Donnerstag, 30. Juli 2020

Konrad Liessmann und die Veränderung des Menschen durch Bildung (Teil 1)


Vermutlich kennt jeder von uns das schöne bildungsbürgerliche Ideal vom gebildeten Menschen, der Goethe und Thomas Mann liest, der sich mit Kant beschäftigt und der sich also auskennt in ethischen Fragen. Durch diese Beschäftigungen wird man nicht nur selbst ein anderer, ein besserer Mensch, sondern kann die Welt gleich mit retten.

Es ist eine zentrale These moderner Bildungstheorien, dass sich Menschen und Gesellschaften durch Bildung verändern lassen. Mit dieser Ansicht setzt sich Konrad Liessmann in seinem Beitrag für die Reihe Wissen des SWR 2 kritisch auseinander, denn vielen gilt Bildung immer noch als jenes Instrumentarium, mit dem nicht nur die Menschen einen hochwertigen Arbeitsplatz und ihr individuelles Glück finden, sondern mit dem auch die drängenden sozialen, politischen und ökologischen Probleme unserer Zeit gelöst werden können.

Man kann mit guten Gründen von der anthropologischen Prämisse ausgehen, dass der Mensch nicht nur als unfertiges Wesen auf die Welt kommt, sondern auch als dasjenige Wesen, das sich eben nicht nur unter möglichst günstigen Bedingungen entfalten können soll, sondern das sich immer erst "bilden" muss.

Der Mensch, das unfertige Wesen, das sich erst "bilden" muss ...

Liessmann weist allerdings darauf hin, dass auch wenn sich die Rede von der Entfaltung in einer romantischen Pädagogik, die in jedem Neugeborenen ein Bündel von Talenten sehen will, das zum Blühen gebracht werden soll, großer Beliebtheit erfreut, sie damit jede Idee von Bildung letztlich sabotiert.

Dieses Verständnis von Bildung impliziert, dass es kein vorgegebenes Muster oder Programm gibt, das ein Mensch im Laufe seines Lebens erfüllen können soll, sondern dass der Mensch immer auch Resultat seines eigenen Tuns ist. Reduzierte man Bildung allerdings auf diese Notwendigkeit und bezeichnete alles, was Menschen im Laufe ihres Daseins tun und lassen, als Bildung, hieße das zwar, dass sich niemand in dieser Weise nicht selbst bilden könnte, „Bildung“ fiele aber zusammen mit "Leben". „Mit solch einer Prämisse verlöre der Begriff der Bildung seine Trennschärfe.“

Diese Tendenz ist vor allem in der modernen Pädagogik spürbar. Selbst diejenigen, die nicht lesen gelernt haben, gelten dann nicht als ungebildet, wenn sie in ihrem Leben andere Kompetenzen erworben haben, wie die Beherrschung der Grundfunktionen eines mittels Bildsymbolen steuerbaren Smartphones. Auf diese Weise kann letztlich alles ein Ausdruck von Bildung sein, nur wird dieser Begriff damit bedeutungslos. „Die Rede von Bildung und Selbstbildung ist nur dann attraktiv, wenn Bildung inhaltlich bestimmt und als Ziel, als Norm formuliert wird.“

Nicht alles, was uns beeinflusst und verändert, nicht alles, was wir lernen, bildet uns auch. Bildung muss von den vielen Faktoren, die das Leben des Menschen auch bestimmen können und die von den genetischen Dispositionen über die Zufälle der Geburt bis zu den Erfahrungen des Lebens reichen, unterschieden werden.

Bildung in diesem Sinne hieße, sich bewusst einem Prozess der Veränderung auszusetzen und nicht zu warten, was das Leben so aus uns macht. Nur unter der Voraussetzung, dass nicht jede Form, in der sich Menschen entwickeln, Bildung genannt werden kann, setzt die Rede von Bildung eine entscheidende Differenz: die zwischen "gebildet" und "nicht gebildet".

Gebildet - Ungebildet
Die mittlerweile zum Standardvokabular gehörenden Begriffe "bildungsnah" und "bildungsfern" sind ihrerseits höchst problematisch, da diese räumliche Metaphorik suggeriert, dass Bildung irgendwo platziert ist und man sich in mehr oder weniger großer Distanz dazu aufhalten kann. Diese Formulierungen unterschlagen allerdings die Anstrengung, die darin besteht, dass Bildung als Arbeit an sich selbst begriffen werden muss.

Zumindest wird der Begriff "bildungsnah" ja nicht synonym für den "Gebildeten" verwendet, sondern markiert eher die Möglichkeit, standardisierte Bildungs-karrieren mit den entsprechenden Zertifikaten aufgrund des Milieus, in das man hineingeboren wurde, ohne größere Probleme durchlaufen zu können.


Die Frage ist also, was das Konzept der "Selbstveränderung durch Bildung" tatsächlich bedeuten kann. Liessmann unterstellt dem Begriff der „Selbst-veränderung“ drei Bedeutungen, aus denen er schließlich sein Verständnis von Bildung ableitet:

„Erstens: Ich bin es, der sich in seinem Identitätsgefühl verändert, und dies aus freien Stücken; man könnte hier von Selbstbildungsautonomie sprechen. Ich möchte ein anderer werden.“

Selbstveränderung durch Bildung im Sinne eines autonomen Projekts des Subjekts geht davon aus, dass es so etwas wie die Einsicht in das Ungenügen, in die Defizite einer Ich-Identität geben kann und dann gezielt Bildung eingesetzt wird, um dieses Ungenügen, dieses Defizit zu beheben.

Das ist sicher möglich. Allerdings hält sich bei konventionellen Bildungsprozessen dieser Anspruch eher in Grenzen. Dahinter steht das Konzept einer Persönlichkeitsbildung, die vom idealtypischen Bild einer reifen Persönlichkeit und seinen Bildungsanstrengungen ausgeht, tatsächlich aber werden diese Bildungsanstrengungen selten unternommen, um das eigene Ich zu modifizieren.

Zwar ist es unbestritten, dass Menschen – sei es aus Neugier, Interesse oder Gründen der beruflichen Qualifikation – Dinge lernen und sich Wissen aneignen, was selbstverständlich auf die Entwicklung der Persönlichkeit einen Einfluss haben kann, die damit einhergehende Veränderung eines Ich ist allerdings nicht das vorrangige Ziel. Niemand lernt eine Sprache, liest einen Roman, studiert Astronomie, betreibt Mathematik, erwirbt Programmierkenntnisse, um sich primär in seiner Identität zu verändern. Das bedeutet natürlich nicht, dass man durch solche Bildungsprozesse nicht verändert wird – aber die Richtung und die Intensität sind dabei der Kontrolle des Subjekts weitgehend entzogen.

Persönlichkeitsbildung ist sicherlich ein wichtiges Nebenprodukt von Lernprozessen. Gleichzeitig weiß man aber auch, dass Identitäten konstruiert und deshalb veränderbar sind. In den Identitätsdebatten werden Veränderungen der eigenen Identität daher weniger als Folge von Bildungsprozessen beschrieben, sondern eher als Durchsetzung von Selbstkonzepten in einer diesen gegenüber skeptischen sozialen Umwelt beschrieben. Das betrifft religiöse, ethnische und kulturelle Identitäten ebenso wie die Frage der sexuellen Orientierung.

Mythos Selbstoptimierung

Ähnlich liegt der Fall bei dem jüngst diskutierten Modell der Selbstoptimierung. Natürlich hat Bildung sehr viel mit Gestaltung und der Arbeit an sich selbst zu tun. Bei der Selbstoptimierung geht es in der Regel allerdings darum, bestimmte Eigenschaften eines Menschen nach effizienztheoretisch bestimmten Para-metern zu verbessern, etwa das Aussehen, die körperliche Leistungsfähigkeit, die psychische Belastbarkeit, die Intelligenz, das Gedächtnis oder auch nur die Ernährungsgewohnheiten. Dies sind natürlich alles Maßnahmen, die das Ich nicht unberührt lassen, auch wenn dieses Ich dabei nicht im Fokus des Veränderungsprozesses steht.

Allerdings kommt es hier durchaus zu interessanten Überschneidungen zwischen Optimierungsziel und der Anwendung von Techniken aus der Welt der bildungsbürgerlichen Ideals, etwa wenn jemand seine Leistungsfähigkeit und Widerstandskraft durch psychotechnische Optimierungsmaßnahmen steigern will, zu denen etwa auch die Lektüre von Büchern wie „Rilke für Gestresste“ oder „Nietzsche für Manager“ gehört. Damit würde durch diese Strategien ein Anschluss an kanonische Bildungsgüter hergestellt werden, die nun als Werkzeuge der Optimierung dienen.

„Zweitens: Es ist mein Selbst, das durch Bildung verändert wird; dies setzt ein substanzielles "Selbst" voraus, das durch eine aktivierende und kontrollierende Ich- Instanz verändert werden kann: Bildung als Selbstsuche oder Selbstverwirklichung.“

Es kann nun aber sein, dass jemand nicht allein mit seinem Wissen, seinen Fähigkeiten oder seinem Ich-Gefühl, sondern mit seinem gesamten Selbst unzufrieden ist und es gezielt durch Bildung verändern möchte. Solch ein Mensch möchte sein Selbst überhaupt erst finden, herausfinden, wer er eigentlich ist, unter Umständen möchte er vielleicht sogar ein anderer Mensch werden. Die Gefahr ist groß, dass dieser Mensch in eine Situation gerät, die man das Kierkegaard-Paradoxon nennt.

Der dänische Philosoph hat dieses in seinem epochalen Buch „Die Krankheit zum Tode“ entwickelt. Er hat darin die These entfaltet, dass Identitätskrisen prinzipiell die Form der Verzweiflung zukommt. Auch wenn man glaubt, man verzweifelt an etwas – an einer Situation, an einem Schicksalsschlag, an einem Ereignis – verzweifelt man, so Kierkegaard, eigentlich immer an sich selbst. Man kann dabei diese prekäre Suche nach seinem Selbst in dreifacher Weise erfahren: Man kann "verzweifelt sich nicht bewusst sein, ein Selbst zu haben“, man kann „verzweifelt nicht man selbst sein wollen“ oder man kann „verzweifelt selbst sein wollen."

Kierkegaard demonstriert dies plastisch an einem herrschsüchtigen Menschen, der „entweder Caesar werden möchte oder gar nichts“. Wird dieser Herrschsüchtige nun nicht Caesar, dann verzweifelt er darüber – aber dies bedeutet, "dass er, eben weil er nicht Caesar geworden ist, es nun nicht aushalten kann, er selbst zu sein."

Der Verzweifelnde verzehrt sich selbst auf der Suche nach seinem Selbst. Und dies deshalb, weil das Selbst nichts ist, was man irgendwo finden und dann behalten könnte, sondern das Selbst ist eine dynamische Beziehung, keine Entität ist, die man irgendwo finden könnte, sondern eine dynamische Beziehung. Kierkegaard hat dies wunderbar formuliert: „Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält.“

Identitätsfindung im Modus der Verzweiflung

Wir bilden unser Selbst, indem wir uns zu uns selbst fragend, kritisch, liebend, ablehnend verhalten. Bildung nun kann unter diesen Gesichtspunkten nicht bedeuten, dass diese oder eine andere Form der Selbstveränderung gelingen könnte, ohne die Form der Verzweiflung anzunehmen, sondern Bildung hieße dann die Einsicht, dass Selbstveränderung in einem substanziellen Sinn ohne Verzweiflung, ohne Krisen nicht möglich ist. In diesem Sinne wäre Bildung weniger Motor der Selbstveränderung, als die Erkenntnis, dass die Melancholie die Begleiterin aller Formen der Identitätssuche sein wird.

(Fortsetzung folgt)


Zitate aus: Konrad Liessmann: Veränderung durch Bildung? Über eine rhetorische Figur, SWR2 Wissen: Aula, Sendung vom 10. Februar 2019

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