Donnerstag, 5. Juni 2014

Joachim Fest und die Bürgerlichkeit als Lebensform

Joachim Fest (1926 - 2006)
Joachim Fest war einer der bedeutendsten Publizisten und Historiker der Bundesrepublik. Nach seiner Zeit als Chefredakteur beim norddeutschen Rundfunk war er zwei Jahrzehnte Herausgeber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Schwerpunkt seiner historischen Werke ist zweifelsohne der Nationalsozialismus: Seine Hitler-Biographie wurde in über 20 Sprachen übersetzt. Weitere Werke zum Thema sind: "Staatsstreich. Der lange Weg zum 20. Juli", "Speer" und "Der Untergang“ (verfilmt 2004).

1981 erhielt Fest den Thomas-Mann-Preis der Stadt Lübeck. In seiner Dankesrede denkt Fest darüber nach, was bürgerliche Lebensform eigentlich bedeutet. Die Rede gehört mit zu bedeutendsten Beiträgen zu diesem Thema in der deutschen Nachkriegszeit.

Im Anschluss an Georg Lukács bemerkt Fest, dass Bürgerlichkeit  als Form des Lebens in erster Linie das "Primat der Ethik" im Leben bedeutet, "dass das Leben durch das beherrscht wird, was sich systematisch, regelmäßig wiederholt, durch das, was pflichtgemäß wiederkehrt, durch das, was getan werden muss ohne Rücksicht auf Lust oder Unlust. Mit anderen Worten: Die Herrschaft der Ordnung über die Stimmung, des Dauernden über das Momentane, der ruhigen Arbeit über die Genialität, die von Sensationen gespeist wird" (12).

Gleichwohl sei diese fast rituelle Ordnung des Lebens, die "Fügung ins Zyklische", in das, „was pflichtgemäß wiederkehrt“, noch nicht die Bürgerlichkeit selbst, sondern der äußere Rahmen, in dem sich jener Leistungswille erst entfalten kann, dem das Bürgertum alles verdankt, was erinnnerungswürdig an ihm ist.“

Fest beschreibt hier die Verknüpfung des Bürgertums mit der Tugendlehre des Protestantismus und ihrer „produktions-ethischen Gesinnung." Es ist diese "Leistungsidee von drakonischem Charakter" ein Wesensmerkmal der bürgerlichen Lebensform, "die alle Sphären gesellschaftlichen Verhaltens ..., Arbeitswelt und positive Wissenschaft, Recht und Philosophie, Kunst und private Lebensführung" durchdringt" (15).
  
Hier liegt für Fest der Grund für die Wertschätzung des unverwechselbaren Individuums: „Bürgerlich ist die Idee der Konkurrenz, des Exzellierens auf allen Gebieten; bürgerlich der Wille zum Herausragenden und, daraus hervorspringend, der  Sinn für individuellen Rang, auch für menschliche und künstlerische Größe, der wiederum aufs engste mit dem zu tun hat, was man das bürgerliche Genie zur Bewunderung nannte" (15).

Seine individualistische Grundhaltung verbindet die bürgerliche Lebensform schließlich mit der "Faszination durch das Einzigartige, auf deren Grund ein schroffes, im Einzelfall oft mitleidloses Bekenntnis zu menschlichen Unterschieden, sogar zur Ungleichheit greifbar wird" (ebd.).

Deshalb solle die bürgerliche Lebensphilosophie den einzelnen auch nicht fesseln, sondern ihm vielmehr "Ansporn und Möglichkeit geben, das Besondere zu werden.“ (ebd.)

Der Prototyp des Bürgers: Thomas Mann

Dies leitet über zu den Gedanken von der „Vervollkommnung des Einzelnen“, der wiederum verknüpft ist mit dem stark pädagogischen Zug, der zu diesem Menschenbild gehört“, einschließlich der ununterdrückbaren Neigung zu Kritik und Selbstkritik.

„Dahinter steht die Idee der Verantwortung des Menschen sowie die seiner Befreiung durch sich selbst, und es macht, um auf die Gegenwart zu kommen, den ganzen Abstand sichtbar, der uns vom gleichsam klassischen bürgerlichen Lebensgefühl trennt, dass heute alles Heil von Gruppenbildungen erwartet und Befreiung durchweg als soziales, nicht dagegen als individuelles Problem verstanden wird“ (15).

Nach bürgerlichem Verständnis dagegen wird Befreiung vor allem durch die Selbsterziehung bewirkt. Im Zentrum steht dabei der Begriff „Bildung“. Mittlerweile schlägt dem Begriff des „Bildungsbürgers“ vor allem Verachtung entgegen. Diese verkennt jedoch genau das, was mit diesem Wort ursprünglich zum Ausdruck gebracht werden sollte. Gemeint war nicht das jederzeit abrufbare Klassikerzitat oder die Kenntnis der Melodie von „O du mein holder Abendstern“. „Das war die Karikatur. Gemeint war vielmehr die geformte, vom elementaren Hunger nach geistigen Erfahrungen lebenslang geprägte Persönlichkeit“ (16)“

Auf dem Grunde des Bildungsbegriffes finde man Fest zufolge „jene Leidenschaft für die Teilhabe an der Kultur, aus der nach bürgerlicher Auffassung die Persönlichkeit, das Zusammenleben in geordneter Freiheit und strenggenommen überhaupt erst Kultur werden kann. Historisch gesprochen ist dieses Bedürfnis nach unermüdlicher Selbstformung eine Erscheinung, die allein dem Bürgertum als Klasse zugehört“ (16).
 
Die Welt des Bürgertums: Dort wo gut regiert wird, wird auch fleißig und zum Wohle aller gearbeitet. Weil die Bürger keine Angst haben müssen, dass eine tyrannische Regierungen ihnen die Früchte ihrer Arbeit oder ihre Investitionen stiehlt (Wandgemälde von Ambrogio Lorenzetti im Alten Rathaus von Siena)
Selbstformung und Kritik sind letztlich zwei Seiten der gleichen Medaille. Gerade die Kritik im Dienste der Selbsterziehung und die „Fähigkeit, sich diesem Prinzip auf allen Gebieten, sei es im Reich des Gedankens wie in der Welt der Wirtschaft, im Sozialen wie im Kulturellen zu unterwerfen“, mache das „Überlebensingenium des Bürgertums“ aus“ (18).

Natürlich will Fest das Bürgertum nicht glorifizieren. „Gewiss hat das Bürgertum vor Hitler versagt und seine überlieferten Maßstäbe wie in einer einzigen großen Erledigung aufgegeben. Aber historisch fiel es nicht stärker ins Gewicht als das der übrigen gesellschaftlichen Gruppen auch: Hitler war das Desaster eines Volkes, am Ende sogar eines Kontinents, doch nicht das einer einzelnen Klasse“ (ebd.).

Aber das Bürgertum stirbt und lebt. Scheinbar besteht die spezifische Form der Selbstbehauptung darin, „aus Untergängen Überlebenskräfte zu gewinnen und sich am eigenen Grabe Gesundheit zu besorgen“ (ebd.).

In der Gegenwart steht die bürgerliche Welt in der wohl ernstesten Krise ihres Bestehens. Dies zeigt sich „in dem anarchistischen Lärm auf den Straßen, einem Unmut, der sich gegen die unerträgliche Reglementierung des Lebens hinaus gegen alle Ordnungskategorien überhaupt wendet, sowie in einem Extremismus, der die bürgerliche „Idee der Mitte“ als eine Form der Unmoral betrachtet“ (20).

Aber diese uferlos gewordene, alles und jedes ergreifende Angriffslust offenbart, „weil sie weder Sympathie noch Unterscheidungsvermögen kennt, gerade den Verlust jenes kritischen Bewusstseins, das sie für sich reklamiert“ (ebd.).

Gegen den bürgerlichen Individualismus, der immerhin die lebenslange Anstrengung war, Persönlichkeit und geltende Normen zum Bild des unverwechselbaren Charakters zu vereinigen, ist nun ein Subjektivismus aufgestanden, „dessen egomane Züge auch vom sozialen Aufputz nicht verdeckt werden, den er zur Schau trägt. Dahinter steht eine Anspruchsgesinnung, die auf alle Begründungen lange verzichtet hat, auf nichts mehr verweist und verweisen kann als auf die eigenen Begehrlichkeiten und daher so unvermittelt in Larmoyanz umschlägt“ (21)

Wenn aber Leistungswille verpönt ist und ein auf Erfolg gegründetes Selbstbewusstsein im sozialen Verruf steht, dann bleibt nur eine „Leidenschaft für den, der in die Brüche geht.“ Dabei geht es meist weniger um echtes Mitgefühl, sondern hier zeigt sich „die Vorliebe für den pechösen Charakter, dessen Unglück sich überdies zur immer wiederholten Anklage gegen „die Gesellschaft“ verwenden lässt“ (ebd.), eine Anklage, die - richtungslos geworden - das Bestehende im Ganzen verdammt.

Dahinter steht nicht nur eine antibürgerliche Rhetorik, zugleich versucht, die eigene private Existenz an Maßstäben zu orientieren, die man gleichzeitig in der Öffentlichkeit diffamiert. Hier zeigt sich auch das Unvermögen, „zu sich selbst zu stehen, Gegnerschaften zu ertragen und Kritik nicht nur auszuhalten, sondern sich und was man ist daran zu messen“ (22).

Vielleicht – so schließt Fest – sollten die „gegenwärtig so verschreckt wirkenden Bürger sich ihrer Werte wieder bewusst werden und aus dem Schweigen treten. Dann würde auch die Kritik daran, indem sie auf Widerspruch und Behauptungswillen stieße, ihre Funktion zurückgewinnen“ (23f).

Zitate aus: Joachim Fest: Bürgerlichkeit als Lebensform. Späte Essays, Hamburg 2008 (Rowohlt)

4 Kommentare:

  1. Lieber Paideia, dass die bürgerliche Kultur und Werte und die bürgerliche Bildungswelt drohen zu verschwinden, da gebe ich Joachim Fest (1926-2006) völlig Recht. Leider scheint Fest nicht erkannt zu haben, woher diese Bedrohung kommt: Sie kommt nicht von irgendwelchen Anarchisten auf der Strasse (die es mittlerweile auch gar nicht mehr gibt. Die Punks und Anarchos der 1980er-Jahre sind längst verschwunden). Komisch finde ich auch, dass Fest behauptet, in unserer Gesellschaft gäbe es viel Sympathien für Verlierergestalten. Das Gegenteil scheint mir der Fall zu sein. In unserer neoliberalen Gesellschaft ist für Verlierer eigentlich kein Platz, denn aus wirtschaftlicher Sicht sind solche Menschen nur eine Belastung. Bedroht wird die bürgerliche Bildungswelt und ihre Werte (die nicht zuletzt an die Werte der Aufklärung und an die Buchkultur geknüpft sind) meiner Ansicht nach vor allem durch einen technokratischen Neoliberalismus, der eine digitalisierte Ökonomisierung aller Aspekte unser Gesellschaft und unserer persönlichen Existenz propagiert. Der FAZ-Mitherausgeber und Leiter des Feuilletons der FAZ Frank Schirrmacher und damit der Nachfolger Joachim Fests in dieser beruflichen Position scheint dies besser erkannt zu haben. Siehe hierzu sein neues Buch "Ego: Das Spiel des Lebens" (2013), zu dem es auch einen Wikipedia-Artikel gibt. Ich habe selbst hierzu einen Blogartikel verfasst: https://klausgauger.wordpress.com/2013/09/05/neuerschienene-deutschsprachige-kritische-werke-zur-kybernetik/

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    1. Mattias Schäfer10. Juni 2014 um 21:54

      Lieber Herr Geiger,
      der verehrte Herr Schirrmacher ist leider wohl eher ein Beispiel, wie Bürgerlichkeit und ihre Werte (die, ich zitiere Sie: "... nicht zuletzt an die Werte der ... Buchkultur geknüpft sind") nicht zu sein hat, wenn sie bestehen will. Schirrmacher hat meiner Meinung nach (durch Führungsstil und Überschätzung der eigenen Kompetenz?) viel zum Ansehens- und Qualitätsverlust der FAZ beigetragen. Das kann man natürlich anders sehen.
      Ich darf Ihnen aber folgenden Beitrag zur Lektüre empfehlen:
      http://www.merkur-blog.de/2013/02/sorgfaltspflichten-wenn-frank-schirrmacher-einen-bestseller-schreibt/
      Ihr
      Dr. Mattias Schäfer

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    2. Mattias Schäfer12. Juni 2014 um 19:20

      Nur zwei Tage nach meiner Nachricht, muss ich mit Bestürzung lesen, dass Frank Schirrmacher unerwartet und plötzlich gestorben ist. Das wünsche ich niemandem, und insofern möchte ich meinen Beitrag nicht missverstanden wissen. Mein Beileid gilt seiner Frau und seinen beiden Kindern.
      Mattias Schäfer

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    3. Lieber Herr Schäfer,
      ich bin mir sicher, dass auch Herr Schirrmacher sachliche Kritik - und Ihr Beitrag gehört dazu - zu schätzen wusste. In jedem Fall schließe ich mich ihrem Beileidsbekunden an.
      Herzliche Grüße
      Paideia

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