Donnerstag, 1. November 2012

Amartya Sen und die Demokratie

Auch wenn Amartya Sen in seinem Buch „Die Idee der Gerechtigkeit“ seine Gerechtigkeitsgrundsätze nicht im Hinblick auf Institutionen, sondern im Hinblick auf das Leben und die Freiheiten der betroffenen Menschen definiert, so leugnet er damit nicht, dass Institutionen natürlich und zwangsläufig für die Förderung von Gerechtigkeit eine wichtige Rolle spielen.

So können Institutionen „unmittelbar dazu beitragen, dass Menschen in der Lage sind, ihr Leben im Einklang mit den Werten zu führen, die sie mit Grund hochschätzen. Institutionen können Möglichkeiten zu öffentlicher Diskussion bieten und unterstützen damit unsere Fähigkeit zur kritischen Prüfung der Werte und Prioritäten, die wir in Erwägung ziehen“ (13).

Diese Gedanken führen Sen zwangsläufig zu seiner Definition des Demokratiebegriffes: „In diesem Buch wird Demokratie am öffentlichen Vernunftgebrauch gemessen, das heißt, als „Regierung durch Diskussion“ verstanden (eine Vorstellung, die John Stuart Mill sehr gefördert hat)“ (ebd.).


Interaktive Diskussion - ein wesentliches Merkmal von Demokratie

Mit dem von John Rawls stammenden Begriff des „the exercise of public reasoning“ geht Sens Verständnis von Demokratie weit über die eher formale Anschauung hinaus, dass Demokratie hauptsächlich durch freie Wahlen und Abstimmungen charakterisiert werde,

Sen dagegen fasst „Demokratie“ weiter, und zwar gleichermaßen als Fähigkeit, durchdachtes Engagement der Bürger zu fördern, „indem sie für mehr Informationen sorgt und interaktive Diskussionen möglich macht. Demokratie ist nicht nur anhand formal existierender Institutionen zu beurteilen, sondern ihr Maß ist die Vielfalt der Stimmen aus unterschiedlichen Bereichen, die tatsächlich gehört werden können“ (ebd.). Selbstverständlich ist hier das Vorhandensein von (selbst-)kritischen und investigativen Medien grundlegend.

Sen beruft sich in seinen Ausführungen auch auf Habermas, der wohl wie kein anderer moderner Philosoph den prozeduralen Charakter der Demokratie als offenen, nicht abgeschlossenen Prozess hervorgehoben hat. Vor allem ist es sein Verdienst darauf hingewiesen zu haben, „dass es im politischen Diskurs um `moralische Fragen der Gerechtigkeit´ sowie um `instrumentelle Fragen der Ausübung von Macht und Zwang´ geht“ (351).

Die Diskussion um den Begriff der Gerechtigkeit in den letzten 50 Jahren habe viel dazu beigetragen, „dass politische Mitbestimmung, Dialoge und öffentliche Interaktion allgemein als zentral für ein umfassenderes Verständnis von Demokratie gelten“ (352). Wenn also die Forderungen der Gerechtigkeit nur durch den Einsatz der öffentlichen Vernunft eingeschätzt werden können und wenn der öffentliche Vernunftgebrauch grundlegend mit der Idee der Gerechtigkeit verbunden ist, dann haben Gerechtigkeit und Demokratie gemeinsame diskursive Merkmale und stehen in engem Zusammenhang.
 
Gleichwohl gibt Sen zu, dass sich bis heute gegen die Vorstellung von Demokratie als „Regierung durch Diskussion“ so manche Denker zur Wehr setzen. In einer aufschlussreichen Fußnote erwähnt Sen ein Zitat des englischen Premierministers und Mitgliedes der Labour-Partei, Clemens Attlee, aus einer Rede, die dieser im Juni 1957 in Oxford hielt. Er sagte: „Demokratie bedeutet Regierung durch Diskussion, aber das funktioniert nur, wenn man die Leute auch wieder zum Schweigen bringen kann“ (350). Ein rigides, an Organisationen orientiertes Konzept vertrete beispielsweise auch Samuel Huntington, den Sen mit den Worten zitiert: „Wahlen, offene, freie und faire Wahlen sind die Essenz der Demokratie, ihr unausweichliches sine que non“ (352).

Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie verboten ! ?
 
Natürlich leugnet Sen nicht die Bedeutung von Abstimmungen und Wahlen, die selbstverständlich auch für die Effektivität des öffentlichen Gebrauches der Vernunft zwar wichtig, aber eben nicht das Einzige sind, auf das es ankomme. Die Effektivität von Wahlen hänge vielmehr „entscheidend von Begleitumständen ab, zum Beispiel davon, ob Redefreiheit, Zugang zu Informationen und Freiheit zu abweichenden Meinungen gegeben sind. Wahlen für sich genommen können sehr inadäquat sein, wie die verblüffenden Wahlsiege von diktatorischen Amtsinhabern in autoritären Regimes in der Vergangenheit wie heute zeigen“ (353).

Bis heute hätten viele Diktatoren auf der Welt gigantische Wahlsiege erreicht, ohne bei der Wahl selbst offenen Zwang auszuüben, sie mussten nur öffentliche Diskussionen und Informationsfreiheit unterdrücken und ein Klima der Angst schaffen.

Dagegen ist es hilfereich, sich immer wieder der vorhandenen Traditionen partizipatorischer Regierungsformen zu erinnern, die es in verschiedenen Epochen und Ländern gegeben hat. Von besonderer Bedeutung ist auch hier das klassische Griechenland: „Sein Beitrag zur Form und zum Verständnis des Inhalts von Demokratie kann nicht genug betont werden“ (355). Hier sei besonders zu wichtig, zu verstehen, dass „die Athenische Demokratie nicht nur auf Abstimmungen, sondern auch auf freie öffentliche Diskussionen angewiesen war, um Erfolg zu haben“ (ebd.), und dass Abstimmungsverfahren zwar mit Sicherheit in Griechenland begannen und dort stark ausgeprägt waren, die öffentliche Diskussionen eine viel größere Bedeutung besaß. 

Die Pnyx mit Rednertribüne, in klassischer Zeit Ort der attischen Volksversammlung

Das ist das Erbe Athens, das gleichermaßen zeitlos gültig und stets brennend aktuell bleiben wird, weil an dieser Stelle einem Kulturseparatismus der Kampf angesagt wird, der leugnet, dass die Demokratie ein universeller Wert sei, den es gegen jede Form der Tyrannei zu verteidigen gelte.

Zitate aus: Amartya Sen: Die Idee der Gerechtigkeit, München 2010 (C.H. Beck)  --  John Rawls: Eine Theorie derGerechtigkeit, Frankfurt am Main 2003 (Suhrkamp)  -  Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt 1981 (Suhrkamp)  -- ders.: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt 1990 (Suhrkamp)  – ders.: Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt 1983 (Suhrkamp)

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