Karl Raimund Popper |
Zum hundertfünfzigsten Todestag hielt Karl
Popper in der BBC einen Vortrag, in dem er Kant als letzten großen Vorkämpfer
der Aufklärung verteidigt – gegen die romantische Schule des „Deutschen
Idealismus“ von Fichte, Schelling und Hegel, die die Aufklärung vernichtete.
Im Hinblick auf unser Wissen stellt Popper im Anschluss an Kants Transzendental-philosophie fest, dass wir den Gedankenaufgeben müssen, „daß wir passive Zuschauer sind, die warten, bis die Natur ihnen ihre Gesetzmäßigkeiten aufdrängt. An die Stelle dessen müssen wir den
Gedanken setzen, daß, indem wir unsere Sinnesempfindungen assimilieren, wir,
die Zuschauer, ihnen die Ordnung und die Gesetze unseres Verstandes aufzwingen.
Unser Kosmos trägt den Stempel unseres Geistes.“
An dieser Stelle schlägt Popper nun den Bogen von der
Kopernikanischen Wende in der Erkenntnistheorie zur Ethik, denn für Popper steht
fest, dass auch die „Grundidee der Kantischen Ethik ebenfalls auf einer
Kopernikanischen Wendung beruht.“
Entscheidend ist, dass Kant auch in der Ethik den Menschen zum
Gesetzgeber der Moral in genau derselben Weise macht, in der er ihn zum
Gesetzgeber der Natur machte: „Kants Kopernikanische Wendung im Gebiete der
Ethik ist in seiner Lehre von der Autonomie enthalten, worin er sagt, daß wir
dem Gebote einer Autorität niemals blind gehorchen dürfen, ja daß wir uns nicht
einmal einer übermenschlichen Autorität als einem moralischen Gesetzgeber blind
unterwerfen sollen.“
Die Entscheidung liegt bei uns: Wir können dem Befehl gehorchen oder nicht gehorchen |
Auch wenn wir dem Befehl einer Autorität gegenüberstehen, seien
es doch immer nur wir, die auf unsere eigene Verantwortung hin entscheiden, ob dieser
Befehl moralisch ist oder unmoralisch. Eine Autorität mag zwar die Macht
besitzen, ihre Befehle durchzusetzen, „ohne daß wir ihr Widerstand leisten
können.“ Nur: Solange es irgendwie physisch möglich ist, zwischen verschiedenen
Handlungsweisen zu wählen, liegt die Verantwortung stets beim Handelnden. „Denn
die Entscheidung liegt bei uns: Wir können dem Befehl gehorchen oder nicht
gehorchen; wir können die Autorität anerkennen oder verwerfen.“
Kant wendet diese Idee mutig auf das Gebiet der Religion an,
wenn er schreibt: „Es klingt zwar bedenklich, ist aber keineswegs verwerflich
zu sagen, daß ein jeder Mensch sich einen Gott mache, ja nach moralischen
Begriffen … sich einen solchen selbst machen müsse, um an ihm den, der ihn
gemacht hat, zu verehren. Denn auf welcherlei Art ein Wesen auch als Gott …
bekannt gemacht und beschrieben worden, ja ihm ein solches auch … selbst
erscheinen möchte, so muß er … doch allererst … urteilen, ob er [durch sein
Gewissen] befugt sei, es für eine Gottheit zu halten und zu verehren.“
Aber Kants Ethik darf nicht auf den Satz reduziert werden,
das Gewissen des Menschen sei seine einzige Autorität. Er legt vielmehr fest, was
unser Gewissen von uns fordern kann. Kant formuliert in seinen Werken
verschiedenen Fassungen des moralischen Gesetzes. Die bekannteste ist
sicherlich der Kategorische Imperativ: „Handle nur nach der Maxime, von der du
wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“
Daneben, aber mit einer anderen Stoßrichtung entwirft Kant
die sogenannte Menschheitsformel: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in
deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als
Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“
Für Popper kann man den „Geist der Kantischen Ethik“ am
ehesten in den Worten zusammenfassen: „Wage es, frei zu sein, und achte und beschütze
die Freiheit aller anderen.“
"Zum ewigen Frieden" (1795) |
Kant errichtet folglich auf der Grundlage dieser Ethik seine
Staatslehre und seine Lehre vom internationalen Völkerrecht. In seiner Schrift
„Zum ewigen Frieden“ (1795) verlangte Kant einen Völkerbund, einen „Föderalismus
freier Staaten“ mit der Aufgabe, den ewigen Frieden auf Erden zu verkünden und
aufrechtzuerhalten.
Und so schließt sich der Kreis für Popper in dem „schönen
und fast immer falsch verstandenen Wort …, dem Wort vom gestirnten Himmel über uns
und dem moralischen Gesetz in uns.“ Wollte man, so Popper weiter, in die
Vergangenheit zurückgehen, um einen noch umfassenderen Blick auf Kants Platz in
der Geschichte zu erlangen, so würde man schließlich bei Sokrates ankommen:
„Beide wurden beschuldigt, die Staatsreligion verdorben und
die Jugend geschädigt zu haben. Beide erklärten sich für unschuldig, und beide
kämpften für Gedankenfreiheit. Freiheit bedeutete ihnen mehr als Abwesenheit eines
Zwanges: Freiheit war für sie die einzig lebenswerte Form des menschlichen
Lebens. Die Verteidigungsrede und der Tod des Sokrates haben die Idee des
freien Menschen zu einer lebendigen Wirklichkeit gemacht. Sokrates war frei,
weil sein Geist nicht unterjocht werden konnte; er war frei, weil er wußte, dass
man ihm nichts anhaben konnte.“
Kants Grabstein: Der bestirnte Himmel ... das moralische Gesetz |
Diese Sokratische Idee des freien Menschen, die das Erbe des
Abendlandes ist, hat Kant auf das Gebiet der Erkenntnis und der Ethik
angewendet und ihnen so eine neue Bedeutung gegeben. Und er hat ihr weiter die Idee
einer Gesellschaft freier Menschen hinzugefügt, einer Gesellschaft aller
Menschen:
„Denn Kant hat gezeigt, daß jeder Mensch frei ist: nicht
weil er frei geboren, sondern weil er mit einer Last geboren ist – mit der Last
der Verantwortung für die Freiheit seiner Entscheidung.“
Zitate aus: Karl Popper: Immanuel Kant - Der Philosoph der Aufklärung. Eine
Gedächtnisrede zu seinem hundertfünfzigsten Todestag, gehalten in englischer
Sprache im englischen Rundfunk (British Broadcasting Corporation) am 12.
Februar 1954, in: Karl Popper: Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vorträge
und Aufsätze aus dreißig Jahren, München 1999 (Piper Verlag)
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