„Elemente
und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1955 auf Deutsch erschienen) ist das
vielleicht wichtigste, in jedem Fall umfangreichste Buch von Hannah Arendt. Auf
insgesamt 1015 Seiten rekonstruiert sie einerseits die Entwicklung des
Antisemitismus im 18. und 19. Jahrhundert sowie das Aufkommen des Rassismus und
des Imperialismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert, andererseits entwirft sie
eine umfassende Theorie des Totalitarismus, aufbauend auf den beiden
historischen Formen totaler Herrschaft, dem Nationalsozialismus und dem
Stalinismus.
Geheimes Staatspolizeihauptamt (Prinz-Albrecht-Straße 8, Berlin) |
Arendt sieht
ein wesentliches Merkmal der totalitären Bewegungen nach ihrer Machtergreifung darin,
die wesentliche Differenzen zwischen Staat und Bewegung aufrechtzuerhalten, so
dass sie das schwierige Problem lösen, „sich des Staatsapparats zu bemächtigen,
ohne mit ihm zu verschmelzen“ (868), mit einer Ausnahme – der Geheimpolizei!
Sie ist einzige Institution, in der Staatsmacht und Parteiapparat zusammenfallen
und gerade deshalb das eigentliche Machtzentrum im totalitären
Herrschaftsapparat.
Die
wesentliche Funktion der Gemeinpolizei nach der Machtergreifung ist Arndt
zufolge die „unmittelbare Verwirklichung der totalitären Fiktion“ (872). Der
Terror hört nun auf, ein bloßes Mittel für die Beseitigung des Widerstands in und
die Bewachung der Bevölkerung zu sein, weil bereits alle Opposition liquidiert
und die Bevölkerung so organisiert ist, dass sie sich ohnehin nicht mehr rühren
kann.
„Erst in
diesem Stadium beginnt die wirklich totale Herrschaft, deren eigentliches Wesen
der Terror ist. Der Inhalt dieses spezifisch totalitären Terrors ist niemals
einfach negativ – etwa die Niederschlagung der Feinde des Regime -, sondern
dient positiv der Verwirklichung der jeweiligen totalitären Fiktion“ (874) – der
Errichtung der klassenlosen Gesellschaft im Stalinismus oder der
Volksgemeinschaft oder der Rassegesellschaft im Nationalsozialismus.
Göring ernennt Himmler (links) zum Leiter der Gestapo (April 1934) |
Dementsprechend
ignoriert die totalitäre Polizei auch alle Unterscheidungen zwischen Feind und Freund
und versucht auch gar nicht, den geheimen Gedanken der Beherrschten
nachzuspüren. Vielmehr gehört es zu dem Wesen totalitärer Bewegungen, „ihre
Feinde in Übereinstimmung mit ihrer
bereits vor der Machtergreifung voll entwickelten Ideologie zu definieren,
und da diese Definitionen nichts mit ... den Betroffenen zu tun haben, braucht
die Polizei auch keine besonderen Erkenntnisse, um 'verdächtige Personen'
festzustellen. Die ideologisch definierten Gegner werden aus den natürlichen
oder historischen Ablaufgesetzen, deren Exekutor der totalitäre Machthaber zu
sein vorgibt, 'objektiv' errechnet. Rassisch Minderwertige sind 'objektive
Feinde' der Rassegesellschaft, genauso wie die 'sterbenden Klassen' und ihre
Vertreter (die subjektiv sich einbilden mögen, sehr gute Kommunisten zu sein)
objektive Feinde der klassenlosen Gesellschaft und objektive Helfer der Bourgeoisie
sind" (876f).
Es ist im
totalen Staat also bereits von vornherein entschieden, wer der zu Verhaftende
und Liquidierende ist. Sein wirkliches Denken oder Planen interessiert keinen
Menschen, denn sein Verbrechen ist bereits „objektiv, ohne alle Zuhilfenahme `subjektiver
Faktoren´ festgestellt" (877).
So ist in
jedem konkreten Fall das 'Verbrechen' früher als die Aufspürung des
Verbrechers. „Ist aber erst einmal objektiv entschieden, welches Verbrechen in
einem bestimmten Moment der Geschichte gerade an der Tagesordnung ist, so
müssen auch die 'Verbrecher' gefunden werden" (877f).
Propagandaplakat zum Tag der Deutschen Polizei (1941) |
Für das Funktionieren
totalitärer Regime ist die Einführung des Begriffs vom 'objektiven Gegner' wesentlich
wichtiger als die ideologisch festgelegte Bestimmung, wer der Gegner jeweils
ist:
„Der Begriff
des 'objektiven Gegners', dessen Identität je nach Lage der Dinge wechselt - so
dass, sobald eine Kategorie liquidiert ist, einer neuen der Krieg erklärt
werden kann -, entspricht aufs genaueste dem von totalitären Machthabern immer
wieder proklamierten Tatbestand, dass ihr Regime nicht eine Regierung im
althergebrachten Sinne sei, sondern eine Bewegung, deren Fortschreiten
naturgemäß immer wieder auf Widerstände stößt, die aufs neue zu beseitigen
sind, sofern man von einem Rechtsdenken der totalitären Herrschaftsform
sprechen kann, ist der 'objektive Gegner' sein zentraler Begriff" (879).
Es daher
nicht wirklich erstaunlich, dass sich subjektive Einsicht in die objektive
Notwendigkeit einer Verhaftung und eines Geständnisses am ehesten bei ehemaligen
Angehörigen der Geheimpolizei beobachten lässt: "In den Worten eines
ehemaligen NKDW-Agenten: 'Meine Vorgesetzten kennen mich und meine Arbeit: wenn
die Partei und die NKDW von mir jetzt verlangen, diese Dinge einzugestehen,
müssen sie ihre Gründe haben. Meine Pflicht als Bürger der Sowjetunion ist es
jedenfalls, das Geständnis, das sie von mir verlangen, nicht zu
verweigern.'" (Anm. 87, 880).
Die
Geheimpolizei ist letztlich dem Führer unterstellt: "Wer der nächste
'objektive Gegner' sein wird entscheidet der Führer, nicht die Polizei, mit
deren Hilfe er liquidiert werden soll (...) In den Worten Himmlers: 'Jeder vom
Führer eingesetzte Führer wird von uns gedeckt; jeder vom Führer abgesetzte Führer
wird von uns, wenn es sein muss, mit
Brachialgewalt entfernt, denn es gilt eben nur der Befehl des Führers"
(881).
Im Totalitarismus
kommt es zu einer völligen Umkehrung der traditionellen Aufgaben der Polizei: "Die
totalitäre Polizei hat nicht die Aufgabe, Verbrechen aufzudecken; was für
Verbrechen gerade verübt werden und wer die Verbrecher sind, bestimmt der
Führer. Sie hat dafür immer zur Stelle zum sein, wenn bestimmte Kategorien der
Bevölkerung verhaftet werden sollen, und sie hat für ihr Verschwinden zu
sorgen. Die einzige Auszeichnung, deren sie sich rühmen kann - und dies ist
eine sehr hohe Auszeichnung -, ist, dass nur sie weiß, was jeweils geplant ist
und welche politische Linie jeweils
beschlossen wurde" (882).
So tritt
an die Stelle eines heimlich geplanten, aber faktisch nachweisbaren Vergehens das
objektiv errechenbare 'mögliche Verbrechen', "dessen Planung sich nicht
mehr in den Köpfen von Staatsfeinden abspielt, sonder logisch aus der Analyse
jeweiliger historisch-politischer Vorgänge ableitbar ist (...) Konstruiert man
den Verlauf der Weltgeschichte am Schema der Protokolle der Weisen von Zion, so
ergibt sich 'objektiv' - das heißt hier logisch aus einer Prämisse deduzierbar
-, dass die Juden danach streben müssen, die Herrschaft zu ergreifen, ganz
unabhängig von den faktisch feststellbaren Wünschen und Plänen konkret
existierender Juden" (884f).
Juden warten auf den Abtransport (22.10.1940) (Bild: Topographie des Terrors) |
Mit
anderen Worten: Das Delikt hängt ganz und gar von den im geschichtlichen
Augenblick enthaltenen Möglichkeiten ab. Diesen Möglichkeiten muss auch dann
entsprochen werden, wenn die Wirklichkeit ihnen nicht entspricht, daß heißt,
wenn zu dem 'möglichen Verbrechen' keine wirklichen Verbrecher sich
entschlossen haben (...) Da die Geschichte in der totalitären Fiktion voraussehbar und berechenbar verläuft, muss jeder ihrer Möglichkeiten auch eine Wirklichkeit entsprechen.
Diese 'Wirklichkeit' wird nicht anders fabriziert als andere 'Tatsachen' in
dieser rein fiktiven Welt" (886).
Die
totalitäre Geheimpolizei kann sich auch deshalb nicht mehr mit 'verdächtigen
Personen' abgeben, weil vom Standpunkt totalitärer Herrschaft die gesamte Bevölkerung
dazugehört. Außerdem muss vom Standpunkt totaler Herrschaft „allein die
Tatsache, dass menschliche Wesen denken können, einen Verdacht erregen, den
kein noch so vorbildliches Verhalten je zerstreuen kann. Denn die Fähigkeit zu
denken ist unauflöslich mit der Fähigkeit, seine Meinung zu ändern,
verknüpft" (892).
So hat
Arendt nach keine Tyrannenherrschaft jemals die menschliche Freiheit so wirksam
und gründlich negiert „wie die Willkür, die sich aus dem Begriff des
'objektiven Gegners' ergibt" (897).
Die
totale Herrschaft hat die Begriffe von Verbrechen und Auszeichnung, von Schuld
und Unschuld schlicht einfach abgeschafft und an ihre Stelle den furchtbaren
neuen Begriff der 'Unerwünschten' und 'Lebensuntauglichen' gesetzt: „Nur
Verbrecher kann man bestrafen, Unerwünschte und Lebensuntaugliche lässt man von
der Erdoberfläche verschwinden, als hätte es sie nie gegeben (...) Die einzige
Spur, die sie hinterlassen, ist die Erinnerung derer, die sie kannten, liebend
zu deren Welt sie gehörten. daher gehört zu den vornehmsten und schwierigsten
Aufgaben der totalitären Polizei, auch diese Spur mit den Toten zugleich
auszulöschen" (898).
So müsse
die Bevölkerung daran gewöhnt werden, dass der Verhaftete aus der Welt der
Lebenden nicht nur so verschwindet, als wäre er gestorben. Die von der Polizei verwalteten Gefängnisse und Lager sind somit nicht
einfach Stätten der Ungerechtigkeit und des Verbrechens; sie sind organisiert
als Höhlen des Vergessens, in die jeder
jederzeit hineinstolpern kann, um in ihnen zu verschwinden, als hätte es ihn
nie gegeben. „Weder Leichnam noch Grab geben Kunde davon, dass ein Mord geschah
oder dass jemand starb (...) Erst wenn ein Mensch aus der Welt der Lebenden so
ausgelöscht ist, als ob er nie gelebt hätte, ist er wirklich ermordet"
(900f).
Der Entlassungsschein aus dem Zuchthaus mit der sofortigen Überstellung des Häftlings ins KZ |
Natürlich
will Arendt damit nicht behaupten, dass die allgemeinen Tatsachen des
Polizeiregimes nicht einem großen Teil der Bevölkerung und vor allem den
Parteimitgliedern bekannt wären. „Dass es Konzentrationslager gibt, dass
Unschuldige verhaftet werden, dass Menschen spurlos verschwinden, weiß ein
jeder. Gleichzeitig aber weiß auch jedermann, dass es nichts Gefährlicheres und
nichts Verboteneres gibt, als über diese offenen Geheimnisse zu sprechen oder
sich gar nach ihnen zu erkundigen" (902).
Das Privileg des Geheimbundes der Polizei, der Elite und Kaderformationen, ist es aber nun, dieses Geheimnis zu kennen und besprechen zu dürfen. Welches die nächste Kategorie der `Unerwünschten´ und `Lebensuntauglichen´ sein wird, und wichtiger noch, dass es immer solche Kategorien geben wird, ist „das esoterische Wissen, über das allein diese Eingeweihten verfügen“ (902).
So dienen das Ziel der Geheimpolizei, die Erziehung `politischer Soldaten´, die ideologische Schulung der Eliteformationen letztlich alle nur dem einen Zweck – „der furchtbaren und grundsätzlich unbegrenzbaren Erforschung der Reiche des Möglichen und der Verwirklichung einer Welt, in der es Realität und Tatsache im Sinne einer dem Menschen vorgegebenen Faktizität nicht mehr gibt“ (904).
Das Privileg des Geheimbundes der Polizei, der Elite und Kaderformationen, ist es aber nun, dieses Geheimnis zu kennen und besprechen zu dürfen. Welches die nächste Kategorie der `Unerwünschten´ und `Lebensuntauglichen´ sein wird, und wichtiger noch, dass es immer solche Kategorien geben wird, ist „das esoterische Wissen, über das allein diese Eingeweihten verfügen“ (902).
So dienen das Ziel der Geheimpolizei, die Erziehung `politischer Soldaten´, die ideologische Schulung der Eliteformationen letztlich alle nur dem einen Zweck – „der furchtbaren und grundsätzlich unbegrenzbaren Erforschung der Reiche des Möglichen und der Verwirklichung einer Welt, in der es Realität und Tatsache im Sinne einer dem Menschen vorgegebenen Faktizität nicht mehr gibt“ (904).
Zitate aus: Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge
totaler Herrschaft, München 2009 (piper)
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