Donnerstag, 31. Oktober 2013

Homer und der Ursprung der Troia-Geschichte

In seinem Buch „Troia und Homer. Der Weg zur Lösung eines alten Rätsels“ beweist Joachim Latacz, dass die Ilias Homers in der uns vorliegenden Gestalt zwar ein Produkt der zweiten Hälfte des 8. vorchristlichen Jahrhunderts ist, die ganze Geschichte um Troia aber bereits in der mykenischen Epoche der griechischen Geschichte erdacht worden ist.

Auch wenn Homer und seine Adressaten sich in erster Linie für die Probleme ihrer eigenen Zeit interessieren – das Thema der Ilias ist die neue Werteordnung des 8. Jahrhunderts v.Chr. – war Troia und der ganze Krieg um Troia für den Dichter und sein Publikum eine vertraute Kulisse.

Der Brand Troias (Gemälde von Pieter Schoubrouck (1606)

Homer rechnet damit, dass sein Publikum sich im Erzählkomplex der Troia-Geschichte auskennt, und das dichte Netz von Voraussetzungen, Zusammenhängen und Motiven – die ja außerhalb der Ilias liegen – auch versteht. So übernahm der Erzähler die Troia-Geschichte als vorgegebenen Rahmen, in den er seine eigentliche Thematik hineindichtete. „Das bedeutet aber: Die Troia-Gesamtgeschichte muss in Griechenland im Zeitpunkt der Entstehung der Ilias bereits sehr alt gewesen sein“ (265).

Die Frage ist also: „Wenn die Troia-Geschichte tatsächlich schon Jahrhunderte vor dem achten Jahrhundert erdacht wurde, wie kann sie dann durch die `Kulturlücke´ der sogenannten `Dunklen Jahrhunderte´ (etwa 12. bis 8. Jahrhundert) hindurchgewandert sein?“ (319).

In seiner Theorie des kulturellen Gedächtnisses unterscheidet Jan Assmann zwischen zwei unterschiedlichen Gedächtnisformen, einem `kommunikativen´ biographischen Kurzzeitgedächtnis und einem `kulturellen´ kollektiven Langzeitgedächtnis.

Nicht nur beim Kurzzeitgedächtnis, sondern auch bei der längerfristigen Tradierung von kulturellen Erinnerungen muss jedoch damit gerechnet werden, dass beim Weitererzählen von Generation zu Generation viel verändert werden kann und auch wird.

Bei den Griechen können wir jedoch - dank der gräzistischen Mündlichkeitsforschung, der sogenannten oral-poetry-Theorie – einen zweiten Überlieferungsweg beobachten. „Es ist der Überlieferungsweg eben jener gebundenen Form, die für die Bewahrung von Vergangenheit so konstitutiv sein kann. Bei den Griechen stellt sich diese gebundene Form in einer Ausprägung dar, die, soweit wir bisher wissen, in dieser Strenge und damit gedächtnisstrukturierenden Wirkung in keiner anderen Gesellschaft außer eben der griechischen aufzufinden ist: Dichtung in fest normierten, über Jahrhunderte hinweg in ihrer Grundstruktur niemals veränderten Versen, in Hexametern“ (324).


Der griechische Hexameter


Die Ilias besteht aus genau 15693 Hexametern. Erstaunlich ist die Rigorosität, mit der das Versmaß eingehalten wird: „Nicht ein einziger Vers bricht aus dem festen `Meßgefäß´, den dieses Versmaß bildet, aus, besteht also etwa nur aus fünf oder aber auch sieben oder acht Hebungen, nicht ein einziger Vers stellt sich aber auch außerhalb der Regulierungsnormen, die den Hexameter im Innern gliedern und ihn zu einer ästhetisch wohlklingenden Rhythmus-Einheit machen“ (ebd.).

Man kann nun davon ausgehen, dass die Dichtungsweise in Hexametern eine lange Geschichte haben muss und auch schon lange vor Homer geübt und von Dichtergenerationen zu Dichtergeneration weitergegeben worden sein muss. Homer ist daher „nicht ihr Erfinder, sondern ihr Höhepunkt“ (330).

Wenn man also - wie Joachim Latacz – dass es eine Sängerdichtung schon bei den mykenischen Griechen gegeben hatte, dann ist nichts Verwunderliches daran, „dass sie auch nach dem Zusammenbruch der mykenischen Palastkultur weiterlief. Als unabhängig geübte dichterische Technik war sie ja weder an Verwaltungssysteme noch an Schriftlichkeit gebunden. 

Der Zusammenbruch der mykenischen Kulturphase muss also nicht zwangsläufig auch ihren Zusammenbruch bedeuten. Solange es Sänger gab, die die alte Tradition noch kannten und sie weitergaben, und solange es Menschen gab, die diese Sänger singen hören wollten, gab es keinerlei Grund, die Übung aufzugeben“ (337).


Griechische Sängerdichtung: Kitharode beim Spiel

Auf diese Weise konnten die Geschichten, die in mykenischer Zeit erdacht und in die gebundene Form der Hexameterdichtung hineingelangten durchaus die `Dunklen Jahrhunderte´ überdauern. So sei auch die Troia-Geschichte in der mykenischen Zeit erdacht und in einer Rahmenform durch das Medium der griechischen Hexameterdichtung über einen Zeitraum zwischen 1200 und 800 v.Chr. von der mykenischen Zeit bis zu Homer weitergetragen worden.

Die Geschichten, innerhalb derer Homer seine neuen dichterischen Ziele zu verwirklichen sucht, hat er also nicht selbst erfunden. „Sie waren ihm vertraut aus ungezählten, fremden und später dann auch eigenen Darbietungen. Die Troia-Geschichte gehörte dazu“ (353)

Der Krieg um Troia war demnach ein spätbronzezeitliches Ereignis, das „für die griechische Seite außergewöhnlich bedeutsam war, dass Erinnerungen daran in der Sängerdichtung lange haften blieben. Homer nahm sie in sein neues Epos vom Groll des Achilleus teils unbewusst und teils bewusst mit auf“ (367).

Homers wäre damit der letzte Ausläufer einer poetischen Erzähltradition, die mit der wohl zeitnahen Poetisierung des troianischen Krieges begonnen hatte. „Lösen wir sie (die Erzähltradition) vorsichtig heraus und setzen sie zu den `harten´ Quellen der Spätbronzezeit in Beziehung – archäologisch auswertbare Hinterlassenschaften und schriftliche Dokumente …, dann erkennen wir: Homer ist auch historisch ernst zu nehmen“ (ebd.)

Zitate aus: Joachim Latacz: Troia und Homer. Der Weg zur Lösung eines alten Rätsels, 6. Aktualisierte und erweiterte Auflage, Leipzig 2010 (Koehler und Amelang)  -  Weitere Literatur: Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 2013 (Beck)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen