unter Wettbewerb zu arbeiten. Aber für diejenigen, denen es um das Wohlergehen der Mitbürger geht, funktioniert ein Staat gut, in dem Beamte unter diese Art von Druck gestellt werden.“

Natürlich bleibt eines Zentralisierung von Aufgaben dort sinnvoll, wo sie zu einer Einsparung behördlicher Fixkosten führen. Aber: Je höher die politischen Integrationskosten, also die Summe aus Konsensfindungskosten, Durchsetzungskosten und Frustrationskosten, ausfallen, um so eher sollte eine Aufgabe nach unten verlagert, dezentralisiert werden.

Dergleichen sollte eine Aufgabe nach unten verlagert werden, je höher die Informations- und Kontrollkosten bei einer öffentlichen Aufgabenerfüllung ausfallen, denn die geringere Entfernung zum Bürger bedingt bessere Durchsicht, und die lokale Verwaltungsbehörde vermag Gegebenheiten vor Ort eher zu erkennen und darauf rascher einzugehen.

Schließlich sollte unter verwaltungstechnischen Gesichtspunkten der Staat nur dort Aufgaben regeln, wo die Bürger, Privathaushalte ebenso wie Unternehmen, diese Angelegenheiten nicht selbst besorgen können.

Regelungsumfang und Regelrungsdichte - leider häufig noch ein Problem!

Der Regelungsumfang und die Regelungsdichte zentralstaatlicher Maßnahmen muss dabei auf das unbedingt erforderliche Maß beschränkt werden. Rahmenregelungen und Mindestvorschriften sind hierbei stets Detailregelungen vorzuziehen.

Selbst wenn zentralstaatliche Maßnahmen getroffen werden, so haben sie immer die finanzielle Eigenverantwortung unterer Ebenen zu berücksichtigen. Die Einnahmeautonomie der kleineren Einheiten ist grundsätzlich zu erhalten; ein Aufgabenzuwachs muss auch zur Anpassung der Finanzquellen führen.

Die unteren Ebenen müssen die Gelegenheit haben, sich vor unberechtigten und willkürlichen Eingriffen höherer Ebenen und damit vor Einschränkung ihres Zuständigkeitsbereichs zu schützen. Eine möglichst mehrstufig gegliederte Verwaltungsgerichtsbarkeit hat daher die Einhaltung der Aufgabenverteilung zwischen den einzelnen Ebenen des Staates zu sichern.

Literatur: Gordon Tullock: The Theory of Public Choice, London 2000)