Donnerstag, 12. Juni 2014

Robert Nef und die Selbstbestimmung

Wilhelm Tell (um 1307)
Wilhelm Tell, das letzte fertiggestellte Drama Friedrich von Schillers (1759 - 1805), wurde am 17. März 1804 am Weimarer Hoftheater uraufgeführt. Das Drama, von Schiller schlicht als „Schauspiel“ apostrophiert, nimmt den bekannten Stoff des Schweizer Nationalmythos um Wilhelm Tell auf. Im Schauspiel gibt es drei Schlüsselszenen:

Im 2. Aufzug in Szene 2 versammeln sich Verschworene aus Uri, Schwyz und Unterwalden im Mondlicht zum gemeinsamen Schwur auf dem Rütli, unter ihnen Fürst, Stauffacher und Melchthal, nicht jedoch Tell. Unter der Leitung des Altlandammanns Itel Reding bilden sie eine Landsgemeinde und begründen die Eidgenossenschaft – sozusagen die erste kontinentaleuropäische verfassunggebende Versammlung. Sie beschließen die Vertreibung der habsburgischen Besatzungsmacht und stimmen über Einzelheiten des Planes ab.

Am Ende der Szene heißt es:

Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern,
in keiner Not uns trennen und Gefahr.
Wir wollen frei sein wie die Väter waren,
eher den Tod, als in der Knechtschaft leben.
Wir wollen trauen auf den höchsten Gott
und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen.

(Friedrich Schiller, Wilhelm Tell, Vers. 1447ff)
 
Der Rütli - Schwur: "Wir wollen frei sein ..."

Die 3. Szene des 3. Aufzugs ist der dramatische Höhepunkt des Dramas. Tell grüßt nicht den vom Landvogt Hermann Gessler aufgesteckten Hut und wird von dessen Bütteln verhaftet. Gessler selbst tritt auf und zwingt ihn, vom Kopf des eigenen Kindes zur Rettung beider Leben und für seine Freilassung einen Apfel zu schießen. Tell entnimmt seinem Köcher zwei Pfeile und trifft den Apfel. Der Frage des Vogtes, wozu der andere Pfeil bestimmt gewesen sei, weicht er zunächst aus. Gessler sichert ihm das Leben zu, was immer er antworte. Darauf sagt ihm Tell ins Gesicht, der zweite Pfeil sei für ihn gewesen, hätte er seinen Sohn getroffen. Gessler windet sich aus seiner Zusage hinaus und lässt ihn fesseln, um ihn einzukerkern.

Im 4. Aufzug in der Szene 3 lauert Tell schließlich Gessler in der hohlen Gasse bei Küssnacht auf. Sein Monolog gibt das ihm höchsteigene Motiv zu diesem schweren Entschluss: dem unnatürlichen, „teuflischen“ Treiben des Vogtes ein Ende zu setzen; sein Pfeil tötet ihn, als er gerade eine Bittstellerin überreiten will.

Die Legitimation für diese Tat findet sich schon vorher, ebenfalls in der Rütli-Szene:

„Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht,
wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,
wenn unerträglich wird die Last – greift er
hinauf getrosten Mutes in den Himmel,
und holt herunter seine ew'gen Rechte,
die droben hangen unveräußerlich
und unzerbrechlich wie die Sterne selbst –
Der alte Urstand der Natur kehrt wieder,
wo Mensch dem Menschen gegenübersteht –
Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr
verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben –
Der Güter höchstes dürfen wir verteid'gen
gegen Gewalt …“

(Friedrich Schiller, Wilhelm Tell, Vers 1275ff)

Robert Nef zeigt nun in seinem Positionspapier „Direkte Demokratie und Liberalismus. Non-Zentralismus und Mehrheitsprinzip“, dass das Spannungsfeld zwischen Freiheit und direkter Demokratie sehr anschaulich an diesen drei Schlüsselszenen dargestellt werden kann.

„Die Zumutung, vom Kopf des eigenen Kindes einen Apfel zu schießen, zeigt die Fratze der tyrannischen Fremdbestimmung. Bei der nächtlichen Verschwörung auf dem Rütli, beschließen die Eidgenossen, durch demokratische Mitbestimmung diese Fremdherrschaft abzuschütteln und ihre eigenen Angelegenheiten autonom zu regeln. In der „Hohlen Gasse“ erschießt Tell den Tyrannen Gessler in einem Akt der Selbstbestimmung mit derselben Waffe, die er beim Apfelschuss benützte.

Tell, der Tyrannentöter, verkörpert die radikale individuelle Machtskepsis des Opponenten jeder Fremdbestimmung. Die Männer auf dem Rütli verkörpern den Konsens zur gemeinsam beweglichen Lösung gemeinsamer Probleme. Sie repräsentieren sich selbst und sind „das Volk“.

Liberalismus und Demokratie, Selbstbestimmung und Mitbestimmung, - so Nef – „werden oft etwas voreilig als zwei völlig kompatible und harmonisch aufeinander abgestimmte politische Ideen dargestellt. Dass die beiden prinzipiell auch oft in Konflikt geraten, wird zu wenig beachtet.“

Mitbestimmung und repräsentative Demokratie - ein ernstes Thema!?

Dieser beginnt schon damit, dass im Zusammenhang mit der demokratischen Mitbestimmung „ziemlich kritiklos das Prinzip der Repräsentation als beinahe selbstverständlich anerkannt und vorausgesetzt“ wird. Dabei müsse man doch die Frage viel ernster nehmen, wer denn wie und inwiefern politisch adäquat repräsentieren könne.

Politische Repräsentation setze doch schließlich ein Kapital an persönlichem Vertrauen voraus, das durch die gegenwärtige Politik in keiner Weise gedeckt ist.

Gleichzeitig werde die Repräsentation des eigenen Willens durch bevorzugte Parteien und gewählte Personen in einer pluralistischen, hoch vernetzten und immer zentraler regierten Gesellschaft mit unterschiedlichsten Wertvorstellungen und Interessen immer problematischer: „Etwas überspitzt formuliert kann man Repräsentation durchaus als einen zu wenig hinterfragten Skandal bezeichnen (…) Selbstbestimmung und Mitbestimmung geraten dann in Konflikt, wenn Mehrheiten die Selbstbestimmung und die Selbstverantwortung einschränken oder gar aufheben.“

Aus liberaler Sicht aber hat die Selbstbestimmung vor der Mitbestimmung stets Vorrang. Jedes Individuum und jede Minderheit, die durch Mehrheitsentscheide fremdbestimmt werden, werden in ihrer Freiheit und Selbstbestimmung in gleicher Weise beschnitten wie durch autokratische Machthaber. „Der einzige, allerdings wichtige, Unterschied besteht darin, dass Minderheiten in einer Demokratie die Chance haben, ihrer Meinung durch Überzeugungsarbeit zur Mehrheit zu verhelfen.“
 
Mitbestimmung - oder Fremdbestimmung durch die Mehrheit ?

So kann demokratische Mitbestimmung von all denjenigen, die individuelle Selbstbestimmung für entscheidend halten, höchstens als notwendiges Übel akzeptiert werden, wenn es um die Aufrechterhaltung des Friedens und um die gemeinsame Abwehr von Gefahren geht.

Auch der Begriff „Demokratie“ sei nicht eindeutig definiert. Das Mehrheitsprinzip jedenfalls ist im Begriff „Demokratie“ nicht notwendigerweise enthalten. „Die Eidgenossenschaft der Schweiz, die man auch schon die älteste noch existierende Demokratie genannt hat, ist 1291 mit großer Wahrscheinlichkeit gerade nicht durch Mehrheitsbeschluss geschaffen worden. Das politische Bündnis hatte den Charakter einer Sezession, einer Verschwörung gegen jede Fremdherrschaft – und zwar auf ewig.“

Auch die moderne Demokratie, die nach dem Prinzip „ein Mensch eine Stimme“, und „die einfache Mehrheit gibt den Ausschlag und die Minderheit fügt sich“, sei aus liberaler Sicht kein verlässlicher Garant der Freiheit für alle, weil schlimmstenfalls fast die Hälfte der Beteiligten bzw. Betroffenen fremdbestimmt wird.

Das sei gemessen am liberalen Ziel einer möglichst hohen Selbstbestimmung keine gute Lösung, denn gerade der Wert der individuellen Selbstbestimmung wird oft von Mehrheiten unterschätzt.

Am ehesten im amerikanischen Sprachgebrauch ist democracy der „Gegenbegriff zur Willkürherrschaft und zum Totalitarismus“, „der mythisch überhöhte amerikanische Traum von einer besseren Welt. Democracy meint in den USA eigentlich nichts anderes als das Gegenteil von Tyrannei, Totalitarismus, Willkür- und Gewaltherrschaft.“

Der egalitäre Grundsatz „ein Mensch eine Stimme“ aber missachte die Tatsache, „dass es bei allen Entscheiden sehr unterschiedliche Grade der Betroffenheit gibt.“ Je zentraler ein Entscheidungsprozess organisiert wird, desto unterschiedlicher seien – so Nef - die räumlichen, sektoriellen und persönlichen Betroffenheiten durch Vorzüge und Nachteile. Bei Aktiengesellschaften gelte deshalb nicht das „Pro- Kopf-Prinzip“, sondern jenes Stimmengewicht, das der finanziellen Beteiligung entspricht.

Dass auch der Grundsatz „Je betroffener desto beteiligter“ als demokratisch bezeichnet werden könne, wird oft übersehen. Er bilde die Brücke zum Prinzip des Non-Zentralismus. Die Stimmen müssen nach diesem Prinzip nicht nur gezählt, sondern je nach räumlicher und finanzieller Betroffenheit auch gewogen werden können.

Demokratie im Sinn des Mehrheitsprinzips muss also aus strikt liberaler Sicht durch Minderheitenschutz, Kommunalautonomie, Wettbewerbs-Föderalismus, Non-Zentralismus und klassische Freiheitsrechte, die sich gegen die Staatsmacht richten, beschränkt sein.

Wenn dies der Fall ist, und je mehr dies der Fall ist, desto eher könne die Demokratie auch direkt sein. Alle Fragen, die sich durch Mehrheiten entscheiden lassen, würden durch Volksmehrheiten ebenso gut (bzw. ebenso schlecht) beantwortet wie durch Parlamentsmehrheiten. Direkte Demokratie und Parlamentarismus sind keine Alternative, sondern können bzw. könnten optimal kombiniert werden.
 
Selbstbestimmung hat den Vorzug gegenüber Mitbestimmung !

Objektiv betrachtet seien Selbstbestimmung und Mitbestimmung gleichwertige und miteinander verbindbare Problemlösungsverfahren. Aus strikt liberaler Perspektive gelte es jedoch, der Selbstbestimmung den Vorzug zu geben. Mitbestimmung sei höchstens zweitrangig, weil vor allem originelle Menschen oft die Erfahrung machen, zur Minderheit zu gehören und deswegen fremdbestimmt zu werden. Der persönliche Autonomieverlust würde lediglich durch die Einsicht gemindert, dass wenigstens eine Mehrheit in den Genuss jener Lösung kommt, welche sie selbst gewählt hat.

„Aber wie vergleicht und verrechnet man das relative Glücksgefühl der Mehrheiten mit dem Unglücksgefühl der immer wieder überstimmten Minderheiten? Am meisten „Glück“ gewährt aus liberaler Sicht wohl eine Gesellschaft, welche ein Maximum an Selbstbestimmung ermöglicht, selbst wenn damit stets auch die Verantwortung für die Folgen übernommen werden muss.“

Aus diesem Grund sei es vorteilhafter, die gesellschaftssteuernden Normen in Zukunft eher der Privatautonomie anzuvertrauen als der Demokratie im Sinn des Mehrheitsprinzips, das allgemeinverbindliche Verhaltensweisen unabhängig von ihrer Betroffenheit und Beteiligung kollektiv erzwingt.

Aus liberaler Sicht nehme daher der Stellenwert der Verantwortungsethik in der Politik zu, und ein allzu leichtfertiger und populistischer Umgang mit gesinnungsethischen Postulaten wird zunehmend gefährlich.“

Demokratie müsse sich deshalb auf wenige unveränderliche, allgemeinverbindliche und allgemeinverständliche Prinzipien beschränken, wenn sie glaubwürdig, effizient und finanzierbar bleiben will. Die Limitierung der Zuständigkeit des Staats zur Lösung von Problemen schütze den Staat schließlich auch vor Überforderung und Überschuldung und vor dem Verlust der Glaubwürdigkeit.

Die Demokratie zerstöre sich selbst, wenn es nicht gelingt, ihre Zuständigkeit zu limitieren. Eine „Demokratisierung sämtlicher Lebensbereiche“ führe dazu, dass sich alle permanent darum kümmern müssen, das Verhalten der anderen durch allgemeinverbindliche Vorschriften zunächst zu regulieren und dann zu vereinheitlichen und zu kontrollieren. Dafür aber brauche es immer mächtigere und immer zentralere politische Strukturen mit jeweiligem Zwangsmonopol. Der Spielraum für Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung, Vielfalt und Spontanität wird dabei immer kleiner.
 
Vielfalt fördern - Selbstbestimmung ermöglichen

Schon Friedrich August von Hayek postulierte vor über 30 Jahren die „Entthronung der Politik“: „Wenn die Sozialisten ehrlich glauben, dass (….) die Demokratie ein höherer Wert sei als der Sozialismus, dann müssen sie eben auf ihren Sozialismus verzichten. Denn wenn auch die heute bestehende Form der Demokratie zu Sozialismus treibt, so sind sie im Ergebnis doch unvereinbar.

Politik unter diesen Bedingungen führt uns in einen Abgrund. Es ist hohe Zeit, dass wir ihr [der Politik] die Flügel beschneiden und Vorkehrungen treffen, die den gemeinen Mann in die Lage versetzen, „Nein“ zu sagen.“

„Eine unbeschränkte Demokratie zerstört sich notwendigerweise selbst, und die einzige Beschränkung, die mit Demokratie vereinbar ist, ist die Beschränkung aller Zwangsgewalt auf die Durchsetzung allgemeiner, für alle gleicher Regeln.“

Zitate aus: Robert Nef: Direkte Demokratie und Liberalismus. Non-Zentralismus und Mehrheitsprinzip, Position Liberal 108, Hg. Liberales Institut der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, Berlin 2012   -   Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, Bd. 2: Dramen II, München 1985 (Carl Hanser Verlag)   -    Hayek, Friedrich August von, in: Überforderte Demokratie? Sozialwissenschaftliche Studien des Schweizerischen Instituts für Auslandforschung Bd. 7, Zürich 1978, S. 29.f.

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