Donnerstag, 3. August 2017

Homer und die physische Gewalt in der Illias (Teil 2)

Fortsetzung vom 27.07.2017


Mit den beiden großen Heldenepen Homers, der Ilias und der Odyssee, beginnt im 8. Jahrhundert v. Chr. nicht nur die griechische, sondern die gesamte abendländische Literaturgeschichte. Gleichwohl nimmt die Schilderung von Kämpfen und Schlachten rund zwei Drittel des gesamten Werks ein.

Die Todesszenen mit Blut, Eingeweiden, zerschnittenen Muskeln und Sehnen sind im Epos überlagert von grausigen Todes- und Schmerzensschreien. Die Getöteten brüllen angesichts der Verletzungen „wie die Stiere“ (20, 203), liegen „brüllend, in den Staub verkrallt“ (13, 393), der Kampflärm ist untermalt vom Stöhnen der Sterbenden (21, 20), die ihr „Leben ausröcheln“ (5, 585).

Kampfszene

Die Szenerie des Kampfes ist demnach nicht nur visuell in ihrer ungeheuren Bewegungsvielfalt, dem durch die Kämpfer aufgewirbelten Staub, den farbig geschilderten, grausigen Verletzungen und Todesstößen dargestellt, sondern diese Bilder werden abgerundet durch Hinweise auf die Akustik von Schlachtenlärm und Todeskämpfen. Letztere werden zugleich übertönt vom Triumphgeschrei der Sieger.

Die Art der Darstellung kam offenbar beim antiken Publikum ausgesprochen gut an. Hierfür wurden verschiedene Gründe angeführt. Zum einen hat man beobachtet, dass die Troianer in den Kämpfen überwiegend unterlegen sind und die grausigen Detailschilderungen mit zwei Ausnahmen ausschließlich ihr Schicksal in der Niederlage dokumentieren. Daraus hat man geschlossen, dass auch das Publikum proachäisch eingestellt war und deshalb den grausam ausgemalten Tod der Troianer genossen habe.

Es würde freilich mit Blick auf Intentionen und Rezeption des Epos zu kurz greifen, die Darstellung physischer Gewalt auf ästhetischen Qualitäten zu reduzieren. Das zeitgenössische Publikum, das in archaischer Zeit zunächst aus den Adligen der griechischen Polis-Welt bestand, sah in den Kämpfen der homerischen Helden immerhin eine Referenzgröße für eigenes Handeln. Homer vermittelte mithilfe seiner drastischen Schilderungen eine heroische Kampfbereitschaft, der man nacheifern konnte.

Achill verbindet die Wunden von Patroklos
Damit ist freilich nichts darüber gesagt, ob die Zuhörer in den Kampf-handlungen eigene Kriegserfahrungen wieder-erkannten. Der kaiser-zeitliche Autor Dion von Prusa nahm beispielsweise an, die Art des Todes sei dem Charakter der einzelnen Personen angepasst worden (55, 21). 

Doch dies ist eine späte Sicht, die vor allem die ästhetische Gestaltung zu würdigen weiß. Zweifellos, die Arten der Verwundungen und der tödlichen Verletzungen passen gut in die archaische Zeit, als militärische Kämpfe mit denselben Fern- und Nahwaffen ausgetragen wurden und das Töten weiterhin mühsame Handarbeit war.

Als man die Ilias in der griechischen Welt vortrug, waren aber die im Epos üblichen Kampfarten mit Streitwagen und der Konzentration auf Zweikämpfe schon Geschichte. Sie wurden durch die Phalanx, eine geordnete Reihe Schwerbewaffneter, ersetzt, die sich in der Schlacht nicht in Zweikämpfe auflöste, sondern als geschlossene Formation operierte. Die Schlachtendarstellungen Homers müssen auf den Zuhörer anachronistisch gewirkt haben. Dies war wiederum vom Dichter durchaus beabsichtigt, wollte er doch sein Publikum in eine längst vergangene Zeit unbesiegbarer Helden zurückversetzen.

Die verstörende Wirkung, welche die vermeintlich genaue Beschreibung von Verwundung und Tod gehabt haben könnte, wird demnach durch Elemente aufgehoben, welche die Ereignisse einer anderen Zeit zuordneten. Hinzu kam ein anderes wichtiges Element der epischen Erzählung, mit dem das Geschehen in ein abstraktes Referenzsystem eingepasst wurde und das wir bereits kennengelernt haben: das persönliche und permanente Eingreifen der Götter in das Geschehen.

In der Odyssee heißt es gar, der ganze Krieg und das damit verbundene Verderben wurde von den Göttern veranlasst, damit die „Künftigen Stoff für Gesänge bekommen“ (Od. 8, 579 f.); eine durchaus zynisch wirkende Notiz. Die Götter kontrollieren die Kämpfe, lenken selbst einzelne Geschosse und bestimmen letztlich den Sieger des Krieges. Die Götter sind nah, sie sprechen mit den Helden und zeigen sich ihnen, sind aber zugleich unerreichbar und in ihrem Handeln unkalkulierbar.

Achill bereitet die Schändung der Leiche Hektors vor ...
Es gehört zur Tragik und zum unentrinnbaren Schicksal der verschiedenen Protagonisten, dass sie einen Krieg, den sie nicht mehr wollen, führen müssen, weil die Götter es so wollen. Im Moment des Todes lassen die Götter den Menschen allein. Schon im 6. Jahrhundert v. Chr. gibt es zum Beispiel mit dem Vorsokratiker Xenophanes in Griechenland erste Stimmen, welche die Götter der Ilias für unmoralisch halten, da sie nicht nur unendliches Leid bringen, sondern die Menschen auch zu unrechtmäßigem Handeln anstiften. Dies sei eine unziemliche Erfindung der Dichter, die den untadeligen Göttern jene Fehler anhängten, die sie bei den Menschen beobachteten.

Die Menschen waren demnach in der Welt der Epen auf sich selbst verwiesen, denn die Götter ließen sich nicht beeinflussen. Folge hiervon war, dass man sich als Zeitgenosse an den Helden der Dichtung orientieren musste. Man sollte diesen nicht einfach nacheifern, sondern aus ihrem Versagen wie aus ihren Erfolgen lernen. Kraft, Mut, die persönliche Ehre galt es unter Beweis zu stellen, denn „immer der Beste zu sein“ sollte Ziel eigenen Handelns sein - unter Umständen auch die persönliche Bewährung im Kampf und die Bereitschaft wie Fähigkeit, physische Gewalt ohne Wenn und Aber auszuüben.

aus: Martin Zimmermann: Gewalt. Die dunkle Seite der Antike, München 2013



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