Donnerstag, 4. Juli 2013

Richard Herzinger und die Illusion einer direkten Demokratie

Dass Bürger mit einzelnen Maßnahmen oder mit der gesamten Politik ihrer Regierung unzufrieden sind, ist eine alltägliche, in allen Ländern der Welt zu beobachtende Gegebenheit.

Wenn Menschen also nach der Rechtfertigung konkreter politischer Entscheidungen fragen oder gar den Sinn einer staatlichen Ordnung überhaupt in Zweifel ziehen, dann geschieht das vor der schlichten historischen Tatsache, dass politische Herrschaft einerseits der Gefahr der Korruption ausgesetzt ist, andererseits auch zu Zwecken der Unterdrückung benutzt werden kann. 
  
Legitimation politischer Herrschaft über den Gesellschaftsvertrag
(Titelbild des "Leviathan" von Thomas Hobbes´ - 1651)

In der Philosophie führen diese Gedanken in  das Zentrum des Legitimationsproblems politischer Herrschaft. Neben den klassischen Legitimationsmodellen stellt sich heute vielerorts die Frage, ob sich ein Staat seine Legitimation immer wieder durch die aktive Zustimmung seiner Bürger bestätigen lassen muss – auch und gerade durch neue Formen der Zivilgesellschaft, die meist unter dem Begriff „direkte Demokratie“ gehandelt werden.

In seinem ZEIT-Artikel „Die wirklichere Wirklichkeit. Auf dem Weg in eine Gesellschaft ohne Institutionen?“ (erschienen im Mai 2000) hat der Literaturwissenschaftler, Journalist und Publizist Richard Herzinger die westliche Demokratie mit ihrem Liberalismus, Individualismus und den Institutionen der parlamentarischen und repräsentativen Demokratie verteidigt. Im gleichen Zug kritisiert er Formen einer direkten, nicht durch Institutionen vermittelten Demokratie, weil in ihnen – so seine durchaus provokante These – vormoderne und autoritäre Vorstellungen einer `Volksgemeinschaft´ zum Ausdruck kämen.

Herzinger geht davon aus, das „Direkte Demokratie“ mittlerweile in der Politik zum Zauberwort aufgestiegen ist: „Mehr Bürgerbeteiligung soll die Entfremdung der politischen Klasse vom obersten Souverän, dem Volk, aufheben. Vorwahlen, Urabstimmungen, Volksentscheide sollen den entscheidungsschwachen Politikern Beine machen, die parlamentarische Kandidatenauswahl transparenter werden lassen und die Gesetzgebungsprozeduren beschleunigen.“

Dabei ginge man davon aus, dass sich unser Land im rasanten Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft die unflexible politische Apparatur des institutionellen Parlamentarismus nicht mehr leisten kann. Wenn dann aber gefragt würde, wer mit „Klüngelwirtschaft und Selbstbedienungsmentalität der Volksvertreter und Parteifunktionäre“ aufräumen solle, dass hieße es: "`Das Volk´ - `Der Bürger´ Denn der, so tönt es, weiß am besten, was gut für alle ist. Und soll die politische Profikaste jetzt unmittelbar anweisen, was sie zu tun oder zu lassen hat.“

Die Prämisse direkter Demokratie: "Systemfehler - Bitte neustarten!"

Es scheint also, dass mittlerweile nicht nur linksutopische Basisdemokraten oder rechte Populisten vereint nach der herrschaftsfreien Demokratie rufen würden, sondern auch führende Vertreter der staatstragenden Parteien.

Das Problem jedoch sei, dass die „Verwischung der Grenzen zwischen institutionell getrennten Sphären“ nicht Öffentlichkeit und damit die Transparenz der Macht fördere, sondern sie zerstöre. „Just aber, da die Basisdemokraten das einzusehen beginnen, schlagen die alten Parteien diese Erfahrung rhetorisch in den Wind.“

Gegenüber den „Segnungen der direkten Demokratie skeptisch zu sein“ bedeutet in einem recht einfachen Sinne zuzugestehen, dass es `das Volk´ als eine Einheit in Wirklichkeit gar nicht gibt, „weder als unverdorbene authentische Substanz der Nation noch als unmündigen, maßlosen `Pöbel´ oder als Summe konsumhöriger `Herdentiere´, wie es die kulturpessimistischen Kritiker der Massengesellschaft des 20. Jahrhunderts an die Wand gemalt haben.“ In der Tradition der liberalen Auffassung vom Rechtsstaat  existiert `das Volk´ dagegen „nur als ein gedachtes Ganzes und nur im Augenblick des Wahlakts. In dieser Situation bildet die Summe aller Wahlberechtigten ein ideelles Subjekt als oberster Souverän.“

Wahlen

Zwischen den Wahlen aber sei `das Volk´ ein fiktiver Begriff, denn nun  könne man nur `den Bürgern´ sprechen mit all ihren gegensätzlichen Interessen und Bedürfnissen: „Individuen also, die nicht mehr oder weniger prinzipienfest oder korrupt sind als die Personen, die von ihnen in öffentliche Ämter gewählt werden.“

Gerade weil es einen unmittelbar feststellbaren Willen des Volkes nicht gibt, „schaffen die Institutionen der repräsentativen Demokratie öffentliche Räume, in denen sich die diffusen Einzelinteressen und subjektive Meinungen zu objektivierbaren politischen Argumenten umbilden können. Erst wo ein solcher Raum entsteht, kann in Umrissen so etwas wie ein Gesamtwille sichtbar werden.“

Herzinger lässt hier keinen Zweifel: Nicht die repräsentativen Institutionen seien eine Abstraktion vom konkreten Willen des Volkes, sondern umgekehrt: Erst die institutionalisierte Demokratie verwandelt die Abstraktion `Volk´ in ein sichtbares, der Überprüfung unterworfenes Gebilde.

Sicher, wo immer plebiszitäre Formen die Räume verstärken und vergrößern können, in denen sich die Einzelnen im eigenen Namen artikulieren können, mögen sie willkommen sein. „Der Glaube aber, die unmittelbare Artikulation von Überzeugungen könnte politische Entscheidungsprozeduren beschleunigen oder gar ersetzen, ist naiv. In diesem Glauben spricht sich die Illusion aus, Beschlussbeschleunigung bedeute automatisch auch Verfahrensbeschleunigung.“

Abstimmungsverhalten bei der spanischen Bewegung "15-M": "Hände hoch!!!"

Für Herzinger wird diese Täuschung durch die neuen technischen Möglichkeiten, über die jeder Einzelne heute verfügt, noch verstärkt. Die neuesten Verheißungen von Internet-Demokratie und Kampagnen in Sozialen Netzen bleibt letztlich eine Illusion. „Nehmen wir an, es wäre möglich, über alle großen politischen Fragen unverzüglich übers Netz abzustimmen. Dann müsste konsequenterweise auch die potenzielle Möglichkeit für alle gegeben sein, sich über das gleiche Medium schon im Vorfeld in die Diskussion um die Formulierung von Entscheidungsvorlagen und in die Umsetzungsprozeduren gefasster Beschlüsse einzuschalten. Das würde die Komplexität von kollektiven politischen Willensbildungsprozessen ins Ungeahnte steigern und sie keineswegs vereinfachen.“

Die Konsequenz aus diesen Überlegungen ist überraschend einfach: Politik müsse sich wieder schärfer als das Feld eines geregelten öffentlichen Wettbewerbs der Ideen und Handlungsvorschläge ins Spiel bringen. Dabei ginge es weder um „das zwanghafte Streben nach `Glaubwürdigkeit´“ noch um „die Beteuerung, es handele sich bei Politik um eine simple Angelegenheit des gesunden Menschenverstands.“

Vielmehr müsse es in der Politik wieder mehr darauf ankommen, dass auf die argumentative Überzeugungskraft öffentlicher Personen und Zusammenschlüsse gesetzt wird, „die es wagen, sich für fehlbare, aber gleichwohl deutlich formulierte Zielvorstellungen in den komplizierten, endlosen Konflikt der Interessen und Werte zu begeben, der eine offene Gesellschaft prägt.“

Zitate aus: Richard Herzinger: Die wirklichere Wirklichkeit. Auf dem Weg in eine Gesellschaft ohne Institutionen?, in: Die Zeit, 18. Mai 2000 

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