Donnerstag, 16. April 2015

Karl Raimund Popper und die intellektuelle Bescheidenheit

Es gibt in der langen Geschichte der Philosophie Texte, die vom ersten bis zum letzten Buchstaben durch eine faszinierende Klarheit bestechen. 

Über Wissen und Nicht-Wissen
Zu ihnen gehört mit Sicherheit der Vergleich von Sokrates und Platon, in diesem Fall die Gegenüberstellung von intellektueller Bescheidenheit und intellektueller Anmaßung in dem Vortrag, den Karl Raimund Popper am 8. Juni 1979 in der Aula der Universität Frankfurt a. M. anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde hielt.

Das Thema seines Vortrages lautete „Über Wissen und Nicht-wissen“. Popper beschloss, dieses Thema historisch zu behandeln, und „wenn auch nur sehr kurz“ die Lehre des Sokrates in den Mittelpunkt zu stellen. Er beginnt mit „der schönsten philosophischen Schrift, die ich kenne, mit Platons Apologie des Sokrates.“

„Platons Apologie enthält die Verteidigungsrede des Sokrates und einen kurzen Bericht über seine Verurteilung. Ich halte die Rede für authentisch.  Sokrates erzählt hier, wie erstaunt und bestürzt er war, als er hörte, daß das Delphische Orakel auf die verwegene Frage: „Gibt es jemanden, der weiser ist als Sokrates?“ antwortete: „Niemand ist weiser.“ „Als ich das hörte“, sagte Sokrates, „da fragte ich mich: Was will der Gott damit wohl sagen ? Denn ich weiß, daß ich nicht weise bin; weder sehr weise, noch auch nur ein wenig.“

Da Sokrates nicht durch Nachdenken herausbringen konnte, was der Gott mit seinem Orakelspruch meinte, so beschloss er, den Versuch zu machen, das Orakel zu widerlegen. Er ging also zu einem, der als weise galt – zu einem der Staatsmänner Athens – um von ihm zu lernen.

Intellektuelle Bescheidenheit (Sokrates)
Das Ergebnis beschreibt Sokrates folgendermaßen: „Weiser als dieser Mann bin ich schon: Zwar weiß keiner von uns beiden etwas Rechtes. Er aber glaubt, daß er etwas weiß, und weiß nichts. Ich weiß zwar auch nichts; aber ich bilde mir nicht ein, etwas zu wissen.“

Nachdem er mit den Politikern gesprochen hatte, ging Sokrates zu den Dichtern. Das Ergebnis war das gleiche. Und dann ging er zu den Handwerkern. Diese wußten nun in der Tat Dinge, von denen er nichts verstand. Aber sie bildeten sich ein, auch vieles andere zu wissen, sogar das Wichtigste. Und ihr Dünkel wog ihr echtes Wissen mehr als reichlich auf.

So kam Sokrates schließlich zu folgender Deutung der Absicht des Delphischen Orakels: Der Gott wollte offenbar gar nichts über Sokrates sagen; er hatte sich dieses Namens nur bedient, um zu sagen: „Unter den Menschen ist derjenige der weiseste, der, wie Sokrates, erkennt, daß er in Wahrheit keine Weisheit besitzt.“

Sokrates’ Einsicht in unser Nichtwissen – „Ich weiß, daß ich fast nichts weiß, und kaum das“ – scheint mir von der allergrößten Bedeutung zu sein. Diese Einsicht wurde nie deutlicher formuliert als in Platons Apologie des Sokrates. Man hat diese sokratische Einsicht oft nicht ernst genommen. Unter dem Einfluß von Aristoteles hat man sie für Ironie gehalten. Platon selbst gab schließlich die Sokratische Lehre von unserem Nichtwissen auf, und damit auch die charakteristisch sokratische Haltung: die Forderung nach intellektueller Bescheidenheit.

Das wird deutlich, wenn wir die Sokratische Lehre vom Staatsmann mit der Platonischen Lehre vergleichen. Es ist das ein Punkt, der einem doctor rerum politicarum besonders wichtig sein muß.

Sowohl Sokrates wie auch Platon stellen die Forderung auf, daß der Staatsmann weise sein soll. Aber das bedeutet bei beiden etwas Grundverschiedenes. Bei Sokrates bedeutet es, daß der Staatsmann sich seiner eklatanten Unwissenheit voll bewußt sein soll. Sokrates wirbt also für intellektuelle Bescheidenheit. „Erkenne dich selbst!“ bedeutet für ihn: „Sei dir bewußt, wie wenig du weißt !“

Intellektuelle Anmaßung (Platon)
Im Gegensatz dazu interpretiert Platon die Forderung, daß der Staatsmann weise sein soll, als eine Forderung nach der Herrschaft der Weisen, nach der Sophokratie. Nur der wohlunterrichtete Dialektiker, der gelehrte Philosoph, ist fähig zu herrschen. Das ist der Sinn der berühmten Platonischen Forderung, daß die Philosophen Könige werden müssen und die Könige voll ausgebildete Philosophen. Die Philosophen waren von dieser Platonischen Forderung zutiefst beeindruckt; die Könige vermutlich etwas weniger.

Ein größerer Gegensatz zwischen zwei Interpretationen der Forderung, daß der Staatsmann weise sein soll, läßt sich kaum denken. Es ist der Gegensatz zwischen intellektueller Bescheidenheit und intellektueller Anmaßung. Und es ist auch der Gegensatz zwischen dem Fallibilismus – der Anerkennung der Fehlbarkeit alles menschlichen Wissens – und dem Szientismus oder Szientizismus: der These, daß dem Wissen und den Wissenden, der Wissenschaft und den Wissenschaftlern, der Weisheit und dem Weisen, der Gelehrtheit und dem Gelehrten, Autorität zugeschrieben werden soll.

Man sieht hier klar, daß ein Gegensatz in der Beurteilung des menschlichen Wissens – also ein erkenntnistheoretischer Gegensatz – zu gegensätzlichen ethisch-politischen Zielsetzungen und Forderungen führen kann.“

Wissen, und das wird in diesen wunderbaren Gedanken Poppers mehr als deutlich, ist eben im Gegensatz zum Meinen oder zum Vermuten, wesentlich autoritär – und intellektuell anmaßend …


Zitate aus: Karl R. Popper: Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vorträge und Aufsätze aus dreißig Jahren, München 1999 (piper)

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