Hannah Arendt (1906 - 1975) |
Ihr Ideal vom Menschen beschreibt Hannah Arendt in ihrem
Werk „Vita activa. Vom tätigen Leben“. Darin erläutert sie überzeugend, dass
die Grundtätigkeiten des Arbeitens und des Herstellens zwar notwendige Bedingungen des Menschseins sind, dass aber die Verwirklichung
eigentlichen Menschseins erst durch das Handeln im öffentlichen Raum des Politischen geschieht.
Erst das Handeln ermöglicht die „höchste Erfüllung des
Menschseins“. Handeln ist hier stets ein politisches Handeln. „Der `öffentliche
Raum´ steht für jenen Lebensbereich, in dem Individuen einander aus
persönlicher Freiheit begegnen und ein `Miteinander´ von Einzelpersonen
konstituiert wird.“
Unter der Prämisse der von Arendt verteidigten Verschiedenheit und Pluralität menschlicher Entwürfe lässt sich politisches Handeln nur dann
verwirklichen, wenn verschiedene Individuen ihre kreativen Gedanken in
gemeinsame Bemühungen um das Gemeinwohl einbringen. Das Vorbild dafür entdeckt
Arendt in der antiken griechischen Polis.
Für Arendts Ideal vom Menschen ist weiter entscheidend, dass
Denken und persönliche Lebenspraxis miteinander verschränkt werden. „Der Mensch
mit der erweiterten Denkungsart ist keine passive und konfliktscheue Person,
die private Abkapselung oder Anonymität in der Masse einem aktiven Leben
vorzieht. Er ist stets bereit, sich in seiner `personalen Einmaligkeit´ in das
`Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten´ einzubringen. Er besitzt Mut, sich
öffentlich zu engagieren und `sich selbst zu exponieren´. Im `öffentlichen
Raum´ der Politik übernimmt er Aufgaben, weil er in der Politik kein
ablehnenswertes, schmutziges Geschäft oder populistisches Showgeschäft sieht.“
So bietet Politik für Arendt vielmehr die Chance, bei der
Gestaltung des Gemeinwohls mitzuwirken und einen Beitrag für die stets von
neuem erforderliche Konstitution von individuellen Freiheitsspielräumen und
gesellschaftlichen Gleichheitsbedingungen zu leisten.
In krassem Gegensatz zu diesem skizzierten Ideal steht die
Feststellung Arendt, dass sich die Menschheit in einer tiefen Krise befindet.
Im Rahmen ihrer Analyse der Strukturen totalitärer Herrschaftssysteme stößt sie
auf einen Menschentyp, dessen Mentalität, Eigenschaften und Handlungen bei der
Entstehung und beim zeitweiligen Funktionieren von totalitärer Herrschaft eine
entscheidende Rolle spielen: das „vermasste Individuum“ oder der
„Massenmensch“.
In ihrem Buch „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“
definiert Arendt den Begriff „Masse“ folgendermaßen: „Der Ausdruck `Masse´ ist
überall da anzutreffen, und nur da, wo wir es mit Gruppen zu tun haben, die
sich, entweder, weil sie zu zahlreich oder weil sie zu gleichgültig für
öffentliche Angelegenheiten sind, in keiner Organisation strukturieren lassen,
die auf gemeinsamen Interessen an einer gemeinsam erfahrenen und verwalteten
Welt beruht (…) Potentiell existieren sie in jedem Lande und zu jeder Zeit; sie
bilden sogar zumeist die Mehrheit der Bevölkerung auch sehr zivilisierter
Länder, nur dass sie eben in normalen Zeiten politisch neutral bleiben und sich
damit begnügen, ihre stimmen nicht abzugeben und den Parteien nicht
beizutreten.“
Dieser sozial und ideologisch bindungslose Massenmensch, der sich der Teilnahme am
öffentlichen Geschehen der Politik verweigert, stellt für Arendt eine immense
Gefahr für jedes pluralistisches und
demokratisches Gesellschaftssystem dar.
Es sind vor allem die mentalen Eigenschaften und
Verhaltensweisen des „Massenmensches“, die ihn zu einer latenten Gefahr machen:
„Der Glaube an Verschwörungstheorien, naiver Glaube an die Unfehlbarkeit von
politischen Führungspersönlichkeiten, Bereitschaft zur Denunzierung von
Mitbürgern und auch von Verwandten um der eigenen politischen Bewegung und
Ideologie willen, die Bereitschaft zur Selbstaufopferung um der eigenen
politischen Bewegung willen,
Spießermentalität, Radikalismus, Aktivismus und Kriegsenthusiasmus, die
zynische Überzeugung, Politik sei ein Spiel des Betrügens und deswegen sei
Lügen erlaubt, ja sogar gewünscht.“
Hinter diesen Einstellungen sieht Arendt die Sehnsucht nach
der Flucht in eine fiktive Welt der Geborgenheit in einer „Massengemeinschaft“,
wie sie beispielsweise durch politische Bewegungen repräsentiert wird.
So führen die anthropologischen Überlegungen Arendt direkt
zu dem Kern des Problems, das sie mit folgenden Worten beschreibt: „Man hat
immer wieder bemerkt, dass totalitäre Bewegungen sich der demokratischen
Freiheiten bedienen, um dieselben abzuschaffen. Hinter diesem Spiel, das trotz
aller Proteste immer wieder erfolgreich gespielt wird, sobald sich eine
prätotalitäre Atmosphäre eines Landes bemächtigt hat und die totalitären
Bewegungen eine gewisse Stärke erreicht haben, steckt weder eine überlegende
Schlauheit auf seiten totalitärer Führer noch eine hoffnungslose, durch keine
Erfahrungen zu belehrende Torheit und Schwäche demokratischer Politiker.
Prätotalitäre Atmosphäre in Katalonien (Spanien): Eine Nation (= die Països Catalans!) - Eine Sprache (= das Katalanische!) ... es fehlt nur noch der Führer ... |
Demokratische Freiheiten gründen sich zwar auf der
Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz; aber diese Gleichheit hat nur dann
einen Sinn und kann nur dort funktionieren, wo die Bürger zu bestimmten Gruppen
gehören, in denen sie repräsentiert werden können, oder wo sie innerhalb einer
sozialen oder politischen Hierarchie leben.“ Gleichheit vor dem Gesetz mache
also nur dort Sinn, wo eine pluralistische Gesellschaft vorhanden ist, in der
eben gerade nicht „gleiche“, sondern beispielsweise durch Geburt oder
Beruf „ungleiche“ Menschen leben.
Unter den Bedingungen einer Massengesellschaft jedoch
verlieren die demokratischen Institutionen wie die demokratischen Freiheiten
ihren Sinn.
Zitate aus: Hannah Arendt: Vita
activa oder Vom tätigen Leben, München 2010 (piper) -
Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 2009
(piper) - Kurt Salamun: Wie soll der Mensch
sein? Philosophische Ideale vom `wahren´ Menschen von Karl Marx bis Karl
Popper, Tübingen 2012 (Mohr Siebeck)
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