Jürgen Habermas (2008) |
Jürgen Habermas gehört zu den wenigen
deutschsprachigen Denkern der Gegenwart, die auch international die Diskussion über
Politik mitbestimmen. Bereits in seinen frühen Werken „Strukturwandel der
Öffentlichkeit“ (1962), „Theorie und Praxis“ (1963) und „Erkenntnis und
Interesse“ (1968) wehrte sich Habermas gegen jedweden Versuch, die Vernunft auf
eine wertfreie Erkenntnis oder auf technische Machbarkeit zu verkürzen. Gegen
die gesellschaftlichen Sachzwänge hält Habermas an der Tradition der Aufklärung
fest, dass Vernunft das leitende Prinzip der Philosophie und des menschlichen
Handelns sein muss.
Das Ziel einer Gesellschaft besteht demnach
darin, die gegenseitigen Ansprüche und Interessen durch rationales
Argumentieren im Diskurs zu vermitteln. Diesen Gedanken entwickelt Habermas
schließlich in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ (1981), nach der die Vernunft
als „kommunikative Rationalität“ im gesellschaftlichen Dasein des Menschen
verankert ist. Danach ist Vernunft ein sozialer Prozess, in dem durch Austausch
von Argumenten ein Konsens gesucht wird – was nicht nur für Fragen der Wissenschaft
gilt, sondern auch für Probleme der Ethik und Politik.
Eines dieser Probleme ist Habermas zufolge die
Frage nach dem Legitimitätsanspruch des Rechtsstaates und der damit
zusammenhängenden Frage der Zulässigkeit des zivilen Ungehorsams.
Habermas geht zunächst von einem „ungewöhnlich
hohen Legitimationsanspruch“ des Rechtsstaates aus: „Er mutet seinen Bürgern
zu, die Rechtsordnung nicht aus Furcht vor Strafe, sondern aus freien Stücken
anzuerkennen.“ Die Treue zum Gesetz solle sich demnach aus einer einsichtigen
und darum freiwilligen Anerkennung des normativen Anspruches auf Gerechtigkeit
ergeben, den jede Rechtsordnung erhebt. Diese Anerkennung stütze sich
normalerweise darauf, dass ein Gesetz von den verfassungsmäßigen Organen
beraten, beschlossen und verabschiedet worden ist.
Der Rechtsstaat: Zwischen Legalität und Legitimität |
„Damit erlangt das Gesetz positive Geltung
und legt fest, was in seinem Geltungsbereich als legales Verfahren zählt. Das
nennen wir Legitimation durch Verfahren.“
Natürlich enthält dieses Vorgehen noch keine
Antwort auf die Frage, warum das legitimierende Verfahren selbst, also das
Tätigsein der verfassungsmäßigen Institutionen, warum also die Rechtsordnung
als Ganzes legitim sei. Die Verfassung eines Staates, so fordert Habermas, muss
also „aus Prinzipien gerechtfertigt werden können, deren Gültigkeit nicht davon
abhängig sein darf, ob das positive Recht mit ihnen übereinstimmt oder nicht.“
Daher kann ein moderner Rechts- und
Verfassungsstaat nur dann von seinen Bürgern Gesetzesgehorsam verlangen, wenn
er sich auf anerkennungswürdige Prinzipien stützen kann, die das, was legal
ist, auch als legitim rechtfertigen.
Die Unterscheidung von Legalität und Legitimität
setzt also die Existenz von Verfassungsprinzipien voraus, die nicht nur gut
begründet sind sondern auch Anerkennung verdienen. Dennoch bleibt die Frage
bestehen, wie solche Grundnormen, „beispielsweise die Grundrechte, die Garantie
der Rechtswege, die Volkssouveränität, die Gleichheit vor dem Gesetz, das
Sozialstaatsprinzip usw.“ gerechtfertigt werden können.
Im Anschluss an das insbesondere von Kant
propagierte Vernunftrecht folgt auch Habermas dem Argument, dass nur solche Normen
und Prinzipien gerechtfertigt sind, „die ein verallgemeinerungsfähiges
Interesse zum Ausdruck bringen und daher die wohlerwogene Zustimmung aller
Betroffenen finden können.“ Daher wird diese Zustimmung auch an eine „Prozedur
vernünftiger Willensbildung“ gebunden. Daraus folgt: „Ein demokratischer Staat
kann, weil er seine Legitimität nicht auch schiere Legalität gründet, von
seinen Bürgern keinen unbedingten, sondern nur einen qualifizierten
Rechtsgehorsam fordern.“
Vor dem Hintergrund dieser Prämissen wird
verständlich, dass auch ziviler Ungehorsam „nur unter den Bedingungen eines im
Ganzen intakten Rechtsstaates“ auftreten kann. Allerdings dürfe der
Regelverletzer seine „plebiszitäre Rolle des unmittelbar souverän auftretenden
Staatsbürgers nur in den Grenzen des Appells an die jeweilige Mehrheit übernehmen“,
denn „im Unterschied zum Resistance-Kämpfer erkennt er die demokratische Legalität
der bestehenden Ordnung an.“
Die Möglichkeit und Rechtsmäßigkeit zivilen
Ungehorsam entsteht schlicht aus der Beobachtung, dass auch im demokratischen
Rechtsstaat legale Regelungen illegitim sein können – gleichwohl nicht „nach Maßgabe irgendeiner Privatmoral,
eines Sonderrechts oder einen privilegierten Zugangs zur Wahrheit“, sondern
allein auf der Grundlage „der für alle Bürger einsichtigen moralischen
Prinzipien, auf die der moderne Verfassungsstaat die Erwartung gründet, von
seinen Bürgern aus freien Stücken anerkannt zu werden.“
Antigone beerdigt ihren Bruder Polyneikes |
In Sophokles’ Tragödie Antigone wird diese Argumentation
sehr gut sichtbar. Antigone beerdigt ihren Bruder Polyneikes entgegen dem
Befehl des Königs Kreon, ihres Onkels. Antigone, die sich in ihrem Akt
gewaltfrei einem höheren Recht verpflichtet fühlt, übt hier also eindeutig zivilen
Ungehorsam:
Kreon: „Und du
brachtest es über dich, dieses Gesetz zu übertreten?"
Antigone: „Nicht Zeus
hat mir dies verkünden lassen
noch die Mitbewohnerin
bei den unteren Göttern, Dike,
die beide dieses
Gesetz unter den Menschen bestimmt haben,
und ich glaubte auch
nicht, das so stark seien deine
Erlasse, dass die
ungeschriebenen und gültigen
Gesetze der Götter
ein Sterblicher übertreten könnte.
Denn nun nicht jetzt
und gestern, sondern irgendwie immer
Lebt das, und keiner
weiß, wann es erschien."
Habermas geht also auch davon aus, dass die
Verwirklichung anspruchsvoller Verfassungsgrundsätze mit universalistischem
Gehalt „ein langfristig, historisch keineswegs gradlinig verlaufender, vielmehr
von Irrtümern, Widerständen und Niederlagen gekennzeichneter Prozess ist.“ Wer
wolle also behaupten, dass diese (Lern-)Prozesse heute abgeschlossen sind?
Auch der Rechtsstaat im Ganzen ist längst
noch nicht ein fertiges Gebilde, sondern Habermas sieht ihn „als ein
anfälliges, irritierbares Unternehmen, das darauf angelegt ist, unter wechselnden
Umständen eine legitime Rechtsordnung, sei es herzustellen oder
aufrechtzuerhalten, zu erneuern oder zu erweitern.“
So seien auch die Verfassungsorgane selbst –
gerade weil dieses Projekt unabgeschlossen ist – von dieser „Irritierbarkeit“
keineswegs ausgenommen.
Zitate
aus: Jürgen Habermas: Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt 1985 (Suhrkamp) - Weitere
Literatur: Sophokles: Antigone, Stuttgart 1981
(Reclam), hier: 449–461.
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