Donnerstag, 18. Juli 2013

Hannah Arendt und die Eroberung des Staates durch die Nation

Der völkische Nationalismus beruht, wie Hannah Arendt in ihrem Werk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1951) überzeugend dargestellt hat, auf der schlichten Behauptung, dass „das eigene Volk einzigartig und seine Existenz mit der gleichberechtigten Existenz anderer Völker unvereinbar sei.“

Diese Behauptung verbindet sich mit der Idee, „dass das eigene Volk von `einer Welt von Feinden umgeben´, in einer Situation des `einer gegen alle´ sich befindet, und dass es infolgedessen nur einen Unterschied in der Welt gibt, der zählt, den Unterschied zwischen einem selbst und allen anderen“ (482).

In diesem Kontext vertraten vor allem die Ideologen der Panbewegungen im 18. Jahrhundert die These vom göttlichen Ursprung der Völker. Demnach ist die „nationale Zugehörigkeit eine von Gott selbst geschaffene ewige Eigenschaft des Menschen.“ Wird eine solche Nationalität noch dazu als eine Auserwähltheit gedeutet, „so wird das gesamte Volk aus dem Verdikt nachprüfbarer Geschichte erlöst, da nun nichts, was ihm im Rahmen seiner geschichtlichen Realität widerfahren ist – Eroberung, Wanderungen, Zerstreuungen –, etwas an seiner geschichtlichen `Sendung´ ändern kann“ (496)

Ausgehend von dieser pseudotheologischen Prämisse tritt im völkischen Denken an die Stelle „der individualistisch verstandenen Menschenwürde“ nun die Vorstellung, „dass alle, die in dasselbe Volk geboren sind, auf eine naturhafte Weise miteinander verbunden sind und, ähnlich wie die Mitglieder der gleichen Familie, aufeinander sich verlassen können.“ Arendt gibt sogar zu, dass die mit solchen Vorstellungen verbundene Wärme und Sicherheit in der Tat sehr geeignet war, „die berechtigten Ängste moderner Menschen in dem Dschungel einer atomisierten Gesellschaft zu beschwichtigen, gerade weil diese Bewegung „durch Uniformierung und massenhafte Zusammenfassung von Menschen eine Art Ersatz für gesellschaftliche Heimat und Sicherheitsgefühl zu geben vermag“ (499).

Arendt lässt keinen Zweifel daran, dass die Frage, „ob Gott den Menschen oder die Völker schuf“, in der Tat für jede politische Philosophie von grundsätzlicher Bedeutung ist. Gleichwohl ist für sie klar, dass alle Völker „offenkundig das Resultat menschlicher Organisation“ sind (497).

Der Ruf nach "Deutschlands Wiedergeburt": Das Hambacher Fest (1832:)

So entstehen Arendt zufolge Nationen überall da, „wo Völker begannen, sich als geschichtliche und kulturelle Einheiten zu verstehen, die auf einem bestimmten, ihnen zugewiesenen Siedlungsgebiet beheimatet und verwurzelt sind, weil auf ihm die Geschichte ihre für alle sichtbaren Spuren hinterlassen hatte, so dass die Erde selbst, so wie sie in Feld und Acker und Landschaft von menschlicher Bestellung erzeugt wurde, auf die gemeinsame Arbeit der Vorfahren und das gemeinsame, an diesen Boden gebundene Schicksal der Nachfahren verwies“ (487).

Entscheidend ist für Arendt, dass der Nationalstaat seit den Tagen der Französischen Revolution den Anspruch vertrat, „das Volk im Ganzen zu repräsentieren“, so dass auf diese Weise zwei Faktoren, „nämlich nationale Zugehörigkeit und Staatsapparat, miteinander verschmolzen und im nationalen Denken miteinander identifiziert wurden.“ So bestand die höchste Funktion des Staates darin, den gesetzlichen Schutz „aller Einwohner des Territoriums ist, ohne Rücksicht auf deren nationale Zugehörigkeit“ (487f)

Für Arendt besteht die Tragödie des Nationalstaates darin, „dass das Nationalbewusstsein der Völker gerade mit dieser höchsten Funktion des Staates in Konflikt geriet, insofern als es im Namen des Volkswillens verlangte, dass nur diejenigen als vollgültige Bürger in den Staatsverband aufgenommen werden sollten, die durch Abstammung und Geburt dem als wesentlich homogen angenommenen Körper der Nation zugehörten.“

Dadurch wurde der Staat “aus einem gesetzgebundenen und Gesetzlichkeit schützenden Apparat zu einem Instrument der Nation. Die Nation setzte sich an die Stelle des Gesetzes“ (488).

Moderner völkischer Nationalismus in Katalonien

Auf dem Spiel steht nicht mehr und nicht weniger das politische Verständnis von Gleichheit der Menschen: Für Arendt sind „Menschen ungleich, was ihren menschlich-natürlichen Ursprung angeht, so wie die Völker sich wesentlich voneinander durch verschiedene Organisationen und geschichtliche Schicksale unterscheiden. Ihre Gleichheit ist nur eine Gleichberechtigung, und diese kann sich nur dort verwirklichen, wo Menschen sich so miteinander verständigen und einrichten, dass sie sich solche Gleichberechtigung garantieren“ (497).

Genau diese Gleichberechtigung bzw. ihre rechtliche Garantie durch die staatlichen Institutionen geht in der `Eroberung des Staates durch die Nation´ unwiderruflich verloren, weil „das einzig verbliebene Band zwischen den Bürgern eines Nationalstaates … nun das Nationale, die gemeinsame Abstammung“ war:

„In einem Jahrhundert, in dem jede Schicht der Bevölkerung von ihren partikularen Klassen- und Gruppeninteressen beherrscht war und Politik sich in der tat in dem Widerstreit solcher Interessen erschöpfte, erschien daher das gemeinsam nationale Interessen nirgends garantiert zu sein außer in der gemeinsamen Abstammung, dem der Nationalismus als eine bestimmte, allen Klassen und Gruppierungen gemeinsame Gesinnung entsprach“ (489).

Als die Nation schließlich den Staat erobert hatte, wurde offensichtlich, dass nationale Interessen allen Erwägungen juridischer Art überzuordnen waren, dass mit anderen Worten `Recht ist, was dem eigenen Volke nützt´. „Die Sprache des Mobs drückte hier wie auch sonst nur das in brutaler Offenheit aus, wovon die öffentliche Meinung ohnehin überzeugt war und dem die öffentliche Politik, wenn auch mit Zurückhaltung, ohnehin Rechnung trug“ (575)

Das Ergebnis dieses historischen Prozesses ist bekannt: „Sobald das immer prekäre Gleichgewicht zwischen Nation und Staat, zwischen Volkswillen und Gesetz, zwischen nationalem Interesse und legalen Institutionen verlorenging zugunsten einer immer chauvinistischer werdenden Nation und von Interessen, die oft nicht einmal mehr im wahren Interesse der Nation lagen, erfolgte die innere Zersetzung des Nationalstaates mit großer Geschwindigkeit, wobei man sich klar sein muss, dass Geschwindigkeit historisch nach Jahrzehnten und nicht nach Jahren oder Monaten zu berechnen ist. Und diese Zersetzung begann in genau dem historischen Augenblick, als zum ersten Mal das Recht zur nationalen Selbstbestimmung in ganz Europa anerkannt worden war. Dies hieß eben auch, dass der Vorrang des nationalen Volkswillens von allen legalen Institutionen und `abstrakten´ Maßstäben in ganz Europa akzeptiert worden war“ (575).

Selbstinszenierung des Völkischen Nationalismus: Lichtdom auf dem Reichsparteitag der NSdAP, "Parteitag der Ehre" (eröffnet am 8.9.1936 in Nürnberg)

Nachtrag vom 13.09.2013:
Für die Europäische Komission ist Katalonien nicht nur die korrupteste Region Spaniens, sondern nimmt unter den 172 Regionen Europas den 130. Rang ein. Wen wundert es?
  
Zitate aus: Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 2009 (piper), v.a. S. 482ff

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