Donnerstag, 9. April 2015

Hans-Dietrich Genscher, Heinrich Böll und der Rechtsstaat

Heinrich Böll (1917 - 1985)
Im Dezember 1972 erhält der deutsche Schriftsteller Heinrich Böll den Nobelpreises für Literatur. Maßgeblich dazu beigetragen hatte der im Jahr zuvor erschienene „ Gruppenbild mit Dame“, zweifellos der Höhepunkt in Bölls literarischem Schaffen. Böll ergreift in diesem Werk Partei für die „Abfälligen“ der Gesellschaft, für Außenseiter und Leistungsverweigerer. Der Roman wurde zum Bestseller. Aber Das gesellschaftskritische Engagement Heinrich Bölls schlug sich nicht nur in seinem schriftstellerischen Werk nieder.

Mit der Verleihung des Nobelpreises ging für Böll ein Jahr außerordentlich erfolgreich zu Ende, das nicht bewegter hätte beginnen können. Am 10. Januar 1997 erschien im Spiegel ein Essay Bölls unter dem Titel „Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?“. Darin beschäftigt sich Böll mit der Person und dem Werdegang der RAF-Terroristin Ulrike Meinhof. Er warb nicht nur für eine faire Behandlung der Terroristin Ulrike Meinhof geworben, sondern griff in diesem Zusammenhang die Berichterstattung der Springer-Presse scharf an warf ihr eine demagogische Berichterstattung und Volksverhetzung vor.

Der Artikel im Spiegel 3/1972

In dem Essay heißt es: „"Es kann kein Zweifel bestehen: Ulrike Meinhof hat dieser Gesellschaft den Krieg erklärt. Es ist inzwischen ein Krieg von sechs gegen 60 Millionen. Ein sinnloser Krieg. Ulrike Meinhof will möglicherweise keine Gnade. Trotzdem sollte man ihr freies Geleit bieten, einen öffentlichen Prozess."

Der Titel war vom Spiegel gegen Bölls Willen verändert worden, die durch die Nennung des Vornamens suggerierte Vertrautheit des Autors mit Meinhof entsprach weder Bölls Intention noch dem Inhalt des Textes.

Fahndungsplakat der RAF
(Anfang der 70er Jahre)
In konservativen Kreisen galt er seitdem als „geistiger Sympathisant“ des Terrorismus. Der CDU-Abgeordnete Friedrich Vogel sprach in einer Bundestagsdebatte über innere Sicherheit im Juni 1972 von "den Bölls und Brückners" als intellektuellen Helfershelfern des Terrors und stellte damit – neben Heinrich Böll – den Psychologie-Professor Peter Brückner an den Pranger.

Der SPD-Politiker Diether Posser veröffentlichte im Spiegel vom 24. Januar 1972 einen Kommentar, in dem er Böll unter anderem kritiklose Übernahme von Verlautbarungen der RAF sowie gefährliche Verharmlosung der Gruppe vorwarf und zu dem Fazit gelangte, dass der im Zorn entstandene Essay Bölls unsachlich und übertrieben gewesen sei.

Böll antwortete darauf am 31. Januar mit einem Beitrag „Verfolgt war nicht nur Paulus , in dem er Posser in mehreren Punkten zustimmte und zusammenfasste: „Die Wirkung meines Artikels entspricht nicht andeutungsweise dem, was mir vorschwebte: eine Art Entspannung herbeizuführen und die Gruppe, wenn auch versteckt, zur Aufgabe aufzufordern. Ich gebe zu, daß ich das Ausmaß der Demagogie, die ich heraufbeschwören würde, nicht ermessen habe.“

In seinem am 29. Januar 1972 in der Süddeutschen Zeitung abgedruckten ArtikelMan muß zu weit gehen“ stellte Böll klar: „Ich habe die Gruppe um Ulrike Meinhof relativiert – ja. Verharmlost nein. Ich habe versucht, die Proportionen zurechtzurücken. Nichts weiter.“

Trotz dieser Klarstellungen hielten es die Behörden nicht für ausgeschlossen, dass gesuchte RAF-Mitglieder bei Böll Unterschlupf finden könnten, und so wurde bei ihm am 1. Juni 1972 in Langenbroich eine Hausdurchsuchung vorgenommen. Daraufhin kritisierten 14 Schriftsteller am 13. Juni 1972 in einem offenen Brief an den Bundestag den Umgang mit unbequemen Staatsbürgern.

Im bewaffneten Kampf der Roten Armee Fraktion hatte es zu diesem Zeitpunkt die ersten Toten gegeben, die Gruppe um Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof befand sich auf der Flucht, und einige Intellektuelle galten unter Politikern als Wegbereiter des Terrorismus.

Hans-Dietrich Genscher (* 1927)
Der damalige Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher erklärte in einem Interview:  "Es ist unbestritten, dass die Terroristen Unterstützung und Sympathie bei verschiedenen Leuten finden, nicht nur, dass man sie beherbergt, sondern auch dadurch, dass man ihre gewalttätigen Handlungen bagatellisiert oder beschönigt."

In diesem emotional aufgeheiztem Klima richteten 14 Schriftsteller am 13. Juni 1972 einen offenen Brief an den Deutschen Bundestag: „"Die unterzeichneten deutschen Schriftsteller warnen vor einer abermaligen Zerstörung der Keime einer freiheitlich demokratischen Grundordnung in Deutschland unter dem Vorwand ihrer Verteidigung. Die Verfolgung von definierbaren Straftaten wie Bombenanschlägen und sonstigem Terror ist eine Sache, die Diskriminierung politischer Gesinnungen ist eine vollständig andere.“ Zu den Unterzeichnern zählten unter anderen Alfred Andersch, Ernst Bloch, Walter Jens, Uwe Johnson, Wolfgang Koeppen, Günter Wallraff und Eckart Spoo.

Böll beschwerte sich fünf Tage nach der Hausdurchsuchung schriftlich bei Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher.

Das alles ist bekannt. Weniger bekannt ist die Reaktion von Hans-Dietrich Genscher (damals Innenminister), denn in dieser brisanten Situation ging Genscher auf Böll zu und lud ihn – auf Vorschlag Herbert Wehners (SPD) – zu einem Gespräch in sein damaliges Privathaus auf dem Heiderhof in Bad Godesberg ein. „Böll sagt ohne Zögern zu. Es war Genschers erste persönliche Begegnung mit dem großen Schriftsteller. Sie dauerte einen ganzen Nachmittag. In seinen Erinnerungen äußert sich Genscher sehr respektvoll über Böll, `dessen literarisches Werk zum Ansehen der deutschen Nachkriegsdemokratie Bedeutendes beigetragen hat.´ Er gewann den Eindruck, dass eine Annäherung für beide möglich wurde. Heute sagt er rückblickend: `Böll ist nach meinem Gefühl beeindruckt aus diesem Gespräch weggegangen. Ich hatte ihm gesagt, für mich ist das Menschenleben das Entscheidende … Einen Menschen zu töten und sich zum Richter über einen anderen Menschen zu machen, das ist inakzeptabel.´

Genschers Schilderung des Gesprächs mit Böll ist eines der besten Zeugnisse für sein Verständnis von Liberalismus und einem liberalen Rechtsstaat. Die wichtigste Funktion ist für ihn die Sicherung der Freiheit. Eben dies erwarten die Bürger von ihm. Die Stärke des Rechtsstaats beruht nicht nur auf der Wirksamkeit der Mittel, mit denen er sich schützt, sondern vielmehr auf dem Vertrauen, das die Bürger ihm entgegenbringen (…).

Das wichtigste Gespräch
in seinem Leben
Typisch ist auch, wie er Prinzipien, die für Böll wichtig sind, aufgreift und sie in einen anderen Zusammenhang stellt, sozusagen `umdreht´. Er nennt den Terrorismus eine Bedrohung der Menschenwürde und ihrer Unantastbarkeit. Auf dieser Grundlage ist die Durchsetzung politischer Ziele mit Gewalt nicht mehr zu rechtfertigen.

Genscher meint, eines der wichtigsten Gespräche in seinem Leben geführt zu haben. Es habe ihm geholfen´, `differenzierter zu argumentieren´. Das Gespräch, das damals natürlich Aufsehen erregte, war keine politische Werbeveranstaltung. Es hat aber zweifellos die Glaubwürdigkeit des Innenministers in seiner Auseinandersetzung mit Terrorismus und Extremismus gestärkt. Darauf kam es ihm wohl auch an“ (Heumann, 142f).

Jahre später bedauerten Willy Brandt und auch andere Politiker räumten Fehler bei der Verteidigung des Rechtsstaates ein. Der frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum sprach rückblickend von überzogenen Reaktionen: „"Alle, die versucht haben, Brücken zu bauen wie der Bischof Scharf in Berlin oder Heinrich Böll, wurden verunglimpft, also, der Staat hat im Grunde die Fassung verloren. Wir sind den Terroristen auf den Leim gegangen. Sie wollten uns den Krieg erklären, und wir haben die Kriegserklärung angenommen."

Zitate aus: Hans-Dieter Heumann: Hans-Dietrich Genscher: Die Biographie, 2011 (Verlag Ferd.Schöningh)

Weitere Quellen: Otto Langels im Deutschlandradio: Protest gegen den Vorwurf der "geistigen Mittäterschaft am Terrorismus". Vor 40 Jahren solidarisierten sich 14 Schriftsteller in einem offenen Brief mit Heinrich Böll, Kalenderblatt, Beitrag vom 13.06.2012    -   Heinrich Böll: „Will Ulrike Gnade oder freies Geleit? Schriftsteller Heinrich Böll über die Baader-Meinhof-Gruppe und "Bild"“, Spiegel 3/1972   -   Diether Posser: Diese Praxis ist verheerend. NRW-Minister Diether Posser über Heinrich Böll, "Bild" und Baader-Meinhof, Spiegel 5/1972    -   HeinrichBöll: Verfolgt war nicht nur Paulus. Heinrich Böll zum Böll-Kommentar Diether Possers, Spiegel 6/1972



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