„Der Krieg ist für jeden Staat ein Ereignis
von großer Bedeutung. Er ist der Ort, der über Leben und Tod entscheidet, er
ist der Weg, der das Überleben sichert oder in den Untergang führt. Unumgänglich
ist es, ihn eingehend zu untersuchen.“
Sunzi (ca 544 - ca. 496 v. Chr.) |
Das Buch „Die Kunst des Krieges“ von Sunzi ist der älteste erhaltene Traktat, der sich
ausschließlich mit dem Phänomen des Krieges, seinen Strategien und Taktiken,
seinen Regeln und Listen, seinen moralischen und politischen Implikationen,
seinen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen befasst.
Als wichtige philosophische Schrift wendet
sich die „Kunst des Krieges“ schließlich viel weiter gefassten Themen wie der
Beziehung zwischen Herrscher und Untertan und den Strukturen des menschlichen Zusammenlebens
zu.
Insofern ist das Grundanliegen des Traktates nicht
nur die Vermittlung militärischer Regeln, sondern vor allem auch die Warnung
vor der Hydra des Krieges mit allen seinen wiederkehrenden Grausamkeiten.
So mag es zunächst überraschen, dass Sunzi
zufolge List und Täuschung eine wichtige Grundlage jeder militärischen
Strategie bilden sollen. Auch wenn der Begriff „List“ heutzutage vorwiegend
negativ verwendet wird, so steht er ursprünglich für eine wichtige Tätigkeit
des Verstandes und ist mit Wörtern wie lehren, lernen und leisten verwandt. So
wie der „listenreiche Odysseus“ aufgrund dieser Fähigkeiten verehrt wurde, so
werden auch List und Klugheit von Sunzi propagiert, weil sie die bewaffnete
Auseinandersetzung überflüssig machen, also größeren Schaden abwenden können.
Das Bemühen um Verständnis ist immer auch der
erste Schritt auf dem Weg zur Verständigung, dient also letztlich der Vermeidung
und dem Abbau politischer wie auch militärischer Konflikte:
„Wer die Gedanken der vorliegenden Schrift
genau studiert und mit abendländischen Vorstellungen vom Krieg als Vater aller
Dinge (Heraklit) oder der unaufhaltsamen Eskalation der Gewalt bei Clausewitz vergleicht,
wird in Meister Sun einen vergleichsweise menschenfreundlichen Theoretiker erkennen,
der den Sieg am höchsten einschätzt, der ohne militärischen Einsatz errungen
wird, der wiederholt vor der Zerstörung des gegnerischen Territoriums und der
Vernichtung der feindlichen Truppen warnt und der jeden Krieg so bald wie
möglich beendet sehen möchte“ (87f).
Sunzi lebte in der Zeit der ausgehenden
Zhou-Dynastie, in der sogenannten Frühlings- und Herbstperiode (770 – 476 v.Chr.).
Die gesamte Zhou-Zeit (1045 – 256 v.Chr.) lässt sich auch als „Zeitalter der Säkularisierung
und Rationalisierung beschreiben, als eine allmähliche Abkehr von einer
schamanisch-religiös bestimmten Weltsicht zu zunehmend von der Vernunft und dem
Streben nach Zweckmäßigkeit geleiteten Verhaltensnormen“ (92). Die Suche nach
neuen Wegen und Werten, mit denen die Herausforderungen einer sich rasch
verändernden Welt gemeistert werden konnten, ist kennzeichnend für die Zeit, in
der das Werk von Sunzi entstand.
Der Anfang des Traktates in einem klassischen Bambusbuch |
Das Werk ist kurz und bündig geschrieben,
denn Sunzi verzichtet auf lange Argumentationsketten und Begründungen und
stellt seine Ansichten eher in der Form von Postulaten und Aphorismen dar. Der
Traktat – bestehend aus knapp 6000 Schriftzeichen – ist in 13 Kapitel und 68
Thesen gegliedert:
I. Die
Bewertung der Lage
II.
Die Kriegführung
III. Die
Planung des Angriffs
IV. Die
Formation
V. Die
Schlagkraft
VI. Die
Leere und die Fülle (Schwächen und Stärken)
VII. Das
Gefecht
VIII. Die neun Wechselfälle (taktische
Varianten)
IX.
Der Marsch
X.
Die Beschaffenheit des Geländes
XI.
Der Angriff mit Feuer
XII.
Der Einsatz von Spionen
Sunzi ist fest davon überzeugt, dass der
Erfolg der militärischen Absichten unweigerlich eintritt, wenn die notwendigen Voraussetzungen
sorgfältig genug erfüllt werden: „Der Sieg ist machbar.“
Der Krieg wird in erster Linie nicht als eine
materielle, sondern eine intellektuelle Herausforderung beschrieben, deren
erste bereits darin besteht, den bewaffneten Kampf, wenn es irgend geht, zu
vermeiden.
„Daher ist nicht derjenige der Inbegriff der
Tüchtigkeit, der in hundert Schlachten hundert Siege erringt, sondern
derjenige, der sich die Truppen des Gegners ohne Kampf unterwirft“ (Kap. III).
Der Ausbruch von bewaffneten Kampfhandlungen
ist für Sunzi immer nur ultima ratio, die erst dann legitim wird, wenn alle
anderen Mittel versagt haben. Nüchternheit und Besonnenheit werden damit zu den
vordringlichsten Qualitäten des Herrschers und Feldherrn.
Im Kampf ist stets die schnelle Entscheidung
zu suchen: „Dass ein Staat Nutzen aus einem langwierigen Kampf gezogen hätte,
ist noch nie dagewesen“ (Kap. II).
Das Ziel des Kampfes ist nicht die
Vernichtung und Zerstörung des Feindes, denn dies würde nicht zuletzt den Wert
der Kriegsbeute verringern. Entscheidend aber ist, dass der Feind von heute ein
potentieller Verbündeter von morgen sein kann. So habe sich der Feldherr stets
vom Prinzip der Unversehrtheit (quan)
leiten zu lassen.
Besonderer Wert – und auch darin zeigt sich
die Idee vom intellektuellen Charakter des Krieges – hat für Sunzi auch die
militärische Aufklärung. Die Beschaffung der notwendigen Informationen mittels
des Einsatzes von Spionen nimmt hier großen Raum ein, ohne dass dabei Skrupel
erkennbar sind, denn: „Wer sich in der militärischen Aufklärung Versäumnisse
zuschulden kommen lässt, wird sogar als `Ausbund an Unmenschlichkeit´
bezeichnet, denn die Folgen dieser Versäumnisse sind unnötige Verluste an
Menschenleben und vermeidbare Niederlagen“ (115).
Gleich im Eingangskapitel werden fünf Qualitäten
als Anforderungen an einen tüchtigen Feldherren genannt: „Die Führung
verkörpert Weisheit, Glaubwürdigkeit, Menschlichkeit, Tapferkeit und Strenge“
(Kap. I). Auch hier zeigt sich der rationale Grundton des Werkes, das die
Weisheit an die erste Stelle rückt, weit vor der eher martialischen Tugend der
Tapferkeit.
Die Kunst des Krieges |
In dem Maße, in dem Sunzi die kühle Umsicht
verehrt, verabscheut er jede Art von ungezügelten Gefühlen. Weil diese allzu
häufig ins Verderben führen, darf sich der Herrscher oder Feldherr nicht von
Zorn oder Rachsucht leiten lassen: „Der Zorn kann nämlich wieder in Freude
umschlagen und die Rachsucht sich in Wohlgefallen verkehren, doch ein
untergegangenes Reich kann nicht wiederbelebt werden, und die Toten können
nicht wieder auferstehen“ (Kap XII).
Gleichwohl ist auch bei Sunzi der Stratege
der Herr einsamer Beschlüsse, der seine Pläne den Soldaten gegenüber geheim
hält. Sie bleiben Figuren auf dem Schachbrett, die von einem übergeordneten
Kopf geführt werden: Um den richtigen Zeitpunkt für das eigene Handeln zu
bestimmen, ist die genaue Beobachtung der Natur und die Besonderheiten der
Jahreszeiten ebenso von allergrößter Wichtigkeit, wie die Kenntnis der
menschlichen Psyche.
Selbstverständlich kennt auch Sunzi
angesichts der unendlichen Vielfalt möglicher Konstellationen kein
Patentrezept, das den Sieg in jeder Situation sicherstellt, doch zeigt er sich
überzeugt, dass am Ende derjenige die Oberhand behält, der sich auf die natürlichen
Gegebenheiten eingestellt hat: „Die Formation des Wassers meidet die Höhe und
strebt in die Tiefe, und siegreich bleiben die Truppen, indem sie die Fülle meiden
und in die Leere stoßen. Das Wasser nimmt seinen Lauf ganz nach der
Beschaffenheit des Geländes, die Armee erringt ihre Siege ganz in der
Einstellung auf den Gegner“ (Kap. VI).
Fast alle Beobachtungen und Anweisungen für
angemessenes Handeln sind Sunzi zufolge nicht auf das militärische Handwerk beschränkt,
sondern lassen sich problemlos auch auf allgemeine menschliche Handlungsmuster
übertragen. Insofern kann man den Traktat eben auch als zeitloses philosophisches
Werk lesen.
„Wer den Gegner kennt und sich selbst, wird
in hundert Schlachten nicht in Not geraten“ (Sunzi, Die Kunst des Krieges, Kap
III).
Es gehört in diesem Zusammenhang zu den
großen zivilisatorischen Leistungen Chinas, das Primat des Zivilen (wen) über das Militärische (wu) zu stellen und so die politische
Kontrolle über den Krieg bewahrt zu haben. Der Krieg wurde nicht als Norm, als
Normalfall verstanden, sondern als Normverletzung, als letztes Mittel, wenn
alle denkbaren politischen Maßnahmen nicht mehr griffen. Eine Verherrlichung
militärischer Heldentaten findet sich in der chinesischen Literatur daher eher
selten.
Der Zweck des Krieges liegt demzufolge nicht
in der Zerstörung des Gegners, sondern in der Beendigung der Kämpfe und der
Wiederherstellung der Ordnung.
Zitate
aus: Sunzi: Die Kunst des Krieges, Aus dem Chinesischen übertragen und mit
einem Nachwort versehen von Volker Klöpsch, Frankfurt a.M. 2009 (Insel Verlag)
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