Donnerstag, 11. Juni 2015

Baudelaire und die postkosmologische Verunsicherung



Ovid (43 v. Chr. - 17 n. Chr.)
Am Beginn seiner Metamor-phosen erzählt Ovid zunächst von der Entstehung der Welt. Durch das vernünftige Handeln des göttlichen Schöpfers entstehen nacheinander der Himmel und Erde, Land und Wasser und Pflanzen und Tieren. Das war die die erste aller Metamorphosen, die Metamorphose des Chaos in den Kosmos.

Aber es fehlte noch der Mensch: „Noch fehlte ein Wesen, edler als diese Tiere und eher als sie befähigt zu hohen Gedanken, auf dass es die Herrschaft über alles Übrige ausüben könnte – da trat der Mensch in die Welt (…) Erde formte, vermischt mit Wasser vom Flusse, Prometheus, des Iapetos Sohn, nach dem Bild der alles regierenden Götter. Und während die anderen Wesen gebeugt zu Boden blicken, gab er dem Menschen ein hoch erhobenes Antlitz, ließ ihn den Himmel betrachten und sein Gesicht stolz zu den Sternen erheben“ (Ovid, Metamorphosen, 1. Buch, 76ff). Nun erst war die Welt komplett.

Im Zentrum der Erschaffung des Menschen steht, und daran lässt Ovid keinen Zweifel, das Faktum des aufrechten Ganges. Denn „während die anderen Wesen gebeugt zu Boden blicken“, gab der Weltenschöpfer „dem Menschen ein hoch erhobenes Antlitz, ließ ihn den Himmel betrachten und sein Gesicht stolz zu den Sternen erheben“. Ovid stellt also nicht nur fest, dass der Mensch als einziges unter den Tieren aufrecht geht und steht, sondern er macht zusätzlich deutlich, dass der Mensch überhaupt erst durch dieses Merkmal zum Menschen wird.


Der aufrechte Gang - das Merkmal, das den Menschen zum Menschen macht!

Der Anfang der Metamorphosen enthält ein dichtes Gedankengeflecht, das verschiedene Aussagen miteinander verbindet: Als der Mensch die Bühne betrat, ist der Prozess der gigantischen Transformation des Chaos in den Kosmos bereits abgeschlossen. „Der Mensch kommt in eine geordnete Welt, als deren Teil er geschaffen wurde.“ Behauptet wird weiter, dass der Mensch ein notwendiger Teil der Weltordnung ist, d.h. ohne den Menschen wäre die Weltordnung also unvollständig. Der Mensch ist – im Gegensatz zu den anderen Lebewesen - zum Denken befähigt. Diese Eigenschaft des Denkens macht ihn zu einem Wesen, das allen anderen Wesen überlegen ist: „Der Mensch ist nicht nur anders, er ist besser als die Tiere (…) Der Mensch nimmt eine ausgezeichnete Stellung in der Welt ein und ist daher der legitime Herrscher über sie.“

Der göttliche Ursprung des Menschen und der daraus resultierende Herrschaftsanspruch des Menschen finden ihren Ausdruck in seiner aufrechten Haltung: „Diese ist kein bloßes Faktum, kein naturhistorischer Zufall; sie wird ihm wie eine Auszeichnung ‹verliehen› und zugleich als eine Aufgabe übertragen. Sie ist das sichtbare Zeichen für die besondere Bestimmung des Menschen als Betrachter des Himmels und der Sterne. Geschaffen wurde der Mensch also nicht nur, weil die Ordnung der Welt ohne ein denkendes, sondern auch weil sie ohne ein den Himmel betrachtendes Wesen unvollständig geblieben wäre“ (Bayeritz, 16ff).


... den Himmel betrachten, dort wo die Götter wohnen!


Die ovidische Schöpfungserzählung und der darin enthaltene Hinweis auf den aufrechten Gang und den damit ermöglichten Blick zum Himmel gehört zu den wirkungsmächtigsten literarischen Traditionen der westlichen Welt.

Zwei Jahrtausende nach Ovid veröffentlichte Charles Baudelaire in seiner Gedichtsammlung „Blumen des Bösen“ das Gedicht „Der Schwan“. Dort berichtet der Erzähler von einem Rundgang durch Paris: „Das alte Paris ist nicht mehr / die Gestalt einer Stadt wechselt rascher, ach! als das Herz eines Sterblichen.“

An einem Platz erinnert sich der Erzähler an einen Schwan, den er an dieser Stelle einmal gesehen hatte:

Einen Schwan, der aus seinem Käfig entwichen war und, mit
dem Schwimmfuß das trockene Pflaster scharrend, über den
holprigen Boden sein mächtiges Gefieder schleifte. An einem
wasserlosen Rinnstein riß das Tier den Schnabel auf
Und badete mit fahriger Gebärde die Fittiche im Staub, und
sprach, im Herzen seines schönen Heimatsees gedenkend:
`Wasser, wann endlich wirst du niederregnen? wann wirst du
donnern, Wetterstrahl?´ Ich sehe, wie der Arme, ein
unheilvolles Zeichen wunderlicher Sage,
Zum Himmel manchmal, gleich dem Menschen bei Ovid, zum
schadenfrohen, grausam blauen Himmel auf zuckendem Halse
sein durstgequältes Haupt reckt, als schleudre er Vorwürfe gegen
Gott!

Das Gedicht stellt einen schroffen Gegensatz dar zum ovidischen Topos vom Menschen, der aufrecht geschaffen wurde, um in den Himmel schauen zu können. Klassisches Weltbild und moderne Welt stehen sich unversöhnlich gegenüber.

Charles Baudelaire (1821 - 1867)
Der klassische Kosmos ist zu einer modernen, sich schnell verändernden Großstadt verkommen. Die Welt ist ungastlich und schmutzig geworden. Der Schwan badet im Staub, statt im Wasser zu schwimmen: „Von seinem «schönen Heimatsee» hat ihn das Schicksal in die Gefangenschaft eines Käfigs verschlagen, aus dem er entwichen ist; doch nur um mit seinen zum Schwimmen bestimmten Füßen das trockene Pflaster zu scharren und das Gefieder in einem „wasserlosen Rinnstein“ zu baden.“

Der watschelnde Schwan ist eine Karikatur des Menschen, denn auch er wendet „in dieser jämmerlichen und verzweifelten Lage seinen Kopf zum Himmel; aber nicht, um ihn zu betrachten und zu bewundern, sondern um ihn hilflos anzuklagen.“

Die Blickrichtung ist zwar wie bei Ovid die gleiche, aber das Motiv hat sich völlig verändert. Aber auch der Protest bleibt eine leere Geste, denn „der Himmel hat längst aufgehört, der Herkunftsort und das Rückreiseziel des Menschen zu sein. Er ist nicht einmal mehr ein adäquater Adressat von Vorwürfen. Er nimmt den stummen Protest nicht wahr und bleibt `ironique et cruellement bleu´.“

Was wollte Baudelaire mit dieser eindrucksvollen Szene zum Ausdruck bringen? Sicher ist sie auch eine metaphorische Darstellung der Stellung des Menschen in der modernen Welt: „Der Blick nach oben, in der klassischen Welt das Privileg des Menschen, richtet sich nun auf eine große Leere. Der Himmel ist keine Quelle der Orientierung mehr; er offeriert keinen Sinn, sondern bleibt (im besten Fall) gleichgültig gegenüber dem Menschen, seinem Leben, seinem Schicksal.“


Zitate aus: Kurt Bayertz: Der aufrechte Gang. Eine Geschichte des anthropologischen Denkens, München 2012   -   Weitere Literatur: Ovid: Metamorphosen, in: Sammlung Tusculum, Artemis und Winkler 2004 (Düsseldorf)   -   Charles Baudelaire: Der Schwan, in: Die Blumen des Bösen, Frankfurt/M 1966 (Fischer), 146–149.

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