Dass Bürger mit einzelnen Maßnahmen oder mit
der gesamten Politik ihrer Regierung unzufrieden sind, ist eine alltägliche, in
allen Ländern der Welt zu beobachtende Gegebenheit.
Wenn Menschen also nach der Rechtfertigung
konkreter politischer Entscheidungen fragen oder gar den Sinn einer staatlichen
Ordnung überhaupt in Zweifel ziehen, dann geschieht das vor der schlichten
historischen Tatsache, dass politische Herrschaft einerseits der Gefahr der Korruption ausgesetzt ist, andererseits auch zu Zwecken der Unterdrückung benutzt werden
kann.
Legitimation politischer Herrschaft über den Gesellschaftsvertrag (Titelbild des "Leviathan" von Thomas Hobbes´ - 1651) |
In der Philosophie führen diese Gedanken
in das Zentrum des Legitimationsproblems
politischer Herrschaft. Neben den klassischen Legitimationsmodellen stellt sich heute vielerorts die Frage, ob
sich ein Staat seine Legitimation immer wieder durch die aktive Zustimmung
seiner Bürger bestätigen lassen muss – auch und gerade durch neue Formen der
Zivilgesellschaft, die meist unter dem Begriff „direkte Demokratie“ gehandelt
werden.
In seinem ZEIT-Artikel „Die wirklichere
Wirklichkeit. Auf dem Weg in eine Gesellschaft ohne Institutionen?“ (erschienen
im Mai 2000) hat der Literaturwissenschaftler, Journalist und Publizist Richard
Herzinger die westliche Demokratie mit ihrem Liberalismus, Individualismus und
den Institutionen der parlamentarischen und repräsentativen Demokratie
verteidigt. Im gleichen Zug kritisiert er Formen einer direkten, nicht durch
Institutionen vermittelten Demokratie, weil in ihnen – so seine durchaus
provokante These – vormoderne und autoritäre Vorstellungen einer
`Volksgemeinschaft´ zum Ausdruck kämen.
Herzinger geht davon aus, das „Direkte
Demokratie“ mittlerweile in der Politik zum Zauberwort aufgestiegen ist: „Mehr
Bürgerbeteiligung soll die Entfremdung der politischen Klasse vom obersten
Souverän, dem Volk, aufheben. Vorwahlen, Urabstimmungen, Volksentscheide sollen
den entscheidungsschwachen Politikern Beine machen, die parlamentarische
Kandidatenauswahl transparenter werden lassen und die Gesetzgebungsprozeduren
beschleunigen.“
Dabei ginge man davon aus, dass sich unser
Land im rasanten Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft die unflexible
politische Apparatur des institutionellen Parlamentarismus nicht mehr leisten
kann. Wenn dann aber gefragt würde, wer mit „Klüngelwirtschaft und
Selbstbedienungsmentalität der Volksvertreter und Parteifunktionäre“ aufräumen
solle, dass hieße es: "`Das Volk´ - `Der Bürger´ Denn der, so tönt es,
weiß am besten, was gut für alle ist. Und soll die politische Profikaste jetzt
unmittelbar anweisen, was sie zu tun oder zu lassen hat.“
Die Prämisse direkter Demokratie: "Systemfehler - Bitte neustarten!" |
Es scheint also, dass mittlerweile nicht nur linksutopische
Basisdemokraten oder rechte Populisten vereint nach der herrschaftsfreien
Demokratie rufen würden, sondern auch führende Vertreter der staatstragenden
Parteien.
Das Problem jedoch sei, dass die „Verwischung
der Grenzen zwischen institutionell getrennten Sphären“ nicht Öffentlichkeit
und damit die Transparenz der Macht fördere, sondern sie zerstöre. „Just aber,
da die Basisdemokraten das einzusehen beginnen, schlagen die alten Parteien
diese Erfahrung rhetorisch in den Wind.“
Gegenüber den „Segnungen der direkten
Demokratie skeptisch zu sein“ bedeutet in einem recht einfachen Sinne
zuzugestehen, dass es `das Volk´ als eine Einheit in Wirklichkeit gar nicht gibt,
„weder als unverdorbene authentische Substanz der Nation noch als unmündigen,
maßlosen `Pöbel´ oder als Summe konsumhöriger `Herdentiere´, wie es die
kulturpessimistischen Kritiker der Massengesellschaft des 20. Jahrhunderts an
die Wand gemalt haben.“ In der Tradition der liberalen Auffassung vom
Rechtsstaat existiert `das Volk´ dagegen
„nur als ein gedachtes Ganzes und nur im Augenblick des Wahlakts. In dieser
Situation bildet die Summe aller Wahlberechtigten ein ideelles Subjekt als
oberster Souverän.“
Wahlen |
Zwischen den Wahlen aber sei `das Volk´ ein fiktiver
Begriff, denn nun könne man nur `den
Bürgern´ sprechen mit all ihren gegensätzlichen Interessen und Bedürfnissen: „Individuen
also, die nicht mehr oder weniger prinzipienfest oder korrupt sind als die
Personen, die von ihnen in öffentliche Ämter gewählt werden.“
Gerade weil es einen unmittelbar
feststellbaren Willen des Volkes nicht gibt, „schaffen die Institutionen der
repräsentativen Demokratie öffentliche Räume, in denen sich die diffusen
Einzelinteressen und subjektive Meinungen zu objektivierbaren politischen
Argumenten umbilden können. Erst wo ein solcher Raum entsteht, kann in Umrissen
so etwas wie ein Gesamtwille sichtbar werden.“
Herzinger lässt hier keinen Zweifel: Nicht
die repräsentativen Institutionen seien eine Abstraktion vom konkreten Willen
des Volkes, sondern umgekehrt: Erst die institutionalisierte Demokratie
verwandelt die Abstraktion `Volk´ in ein sichtbares, der Überprüfung
unterworfenes Gebilde.
Sicher, wo immer plebiszitäre Formen die
Räume verstärken und vergrößern können, in denen sich die Einzelnen im eigenen
Namen artikulieren können, mögen sie willkommen sein. „Der Glaube aber, die
unmittelbare Artikulation von Überzeugungen könnte politische
Entscheidungsprozeduren beschleunigen oder gar ersetzen, ist naiv. In diesem
Glauben spricht sich die Illusion aus, Beschlussbeschleunigung bedeute
automatisch auch Verfahrensbeschleunigung.“
Für Herzinger wird diese Täuschung durch die neuen
technischen Möglichkeiten, über die jeder Einzelne heute verfügt, noch verstärkt.
Die neuesten Verheißungen von Internet-Demokratie und Kampagnen in Sozialen
Netzen bleibt letztlich eine Illusion. „Nehmen wir an, es wäre möglich, über
alle großen politischen Fragen unverzüglich übers Netz abzustimmen. Dann müsste
konsequenterweise auch die potenzielle Möglichkeit für alle gegeben sein, sich
über das gleiche Medium schon im Vorfeld in die Diskussion um die Formulierung
von Entscheidungsvorlagen und in die Umsetzungsprozeduren gefasster Beschlüsse
einzuschalten. Das würde die Komplexität von kollektiven politischen
Willensbildungsprozessen ins Ungeahnte steigern und sie keineswegs
vereinfachen.“
Die Konsequenz aus diesen Überlegungen ist
überraschend einfach: Politik müsse sich wieder schärfer als das Feld eines
geregelten öffentlichen Wettbewerbs der Ideen und Handlungsvorschläge ins Spiel
bringen. Dabei ginge es weder um „das zwanghafte Streben nach `Glaubwürdigkeit´“
noch um „die Beteuerung, es handele sich bei Politik um eine simple
Angelegenheit des gesunden Menschenverstands.“
Vielmehr müsse es in der Politik wieder mehr
darauf ankommen, dass auf die argumentative Überzeugungskraft öffentlicher
Personen und Zusammenschlüsse gesetzt wird, „die es wagen, sich für fehlbare,
aber gleichwohl deutlich formulierte Zielvorstellungen in den komplizierten,
endlosen Konflikt der Interessen und Werte zu begeben, der eine offene Gesellschaft prägt.“
Zitate
aus: Richard Herzinger: Die wirklichere Wirklichkeit. Auf dem Weg in eine
Gesellschaft ohne Institutionen?, in: Die Zeit, 18. Mai 2000
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen