Donnerstag, 6. Januar 2022

Tocqueville und die Demokratie in Amerika

Am 2. April 1831 machte sich Alexis de Tocqueville, ein französischer Adliger und Staatsbeamter, von Le Havre zu einer Reise in die Vereinigten Staaten auf. Offiziell bestand sein Auftrag darin, die amerikanischen Gefängnisse zu studieren, die damals in ganz Europa zum Vorbild für Justizreformen wurden. Der gerade einmal 26-jährige Tocqueville aber hatte noch etwas anderes im Sinn. Er wollte Demokratie und Gesellschaft in den USA umfassend studieren. So bereiste er neun Monate lang die Ostküste zwischen Boston und Washington, kam an die Grenzen der europäischen Besiedlung in Wisconsin und gelangte über den Mississippi bis nach New Orleans. Zurück in Frankreich, lieferte er pflichtgemäß seinen Gefängnisreport ab – und verarbeitete seine Eindrücke zu zwei Bänden «Über die Demokratie in Amerika», die 1835 und 1840 erschienen.

Alexis de Tocqueville (1805 - 1859)

„Wie viele andere europäische Besucher in dieser Zeit staunte Tocqueville über die Unterschiede zwischen Europa und Amerika. Obwohl sein eigenes Heimatland, Frankreich, seit der Revolution von 1789 unverkennbar im Aufbruch, in rapidem politischen und sozialen Wandel begriffen war, wogen die Traditionen dort schwer: eine immer noch sehr hierarchische Gesellschaft, die den Menschen eine klare Position zuwies; eine katholische Kirche als konservative Verbündete der Monarchie. In der amerikanischen Republik, so Tocquevilles faszinierter Eindruck, waren die Menschen auf ganz andere Weise frei und begegneten sich zudem, bei allen sozialen Unterschieden, in fundamentaler Gleichheit, sozusagen auf Augen-höhe und ohne die europäischen Regeln und Rituale von Rang und Unterwürfigkeit. Auch für die Französische Revolution war Freiheit und Gleichheit ein Begriffspaar, aber in Amerika schien beides auch praktisch, im Lebensalltag, zu konvergieren.“

Damit hatte Tocqueville ein zentrales Prinzip der modernen Demokratie formuliert – nicht aus der Perspektive der politischen Theorie, sondern aus eigener Anschauung: die gegenseitige Bedingtheit von politischer Freiheit und Gleichheit. 

Über die politische Gleichheit hinaus erschienen ihm aber auch die Unterschiede von Besitz und Status geringer als in Europa. Er begegnete keinem Geburtsadel und weniger krasser Armut und beschrieb auf diese Weise das Ideal einer Mittelklassengesellschaft, mit der die Demokratie als Regierungsform geradezu eine Symbiose eingehen konnte. Während in Europa oft ein selbstsüchtiger „Egoismus“ herrsche, zumal in den oberen Schichten, habe sich in Nordamerika ein neuer „Individualismus“ gebildet, der die Freiheit des Einzelnen mit seiner Orientierung auf eine Gemeinschaft und das Gemeinwohl verbinde. 

„Tocqueville bewunderte also einerseits Freiheit und Individualismus – den die Amerikaner andererseits einhegten, indem sie sich auf Institutionen verpflichteten, `die jeden einzelnen Bürger daran erinnern, dass er in Gesellschaft lebt´. Besonders hob er die Vielfalt der Vereine und Assoziationen hervor: den freiwilligen Zusammenschluss in Vereinen, Parteien, Reformbewegungen; nicht zuletzt auch in religiösen Gemeinschaften, die nicht Teil einer quasi-staatlichen Hierarchie, sondern der horizontalen Verbindung untereinander waren.“

Wahlen in den USA im 19. Jahrhundert


Manches von dem, was Tocqueville sah, erschien ihm fremd oder allzu extrem. Er befürchtete beispielsweise, dass Gleichheit und Abstimmungsdemokratie könnten in eine „Tyrannei der Mehrheit“ führen. 

Dennoch hat Tocqueville die amerikanischen Verhältnisse idealisiert. Das lag einerseits daran, dass seine Gesprächspartner, darunter auch der Präsident Andrew Jackson, überwiegend den Führungsschichten entstammten. Vor allem aber bekräftigte Tocqueville, obwohl er beeindruckend scharf die Verhältnisse analysierte, den Mythos, die Amerikaner seien bereits gleich und demokratisch „geboren“ worden. 

Heute wissen wir, dass erst viel später - während der Revolution und frühen Republik - alte Ungleichheiten und Abhängigkeiten abgeschafft wurden, vom Wahlzensus bis zu quasifeudalen Einrichtungen in der Landwirtschaft. So mochte Tocqueville den paradoxen Zusammenhang der Freiheit der weißen Siedler einerseits, der Versklavung der Schwarzen sowie der Vertreibung der Indianer andererseits nicht erkennen.

Dennoch bleibt sein Buch lesenswert, weil die historische Forschung viele der Diagnosen Tocquevilles bestätigt und natürlich verfeinert hat. Auch wenn man alle soziale Idealisierung abzieht: In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es in Europa keine freiere, gleichere und auch in einem fundamentalen Alltagssinne „modernere“ Gesellschaft als jedenfalls die Nordstaaten der USA. Das galt vor allem für die Rolle der Vereine und Zusammenschlüsse der Bürger in der amerikanischen Gesellschaft. 

„Vereine und Assoziationen erlebten tatsächlich zwischen 1830 und 1860 eine Blüte, häufig mit dem Ziel weiterer Liberalisierung, von politischen und sozialen Reformen. Religiöse Motive trieben die Mäßigungsbewegung gegen Alkoholkonsum an, aber auch die Abolitionisten, unter ihnen sehr viele Frauen, die vehement für die Abschaffung der Sklaverei in den Südstaaten kämpften und Fluchtwege organisierten.“

Tocqueville lag daher nicht falsch, wenn er dem Vereins- und Assoziationsleben eine besondere Bedeutung für die Demokratie beimaß. In Europa vollzog sich derselbe Trend, in mancher Hinsicht sogar noch schärfer, weil der Eintritt in das Zeitalter der liberalen „Assoziation“, also der freiwilligen Vereinigung, den Ausgang aus dem Zeitalter der „Korporation“ bedeutete, also aus jenen Bindungen, in die Menschen hineingeboren waren oder denen sie, ihrer sozialen Stellung nach, verpflichtend angehörten wie Handwerker einer Zunft. 

"Assoziation" statt "Korporation" - Deutsche Auswanderer in den USA


Heute werden diese Netzwerke der freiwilligen Organisation als unverzichtbaren „zivilgesellschaftlichen“ Teil der Demokratie beschrieben und die Abolitionisten würden wir eine „Advocacy“-Gruppe nennen.

Tocqueville verwendete bewusst den Begriff der «politischen Gesellschaft» und machte damit darauf aufmerksam, „dass sich Demokratie nicht nur in einer abgeschlossenen Sphäre der Politik vollzieht oder bloß eine Regierungsform, noch schärfer gesagt: eine Regierungstechnik darstellt. Sie lebt nicht nur `aus´ dem politischen Interesse einer Gesellschaft, sondern vollzieht sich in ihm.“

Gegen dieses Verständnis von Demokratie steht - in der Nachfolge Hegels – die Ansicht, „Staat“ und „Gesellschaft“ müssten voneinander getrennt werden, so dass der von der Bürokratie gelenkte Staat der bürgerlichen Gesellschaft - als ökono-mische, nicht als politische, geschweige denn demokratische Sphäre – gegenübergestellt werden könnte.

In Amerika sag Tocqueville, dass die Demokratie mit ihren Verästelungen sogar tiefer als nur in den Bereich der organisierten Gesellschaft mit ihren Vereinen, Kirchen, Reformgruppen reichte. Sie hatte angefangen, die „Sitten und Gebräuche“ zu prägen. „Wir würden heute sagen: Sie reichte über Politik in den Alltag hinein und prägte die Mentalitäten, die alltäglichen Umgangsformen, den Lebensstil. Die Ehrerbietung gegenüber Höherrangigen, beobachtete Tocqueville, zerbröselte. Auch ein Politiker, sogar der Präsident, konnte schonungslos und schärfstens kritisiert werden.“

Die politische Gleichheit strahlte auf andere Bereiche des Lebens aus, auf Erziehung und Bildung oder die Beziehungen der Geschlechter. Wenn bis heute Demokratie immer noch als ein „Lebensstil“ jenseits von Wahlen, Parlament und Regierung beschrieben werden kann, dann war Alexis de Tocqueville ein Urahn dieser Idee.

Zitate aus: Paul Nolte: Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart, München 2012 (C.H. Beck)


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