Donnerstag, 5. März 2015

Helmut Schmidt und die Frage der Sinnstiftung durch Politik

Helmut Schmidt (* 1918)
In seinem Buch „Ausser Dienst“ äußert sich der ehemalige Kanzler und große deutsche Sozialdemokrat Helmut Schmidt, in gewohnt deutlicher Weise zu zentralen Fragen unserer Zeit. Im letzten Kapitel seines Buches äußert sich Schmidt auch zu der Frage, ob die Aufgabe der Politik (oder der Politiker) auch darin bestünde, die Menschen glücklich zu machen oder ihnen einen Sinn für ihr Leben zu geben.

Der politische Wettbewerb verleite die Beteiligten oft zu Übertreibungen. Dies betrifft auch das Gebiet der Verkündung moralischer Prinzipien. So habe Helmut Kohl in der Zeit des Regierungswechsels Anfang der 80er Jahre von der Politik eine „geistige und moralische Führung“ verlangt und nach „der großen Vision“ gefragt.

Schmidt dagegen verwahrt sich „gegen den Anspruch, die Regierung habe eine für Volk und Gesellschaft sinnstiftende Instanz zu sein.“ Regierung und Parlament haben vielmehr die Aufgabe, „Freiheit zu sichern, Gerechtigkeit zu sichern, sich um Solidarität zu bemühen und (auch) darum, Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität erfahrbar zu machen.“

In einer Gesellschaft mit vielfältigen religiösen und philosophischen Grundüberzeugungen könne geistige und moralische Führung nur die Aufgabe von vielen sein, nicht aber der Regierung.“ Somit beruht „das geistige Leben eines Landes … auf `Vielfalt und Toleranz´“.

"Es ist nicht die Aufgabe des Bundeskanzlers,
für den Bürger den Sinn des Lebens zu stiften ..."

Schmidt habe in diesen Debatten eher auf der Seite des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizäckers gestanden, „der damals hervorhob, es sei nicht Aufgabe des Bundeskanzlers, für den Bürger den Sinn des Lebens zu stiften. Die geistige und moralische Grundlage unserer Gesellschaft liegt allein in den unveränderlichen Grundrechten des Grundgesetzes, insbesondere im Prinzip der Unantastbarkeit der Würde des Menschen, die im Artikel 1 verankert ist. Die Regierung darf Orientierung nur hier, nicht aber an anderen Orten und in anderen Gefilden suchen.“

Natürlich ginge von den politischen Parteien und von der politischen Klasse insgesamt auch so etwas wie „Führung“ aus, und natürlich dürfe eine Regierung auch moralische Anstöße geben. Ein gutes Beispiel dafür ist Willy Brandts Verständigungspolitik mit dem kommunistisch beherrschten Osten Europas und sein Kniefall im ehemaligen Warschauer Ghetto, in dem das Bekenntnis zur deutschen Schuld an der Vernichtung der Juden zum Ausdruck kam. Ein anderes gutes Beispiel dafür ist die Rede, die Richard von Weizsäcker als Bundespräsident anlässlich des 40. Jahrestages des Endes der nationalsozialistischen Diktatur vor dem Bundestag am 8. Mai 1985 hielt, denn sie verhalf vielen Deutschen endlich zu der Erkenntnis, daß der 8. Mai 1945 weniger eine Niederlage als vielmehr eine Befreiung der Deutschen gewesen ist.

Ikonische Demutsgeste: Der Kniefall von Warschau (7. Dezember 1970) 

In diesen beiden Fällen, so Schmidt, „gründete politisches Handeln im Bewußtsein von der Würde des Menschen. Brandt wie Weizsäcker haben in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz gehandelt, sie haben sich nicht auf christliche oder andere Werte berufen müssen, um aus der deutschen Geschichte Konsequenzen zu ziehen. Daß es beide Male nicht nur Zustimmung, sondern auch heftige Ablehnung gab, gehört zu den Selbstverständlichkeiten einer offenen Gesellschaft, in der wir es mit einer Vielfalt von Wertvorstellungen zu tun haben.“

Der Politiker stehe nicht einfach vor der abstrakten Notwendigkeit, seine Pflicht zu erfüllen. Er ist im Alltag immer wieder mit konkreten Streitfragen konfrontiert, mit widerstreitenden Interessen und komplexen, schwer zu durchschauenden Problemen. „Immer aufs neue geht es um die Antwort auf die gleichen Fragen: Was ist hier notwendig? Was ist gerecht? Was dient meinem Land? Was ist zweckmäßig? Was ist in dieser konkreten Lage meine Pflicht?“

In diesem Zusammenhang ist für Schmidt das eigene Gewissen grundlegend: “Jeder Politiker muß mit dem, was er tut und was er sagt, vor seinem Gewissen bestehen können. Für mich bleibt das eigene Gewissen die oberste Instanz.“ Auch das Grundgesetz lässt erstaunlich offen, was die Moral von uns verlange. Es spricht zwar in Artikel 2 vom `Sittengesetz´, gegen das keiner verstoßen darf; aber dessen Inhalt wird nicht einmal angedeutet. Eine gemeinsame moralische Grundlage aber ist ein unverzichtbares Element jeder Gesellschaft. Das Problem ist, dass Moral und Tugenden dem Menschen nicht angeboren sind, sondern er beides allein durch Erziehung lernt – durch Beispiel, Lob und Tadel. „Das `Sittengesetz´ scheint demnach nichts anderes zu sein als das im Laufe von Jahrtausenden erzielte Ergebnis dieser Erziehung zur Kultur.“

Grundrechte und Tugenden bilden zusammen die Grundwerte,
auf denen unsere demokratische Gesellschaft beruht.

Die Grundwerte, die für Schmidt wichtig sind, sind im im Godesberger Grundsatzprogramm der SPD von 1959 festgelegt. Dort wurden allein `Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität´ als Grundwerte bezeichnet. „Dabei ist Freiheit vornehmlich ein Grundrecht, Gerechtigkeit und Solidarität dagegen sind keine Rechte, sondern vornehmlich Tugenden. Allerdings haben wir in Godesberg weder einen vollständigen Katalog der Grundwerte oder der Tugenden postuliert, noch konnten und wollten wir `letzte Wahrheiten´ verkünden. Wohl aber haben wir ein bedeutendes und weithin sichtbares Zeichen gesetzt.“

Wichtig ist in diesem Fall das Bekenntnis Schmidts, daß jedermann Verantwortung trägt und daß jedermann moralische Pflichten hat. „Es ist deshalb notwendig, zu den Tugenden zu erziehen und an die Pflichten zu erinnern. Diese Notwendigkeit gilt gegenüber jedem politisch engagierten Staatsbürger, sie gilt besonders für den Politiker. Jeder, der Verantwortung für andere hat oder anstrebt, ist nicht nur für seine Ziele und Absichten verantwortlich, sondern ebenso für die Folgen seines Handelns und seines Unterlassens. Je mehr ein Mensch Macht hat über andere, je mehr Einfluß er auf andere und deren Leben ausübt – als Vater oder Mutter, als Vorgesetzter, als Lehrer oder Journalist, als Unternehmer, Manager oder Politiker–, desto schwerer lastet auf ihm die Verantwortung für das Gemeinwohl, um so schwerer wiegen seine Pflichten.“

Weil die Diktaturen, die es im 20. Jahrhundert auf deutschen Boden gab, das Pflichtbewußtsein auf gröbste Weise missbraucht haben, wollen bis heute viele Menschen nur etwas von ihren Rechten wissen. Pflichten dagegen wollten sie nur insoweit befolgen, wenn sie auf staatlicher Macht beruhen und mit der Macht der Gesetze durchgesetzt werden. „Tatsächlich sind unsere Rechte auf Dauer jedoch nicht gesichert, wenn nicht unser Pflichtbewußtsein hinzutritt. Keine Gesellschaft freier Bürger kann auf Dauer ohne die Tugenden der Bürger bestehen. Die Nation braucht nicht nur die Grundrechte, sondern ebenso die Tugenden. Beide zusammen bilden die Grundwerte, auf denen unsere demokratische Gesellschaft beruht.“ Wer also dazu beiträgt, die Tugenden im öffentlichen Bewußtsein zu halten und dort fest zu verankern, der leiste dem allgemeinen Wohl, der salus publica, einen notwendigen Dienst.

Karl Raimund Popper (1902 - 1994)
Im Anschluss an seine philosophischen und politischen Lehrmeister – dazu zählen Karl Popper, Max Weber, Immanuel Kant, Marc Aurel, aber auch Konfuzius – warnt Schmidt davor, einen Katalog der im demokratisch verfaßten Staat obligaten Tugenden aufzuschreiben.

Die beiden ehrwürdigen Tugendkataloge der christlichen Überlieferung beispielsweise verzeichnen weder den Willen zur Freiheit noch den Willen zum Frieden, nicht einmal den Willen zur Wahrhaftigkeit. „Ich halte es für einen gefährlichen Irrtum, die Gesinnungen der Freiheit, des Friedens und auch der Wahrhaftigkeit, die weder zu den theologischen noch zu den Kardinaltugenden gehören, deshalb abzuwerten. Ein Gleiches gilt für die Mißachtung der sogenannten Sekundärtugenden.“

Worauf es Schmidt ankommt, sind „Tugenden, die ich die `bürgerlichen´ Tugenden nenne: die Tugend des Verantwortungsbewußtseins, die Tugend der Vernunft und die Tugend der inneren Gelassenheit.“ Auch wenn Schmidt niemals besonders religiös war, ein Gebet des Amerikaners Reinhold Niebuhr hat ihm immer aus dem Herzen gesprochen: `Gib mir die Gelassenheit, die Dinge zu ertragen, die ich nicht ändern kann; gib mir den Mut, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann; gib mir die Weisheit, beides voneinander zu unterscheiden.´“

Zitate aus: Helmut Schmidt: Außer Dienst: Eine Bilanz, München 2008 (Siedler)

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