Wilhelm Tell (um 1307) |
Wilhelm Tell, das letzte fertiggestellte
Drama Friedrich von Schillers (1759 - 1805), wurde am 17. März 1804 am Weimarer
Hoftheater uraufgeführt. Das Drama, von Schiller schlicht als „Schauspiel“
apostrophiert, nimmt den bekannten Stoff des Schweizer Nationalmythos um
Wilhelm Tell auf. Im Schauspiel gibt es drei Schlüsselszenen:
Im 2. Aufzug in Szene 2 versammeln sich Verschworene
aus Uri, Schwyz und Unterwalden im Mondlicht zum gemeinsamen Schwur auf dem
Rütli, unter ihnen Fürst, Stauffacher und Melchthal, nicht jedoch Tell. Unter
der Leitung des Altlandammanns Itel Reding bilden sie eine Landsgemeinde und
begründen die Eidgenossenschaft – sozusagen die erste kontinentaleuropäische verfassunggebende
Versammlung. Sie beschließen die Vertreibung der habsburgischen Besatzungsmacht
und stimmen über Einzelheiten des Planes ab.
Am Ende der Szene heißt es:
Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern,
in keiner Not uns trennen und Gefahr.
Wir wollen frei sein wie die Väter waren,
eher den Tod, als in der Knechtschaft leben.
Wir wollen trauen auf den höchsten Gott
und uns nicht fürchten vor der Macht der
Menschen.
(Friedrich Schiller, Wilhelm Tell, Vers.
1447ff)
Die 3. Szene des 3. Aufzugs ist der
dramatische Höhepunkt des Dramas. Tell grüßt nicht den vom Landvogt Hermann
Gessler aufgesteckten Hut und wird von dessen Bütteln verhaftet. Gessler selbst
tritt auf und zwingt ihn, vom Kopf des eigenen Kindes zur Rettung beider Leben
und für seine Freilassung einen Apfel zu schießen. Tell entnimmt seinem Köcher
zwei Pfeile und trifft den Apfel. Der Frage des Vogtes, wozu der andere Pfeil
bestimmt gewesen sei, weicht er zunächst aus. Gessler sichert ihm das Leben zu,
was immer er antworte. Darauf sagt ihm Tell ins Gesicht, der zweite Pfeil sei
für ihn gewesen, hätte er seinen Sohn getroffen. Gessler windet sich aus seiner
Zusage hinaus und lässt ihn fesseln, um ihn einzukerkern.
Im 4. Aufzug in der Szene 3 lauert Tell schließlich
Gessler in der hohlen Gasse bei Küssnacht auf. Sein Monolog
gibt das ihm höchsteigene Motiv zu diesem schweren Entschluss: dem unnatürlichen,
„teuflischen“ Treiben des Vogtes ein Ende zu setzen; sein Pfeil tötet ihn, als
er gerade eine Bittstellerin überreiten will.
Die Legitimation für diese Tat findet sich
schon vorher, ebenfalls in der Rütli-Szene:
„Nein,
eine Grenze hat Tyrannenmacht,
wenn
der Gedrückte nirgends Recht kann finden,
wenn
unerträglich wird die Last – greift er
hinauf
getrosten Mutes in den Himmel,
und
holt herunter seine ew'gen Rechte,
die
droben hangen unveräußerlich
und
unzerbrechlich wie die Sterne selbst –
Der alte
Urstand der Natur kehrt wieder,
wo
Mensch dem Menschen gegenübersteht –
Zum
letzten Mittel, wenn kein andres mehr
verfangen
will, ist ihm das Schwert gegeben –
Der
Güter höchstes dürfen wir verteid'gen
gegen
Gewalt …“
(Friedrich Schiller, Wilhelm Tell, Vers 1275ff)
Robert Nef zeigt nun in seinem
Positionspapier „Direkte Demokratie und Liberalismus. Non-Zentralismus und Mehrheitsprinzip“,
dass das Spannungsfeld zwischen Freiheit und direkter Demokratie sehr
anschaulich an diesen drei Schlüsselszenen dargestellt werden kann.
„Die Zumutung, vom Kopf des eigenen Kindes
einen Apfel zu schießen, zeigt die Fratze der tyrannischen Fremdbestimmung. Bei
der nächtlichen Verschwörung auf dem Rütli, beschließen die Eidgenossen, durch
demokratische Mitbestimmung diese Fremdherrschaft abzuschütteln und ihre
eigenen Angelegenheiten autonom zu regeln. In der „Hohlen Gasse“ erschießt Tell
den Tyrannen Gessler in einem Akt der Selbstbestimmung mit derselben Waffe, die
er beim Apfelschuss benützte.
Tell, der Tyrannentöter, verkörpert die
radikale individuelle Machtskepsis des Opponenten jeder Fremdbestimmung. Die
Männer auf dem Rütli verkörpern den Konsens zur gemeinsam beweglichen Lösung
gemeinsamer Probleme. Sie repräsentieren sich selbst und sind „das Volk“.
Liberalismus und Demokratie, Selbstbestimmung
und Mitbestimmung, - so Nef – „werden oft etwas voreilig als zwei völlig
kompatible und harmonisch aufeinander abgestimmte politische Ideen dargestellt.
Dass die beiden prinzipiell auch oft in Konflikt geraten, wird zu wenig beachtet.“
Mitbestimmung und repräsentative Demokratie - ein ernstes Thema!? |
Dieser beginnt schon damit, dass im
Zusammenhang mit der demokratischen Mitbestimmung „ziemlich kritiklos das
Prinzip der Repräsentation als beinahe selbstverständlich anerkannt und
vorausgesetzt“ wird. Dabei müsse man doch die Frage viel ernster nehmen, wer denn wie und inwiefern
politisch adäquat repräsentieren könne.
Politische Repräsentation setze doch
schließlich ein Kapital an persönlichem Vertrauen voraus, das durch die
gegenwärtige Politik in keiner Weise gedeckt ist.
Gleichzeitig werde die Repräsentation des
eigenen Willens durch bevorzugte Parteien und gewählte Personen in einer
pluralistischen, hoch vernetzten und immer zentraler regierten Gesellschaft mit
unterschiedlichsten Wertvorstellungen und Interessen immer problematischer: „Etwas
überspitzt formuliert kann man Repräsentation durchaus als einen zu wenig hinterfragten
Skandal bezeichnen (…) Selbstbestimmung und Mitbestimmung geraten dann in
Konflikt, wenn Mehrheiten die Selbstbestimmung und die Selbstverantwortung
einschränken oder gar aufheben.“
Aus liberaler Sicht aber hat die
Selbstbestimmung vor der Mitbestimmung stets Vorrang. Jedes Individuum und jede
Minderheit, die durch Mehrheitsentscheide fremdbestimmt werden, werden in ihrer
Freiheit und Selbstbestimmung in gleicher Weise beschnitten wie durch
autokratische Machthaber. „Der einzige, allerdings wichtige, Unterschied
besteht darin, dass Minderheiten in einer Demokratie die Chance haben, ihrer
Meinung durch Überzeugungsarbeit zur Mehrheit zu verhelfen.“
So kann demokratische Mitbestimmung von all
denjenigen, die individuelle Selbstbestimmung für entscheidend halten,
höchstens als notwendiges Übel akzeptiert werden, wenn es um die
Aufrechterhaltung des Friedens und um die gemeinsame Abwehr von Gefahren geht.
Auch der Begriff „Demokratie“ sei nicht
eindeutig definiert. Das Mehrheitsprinzip jedenfalls ist im Begriff
„Demokratie“ nicht notwendigerweise enthalten. „Die Eidgenossenschaft der
Schweiz, die man auch schon die älteste noch existierende Demokratie genannt
hat, ist 1291 mit großer Wahrscheinlichkeit gerade nicht durch
Mehrheitsbeschluss geschaffen worden. Das politische Bündnis hatte den
Charakter einer Sezession, einer Verschwörung gegen jede Fremdherrschaft – und
zwar auf ewig.“
Auch die moderne Demokratie, die nach dem
Prinzip „ein Mensch eine Stimme“, und „die einfache Mehrheit gibt den Ausschlag
und die Minderheit fügt sich“, sei aus liberaler Sicht kein verlässlicher
Garant der Freiheit für alle, weil schlimmstenfalls fast die Hälfte der
Beteiligten bzw. Betroffenen fremdbestimmt wird.
Das sei gemessen am liberalen Ziel einer
möglichst hohen Selbstbestimmung keine gute Lösung, denn gerade der Wert der
individuellen Selbstbestimmung wird oft von Mehrheiten unterschätzt.
Am
ehesten im amerikanischen Sprachgebrauch ist democracy der „Gegenbegriff zur
Willkürherrschaft und zum Totalitarismus“, „der mythisch überhöhte amerikanische
Traum von einer besseren Welt. Democracy meint in den USA eigentlich nichts
anderes als das Gegenteil von Tyrannei, Totalitarismus, Willkür- und
Gewaltherrschaft.“
Der
egalitäre Grundsatz „ein Mensch eine Stimme“ aber missachte die Tatsache, „dass
es bei allen Entscheiden sehr unterschiedliche Grade der Betroffenheit gibt.“
Je zentraler ein Entscheidungsprozess organisiert wird, desto unterschiedlicher
seien – so Nef - die räumlichen, sektoriellen und persönlichen Betroffenheiten
durch Vorzüge und Nachteile. Bei Aktiengesellschaften gelte deshalb nicht das
„Pro- Kopf-Prinzip“, sondern jenes Stimmengewicht, das der finanziellen
Beteiligung entspricht.
Dass
auch der Grundsatz „Je betroffener desto beteiligter“ als demokratisch bezeichnet
werden könne, wird oft übersehen. Er bilde die Brücke zum Prinzip des
Non-Zentralismus. Die Stimmen müssen nach diesem Prinzip nicht nur gezählt,
sondern je nach räumlicher und finanzieller Betroffenheit auch gewogen werden
können.
Demokratie
im Sinn des Mehrheitsprinzips muss also aus strikt liberaler Sicht durch Minderheitenschutz,
Kommunalautonomie, Wettbewerbs-Föderalismus, Non-Zentralismus
und klassische Freiheitsrechte, die sich gegen die Staatsmacht richten,
beschränkt sein.
Wenn
dies der Fall ist, und je mehr dies der Fall ist, desto eher könne die Demokratie
auch direkt sein. Alle Fragen, die sich durch Mehrheiten entscheiden lassen, würden
durch Volksmehrheiten ebenso gut (bzw. ebenso schlecht) beantwortet wie durch Parlamentsmehrheiten.
Direkte Demokratie und Parlamentarismus sind keine Alternative, sondern können
bzw. könnten optimal kombiniert werden.
Objektiv
betrachtet seien Selbstbestimmung und Mitbestimmung gleichwertige und
miteinander verbindbare Problemlösungsverfahren. Aus strikt liberaler Perspektive
gelte es jedoch, der Selbstbestimmung den Vorzug zu geben. Mitbestimmung sei
höchstens zweitrangig, weil vor allem originelle Menschen oft die Erfahrung
machen, zur Minderheit zu gehören und deswegen fremdbestimmt zu werden. Der
persönliche Autonomieverlust würde lediglich durch die Einsicht gemindert, dass
wenigstens eine Mehrheit in den Genuss jener Lösung kommt, welche sie selbst
gewählt hat.
„Aber
wie vergleicht und verrechnet man das relative Glücksgefühl der Mehrheiten mit
dem Unglücksgefühl der immer wieder überstimmten Minderheiten? Am meisten
„Glück“ gewährt aus liberaler Sicht wohl eine Gesellschaft, welche ein Maximum
an Selbstbestimmung ermöglicht, selbst wenn damit stets auch die Verantwortung
für die Folgen übernommen werden muss.“
Aus
diesem Grund sei es vorteilhafter, die gesellschaftssteuernden Normen in
Zukunft eher der Privatautonomie anzuvertrauen als der Demokratie im Sinn des
Mehrheitsprinzips, das allgemeinverbindliche Verhaltensweisen unabhängig von
ihrer Betroffenheit und Beteiligung kollektiv erzwingt.
Aus
liberaler Sicht nehme daher der Stellenwert der Verantwortungsethik in der
Politik zu, und ein allzu leichtfertiger und populistischer Umgang mit gesinnungsethischen
Postulaten wird zunehmend gefährlich.“
Demokratie
müsse sich deshalb auf wenige unveränderliche, allgemeinverbindliche und allgemeinverständliche
Prinzipien beschränken, wenn sie glaubwürdig, effizient und finanzierbar
bleiben will. Die Limitierung der Zuständigkeit des Staats zur Lösung von
Problemen schütze den Staat schließlich auch vor Überforderung und
Überschuldung und vor dem Verlust der Glaubwürdigkeit.
Die
Demokratie zerstöre sich selbst, wenn es nicht gelingt, ihre Zuständigkeit zu
limitieren. Eine „Demokratisierung sämtlicher Lebensbereiche“ führe dazu, dass
sich alle permanent darum kümmern müssen, das Verhalten der anderen durch
allgemeinverbindliche Vorschriften zunächst zu regulieren und dann zu vereinheitlichen
und zu kontrollieren. Dafür aber brauche es immer mächtigere und immer
zentralere politische Strukturen mit jeweiligem Zwangsmonopol. Der Spielraum für
Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung, Vielfalt und Spontanität wird dabei
immer kleiner.
Schon
Friedrich August von Hayek postulierte vor über 30 Jahren die „Entthronung der
Politik“: „Wenn die Sozialisten ehrlich glauben, dass (….) die Demokratie ein
höherer Wert sei als der Sozialismus, dann müssen sie eben auf ihren
Sozialismus verzichten. Denn wenn auch die heute bestehende Form der Demokratie
zu Sozialismus treibt, so sind sie im Ergebnis doch unvereinbar.
Politik
unter diesen Bedingungen führt uns in einen Abgrund. Es ist hohe Zeit, dass wir
ihr [der Politik] die Flügel beschneiden und Vorkehrungen treffen, die den
gemeinen Mann in die Lage versetzen, „Nein“ zu sagen.“
„Eine
unbeschränkte Demokratie zerstört sich notwendigerweise selbst, und die einzige
Beschränkung, die mit Demokratie vereinbar ist, ist die Beschränkung aller
Zwangsgewalt auf die Durchsetzung allgemeiner, für alle gleicher Regeln.“
Zitate
aus: Robert Nef: Direkte Demokratie und Liberalismus. Non-Zentralismus und Mehrheitsprinzip,
Position Liberal 108, Hg. Liberales Institut der Friedrich-Naumann-Stiftung für
die Freiheit, Berlin 2012 - Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, Bd. 2:
Dramen II, München 1985 (Carl Hanser Verlag)
- Hayek, Friedrich August von,
in: Überforderte Demokratie? Sozialwissenschaftliche Studien des
Schweizerischen Instituts für Auslandforschung Bd. 7, Zürich 1978, S. 29.f.
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