Auch
wenn Amartya Sen in seinem Buch „Die Idee der Gerechtigkeit“ seine Gerechtigkeitsgrundsätze nicht im Hinblick auf
Institutionen, sondern im Hinblick auf das Leben und die Freiheiten der
betroffenen Menschen definiert, so leugnet er damit nicht, dass Institutionen
natürlich und zwangsläufig für die Förderung von Gerechtigkeit eine wichtige
Rolle spielen.
So
können Institutionen „unmittelbar dazu beitragen, dass Menschen in der Lage
sind, ihr Leben im Einklang mit den Werten zu führen, die sie mit Grund
hochschätzen. Institutionen können Möglichkeiten zu öffentlicher Diskussion
bieten und unterstützen damit unsere Fähigkeit zur kritischen Prüfung der Werte
und Prioritäten, die wir in Erwägung ziehen“ (13).
Diese
Gedanken führen Sen zwangsläufig zu seiner Definition des Demokratiebegriffes:
„In diesem Buch wird Demokratie am öffentlichen Vernunftgebrauch gemessen, das
heißt, als „Regierung durch Diskussion“ verstanden (eine Vorstellung, die John Stuart Mill sehr gefördert hat)“ (ebd.).
Interaktive Diskussion - ein wesentliches Merkmal von Demokratie |
Mit
dem von John Rawls stammenden
Begriff des „the exercise of public reasoning“ geht Sens Verständnis von
Demokratie weit über die eher formale Anschauung hinaus, dass Demokratie
hauptsächlich durch freie Wahlen und Abstimmungen charakterisiert werde,
Sen
dagegen fasst „Demokratie“ weiter, und zwar gleichermaßen als Fähigkeit,
durchdachtes Engagement der Bürger zu fördern, „indem sie für mehr
Informationen sorgt und interaktive Diskussionen möglich macht. Demokratie ist
nicht nur anhand formal existierender Institutionen zu beurteilen, sondern ihr
Maß ist die Vielfalt der Stimmen aus unterschiedlichen Bereichen, die
tatsächlich gehört werden können“ (ebd.). Selbstverständlich ist hier das Vorhandensein von (selbst-)kritischen und investigativen Medien grundlegend.
Sen
beruft sich in seinen Ausführungen auch auf Habermas, der wohl wie kein anderer
moderner Philosoph den prozeduralen Charakter der Demokratie als offenen, nicht
abgeschlossenen Prozess hervorgehoben hat. Vor allem ist es sein Verdienst
darauf hingewiesen zu haben, „dass es im politischen Diskurs um `moralische
Fragen der Gerechtigkeit´ sowie um `instrumentelle Fragen der Ausübung von
Macht und Zwang´ geht“ (351).
Die
Diskussion um den Begriff der Gerechtigkeit in den letzten 50 Jahren habe viel
dazu beigetragen, „dass politische Mitbestimmung, Dialoge und öffentliche
Interaktion allgemein als zentral für ein umfassenderes Verständnis von
Demokratie gelten“ (352). Wenn also die Forderungen der Gerechtigkeit nur durch
den Einsatz der öffentlichen Vernunft eingeschätzt werden können und wenn der
öffentliche Vernunftgebrauch grundlegend mit der Idee der Gerechtigkeit
verbunden ist, dann haben Gerechtigkeit und Demokratie gemeinsame diskursive
Merkmale und stehen in engem Zusammenhang.
Gleichwohl
gibt Sen zu, dass sich bis heute gegen die Vorstellung von Demokratie als
„Regierung durch Diskussion“ so manche Denker zur Wehr setzen. In einer
aufschlussreichen Fußnote erwähnt Sen ein Zitat des englischen Premierministers
und Mitgliedes der Labour-Partei, Clemens Attlee, aus einer Rede, die dieser im
Juni 1957 in Oxford hielt. Er sagte: „Demokratie bedeutet Regierung durch
Diskussion, aber das funktioniert nur, wenn man die Leute auch wieder zum
Schweigen bringen kann“ (350). Ein rigides, an Organisationen orientiertes
Konzept vertrete beispielsweise auch Samuel Huntington, den Sen mit den Worten
zitiert: „Wahlen, offene, freie und faire Wahlen sind die Essenz der
Demokratie, ihr unausweichliches sine que non“ (352).
Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie verboten ! ? |
Natürlich
leugnet Sen nicht die Bedeutung von Abstimmungen und Wahlen, die
selbstverständlich auch für die Effektivität des öffentlichen Gebrauches der
Vernunft zwar wichtig, aber eben nicht das Einzige sind, auf das es ankomme.
Die Effektivität von Wahlen hänge vielmehr „entscheidend von Begleitumständen
ab, zum Beispiel davon, ob Redefreiheit, Zugang zu Informationen und Freiheit
zu abweichenden Meinungen gegeben sind. Wahlen für sich genommen können sehr
inadäquat sein, wie die verblüffenden Wahlsiege von diktatorischen Amtsinhabern
in autoritären Regimes in der Vergangenheit wie heute zeigen“ (353).
Bis
heute hätten viele Diktatoren auf der Welt gigantische Wahlsiege erreicht, ohne
bei der Wahl selbst offenen Zwang auszuüben, sie mussten nur öffentliche
Diskussionen und Informationsfreiheit unterdrücken und ein Klima der Angst
schaffen.
Dagegen
ist es hilfereich, sich immer wieder der vorhandenen Traditionen partizipatorischer
Regierungsformen zu erinnern, die es in verschiedenen Epochen und Ländern
gegeben hat. Von besonderer Bedeutung ist auch hier das klassische Griechenland: „Sein Beitrag zur Form und zum Verständnis des Inhalts von
Demokratie kann nicht genug betont werden“ (355). Hier sei besonders zu
wichtig, zu verstehen, dass „die Athenische Demokratie nicht nur auf Abstimmungen,
sondern auch auf freie öffentliche Diskussionen angewiesen war, um Erfolg zu
haben“ (ebd.), und dass Abstimmungsverfahren zwar mit Sicherheit in
Griechenland begannen und dort stark ausgeprägt waren, die öffentliche
Diskussionen eine viel größere Bedeutung besaß.
Die Pnyx mit Rednertribüne, in klassischer Zeit Ort der attischen Volksversammlung |
Das
ist das Erbe Athens, das gleichermaßen zeitlos gültig und stets brennend
aktuell bleiben wird, weil an dieser Stelle einem Kulturseparatismus der Kampf
angesagt wird, der leugnet, dass die Demokratie ein universeller Wert sei, den
es gegen jede Form der Tyrannei zu verteidigen gelte.
Zitate
aus: Amartya Sen: Die Idee der Gerechtigkeit, München 2010 (C.H. Beck) -- John
Rawls: Eine Theorie derGerechtigkeit, Frankfurt am Main 2003 (Suhrkamp) - Jürgen
Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt 1981 (Suhrkamp) -- ders.: Strukturwandel der Öffentlichkeit,
Frankfurt 1990 (Suhrkamp) – ders.:
Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt 1983 (Suhrkamp)
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