Donnerstag, 1. Mai 2014

Demokrit und die Entwicklung der Kultur


„Nichts ist weiser als die Zeit,
denn sie erfindet nach und nach alle Dinge.“
(Thales von Milet)

Für die Griechen war die Kulturgeschichte ein Lernprozess, eine „progressive Zeit“, in deren Verlauf sich der zivilisatorische Fortschritt widerspiegelt. So schreibt Platon: „Als die Zeit voranschritt und die Menschheit sich mehrte, ist allmählich alles zu den Zuständen fortgeschritten, die heute herrschen“ (Gesetze 678 B).

Während im Lateinischen „Fortschritt“ durch das Wort progressus ausgedrückt wird, verwenden die Griechen manchmal prokopē, also „einen Weg freischlagen“ oder auch epidosis, das „Zugabe, Zunahme“ bedeutet (Demandt, 59).

Fähigkeiten und Erkenntnisse
Der beobachtete Fortschritt besteht vor allem in der Vermittlung von Fähigkeiten und Erkenntnissen. Die 10. Olympische Ode des Dichters Pindar (522 – 446 v. Chr.) beschreibt die Zeit als Hebamme oder als Mutter der Wahrheit und ihre Handlungen als  Schritte in die Zukunft.

Gleichwohl zeigt sich das Bewusstsein der Griechen vom historischen Fortschritt nicht nur in Hinweisen auf einzelne spektakuläre Erfindungen und Entdeckungen, sondern vielerorts entstanden zusammenhängende Erzählungen von den Anfängen und dem Verlauf der Kulturgeschichte der Menschheit.

Demokrit (* 460 v. Chr.)
Eine dieser Erzählungen stammt von Demokrit, überliefert bei Diodor. Er beginnt mit der Feststellung, dass die Menschen nach ihrer Entstehung „ein Dasein ohne jede Ordnung, nach Art der Tiere gehabt hätten.

Hier und dort zerstreut, wären sie nach den Futterplätzen ausgezogen und hätten von den Kräutern die ihnen am meisten zusagenden und von den Bäumen die Früchte, die von selbst gewachsen seien, verzehrt. Und wenn sie von den wilden Tieren bedrängt wurden, hätten sie einander geholfen, da sie durch ihr gemeinsames Interessen belehrt wurden.“

Es war Demokrit zufolge, die Furcht und das gemeinsame Interessen, die dazu führten, dass die Menschen sich gegenseitig kennenlernten. Diese ersten rudimentären Formen des Zusammenlebens machten dann eine Verständigung untereinander notwendig, die anfangs nicht ohne Schwierigkeiten verlief.

„Da aber ihre Laute undeutlich und verworren waren, hätten sie allmählich die Worte artikuliert und hätten miteinander Bezeichnungen für jedes Ding festgesetzt und so sich selber die Verständigung über alle Dinge ermöglicht.

Während solche Vereinigungen auf der ganzen bewohnten Erde entstanden, hätten nicht alle eine gleichlautende Sprache gehabt, da die einzelnen Horden auf das Geratewohl ihre Ausdrücke vereinbart hätten. Daher habe es auch alle möglichen Eigentümlichkeiten von Sprachen gegeben, und es seien die zuerst entstandenen Horden die Urahnen aller Völker geworden.“

Das Leben dieser ersten Menschen war jedoch alles andere als bequem: „Die ersten Menschen nun hätten, da noch keinerlei zum Leben nützliche Erfindung gemacht war, ein sehr kümmerliches Dasein gefristet: ohne jede Kleidung, unbekannt mit Haus und Herd und ohne jede Ahnung von Nahrung, die durch menschlichen Anbau gewonnen sei. Da sie nämlich das Einbringen der Früchte der Wildnis noch nicht kannten, hätten sie keinerlei Aufspeicherung von Früchten für den Fall der Not vorgenommen. Daher wären dann auch viele von ihnen zur Winterszeit umgekommen, durch die Kälte und weil sie nichts zu essen fanden.“

Nun aber macht Demokrit die entscheidende Beobachtung: Durch die Erfahrung des Mangels hätten die Menschen allmählich gelernt, sich gegen die Widernisse der Welt durchzusetzen. So sei „bei allen Errungenschaften die Not die Lehrmeisterin der Menschen geworden.“ Erst die Erfahrung der Not machte den Menschen klug. Sie brachte ihnen die Erkenntnis der Dinge, denn schließlich sei der Mensch ein „wohlveranlagtes Lebewesen“, das sich „bei allen Verrichtungen seiner Hände, der Sprache und des Verstandes bediente.“

„Infolgedessen seien sie allmählich durch die Erfahrung klug geworden, hätten sich im Winter in die Höhlen geflüchtet und von den Früchten solche, die sich aufbewahren ließen, für sich aufgehoben.

Und wie dann der Gebrauch des Feuers und die anderen nützlichen Einrichtungen nach und nach entdeckt waren, da wären auch die Künste und Gewerbe erfunden worden und die Einrichtungen, die das Leben der Allgemeinheit fördern könnten.“

Die Ziel der Kulturentwicklung: Ansammlung von Wissen

In Demokrits Darstellung der kulturellen Entwicklung zeigt sich der ganze Stolz der Griechen auf die von Menschen erreichte Verbesserung der Lebensumstände, die Perfektion der Technik und die Vermehrung des Wissens. Von Demokrit stammt übrigens auch das Zitat, er wolle lieber ein neues Naturgesetz finden, als König von Persien werden.
Zitate aus: Alexander Demandt: Philosophie der Geschichte. Von der Antike zur Gegenwart, Köln 2011 (Böhlau Verlag), Kapitel III   -  Demokrit: Kulturentwicklung, in: Wilhelm Capelle: Die Vorsokratiker, Stuttgart 2008 (Kröner), S. 386f


2 Kommentare:

  1. Lieber Paideia, ein schöner Artikel. Was man natürlich hier bemerkt, ist, dass Demokrit die Prinzipien der Evolution nicht kannte. Die hat ja auch erst Charles Darwin entdeckt. Daher wird die kulturelle Entwicklung der Menschen bei Demokrit als kollektiver Lernprozess verstanden. Das Element der biologischen Weiterentwicklung der Menschen von den ersten aufrecht gehenden "Hominini" vor ungefähr sieben Millionen Jahren bis zum heutigen "homo sapiens" entfällt daher bei Demokrit. Und natürlich konnte das klassische griechische Altertum vor allem in seiner Perikleischen Blütezeit (5. Jh. v, Christus) mehr als nur stolz auf seine Errungenschaften sein.

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  2. Lieber Klaus Gauger!
    Das ist natürlich richtig, wenngleich man bei der auf zufälliger Mutation beruhenden biologischen Evolution kaum von "Kultur"-Entwicklung im eigentlichen Sinne sprechen kann, wenn man unter Kultur die aktive Verarbeitung und Umformung der vorgefundenen Umwelt durch den Menschen versteht. Allerdings ist diese Veränderung der Welt immer auch durch den Verstand gesteuert und unser Gehirn und zum Teil auch seine Funktionen sind hier wiederum ein Produkt der Evolution, wie die Evolutionäre Erkenntnistheorie herausgestellt hat. Denn unsere Erkenntniswerkzeuge passen so gut zu unserer Umwelt, weil sie sich ja gerade in Anpassung an eben diese Umwelt herausgebildet haben.
    Herzliche Grüße
    Paideia

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