Samstag, 2. Januar 2021

Louis Guisan und die individuelle Freiheit

 
Louis Guisan (1911–1998), von Beruf Rechtsanwalt, ist das geradezu perfekte Beispiel eines Liberalen mit starken Überzeugungen, eng vertraut mit der geistigen Tradition und dem Wesen des Liberalismus. Giusan war Regierungsrat des Kantons Waadt, Nationalrat, Ständerat, Präsident der Liberalen Partei der Schweiz und Direktor der ehemaligen, urliberalen Gazette de Lausanne (gegründet 1798). Sein Engagement in der Politik hinderte ihn gleichwohl nicht daran, seine grundlegende liberale Skepsis gegenüber der politischen Macht auszudrücken. Er sprach sich kompromisslos für die individuelle Freiheit und gegen Gleichmacherei aus.

Louis Guisan

Innenpolitisch liegt die Herausforderung für den liberalen Politiker bekanntlich darin, die Gesetzgebung auf deren einzigen Daseinsgrund zu beschränken, nämlich den Schutz der individuellen Freiheit: „Der Zweck der Gesetze besteht darin, den Ge-brauch der Freiheit sicherzustellen und `einen komfortablen Rahmen anzubieten, in dem der Bürger Herr über seine Handlungen bleibt´ und `nicht vor irgendeinem Vorhaben jemanden um Erlaubnis fragen muss´. Dies gilt für alle gleich. 

Damit der Gebrauch der Freiheit ohne irgendwelche Vorrechte garantiert ist, liegt `das wesentliche politische Gut´ in der Gleichheit vor dem Recht, von der selbst die staatliche Autorität abhängt, denn Willkür entzöge dem Staat jede Legitimität. „Ein Liberaler wird sich daher unablässig dafür einsetzen, die Gesetzgebung zu vereinfachen, sie schlüssig zu machen und möglichst klein zu halten, indem er jede Einengung der individuellen Freiheit in Frage stellt.“

Die gleichmässige Anwendung des Rechts hängt vor allem davon ab, wie der Staat die individuellen Eigentumsrechte definiert und schützt: „Das Eigentum `schafft eine Schutzschicht um jedes Individuum´. Dieser Grundsatz, angefangen beim Eigentum am eigenen Leib, den eigenen Fähigkeiten und den Früchten seiner Arbeit ist das geeignete Mittel, um die Freiheit eines jeden in einer freien Gesellschaft zu garantieren. Die Gerechtigkeit der Politik bemisst sich somit an der Höhe des Eigentumsschutzes, nicht an der Regulierungsdichte. Der Schutz des Lebens und der Freiheit aller geht allein aus dem Eigentum hervor. Die Politik dient diesem Ziel.“

Wer also verhindern möchte, „dass der Rechtsstaat seine Befugnisse übertritt und das individuelle Eigentum antastet, muss sich gegen die Intensität und das Tempo der Gesetzgebung zur Wehr setzen und Zurückhaltung fordern.“

Die Gefahr der Überregulierung für die Freiheit

Der Mensch kann nur frei sein und bleiben, wenn er den gesetzlichen Rahmen kennt, in dem er sich bewegt. „Sollte er eines Tages nicht mehr wissen, was gut und böse und was gesetzeskonform ist, weil die Gesetze zu zahlreich oder zu kompliziert sind, dann fällt er der Macht des Staates anheim, der allein das Recht kennt und über alles entscheidet. Dann füllt eine inflationäre Gesetzgebung die Gesetzesbücher und höhlt die persönliche Freiheit aus. Das Fortschreiten der Gesetze führt zum Niedergang des Rechts.“

Diese Dissonanz zwischen freiheitsbedrohenden Gesetzen einerseits und dem Recht auf Eigentum zur Erhaltung der Freiheit anderseits führt dazu, dass das Recht seine natürliche Berechtigung verliert, wenn es von einer grenzenlosen und willkürlichen Gesetzgebung in Beschlag genommen wird und am Ende nicht mehr die Freiheit schützt und das Eigentum garantiert, sondern zu deren Bedrohung geworden ist.

Die Degeneration des Rechts durch die Gesetzgebung ist nicht die Frucht eines Zufalls oder einer finsteren Macht, sondern die einer interventionistischen Politik, die sich von der Politik bis zur Verwaltung erstreckt und von Sonderinteressen genährt wird, die Bevorzugung und Schutz vor der Freiheit der anderen und vor dem wirtschaftlichen Wettbewerb suchen. „Die Parlamentarier werden nicht müde, Anfragen, Postulate und Motionen einzureichen. In der Verwaltung treiben die Beamten ihre Dienste zu immer größerer Perfektion. Jeder möchte für sich ein Gesetz: die Getreide- und die Weinproduzenten, die Eisenbahn- und die Straßentransporteure, die See- und die Flussfischer, die Primar-, die Sekundar- und die Hochschullehrer. Und sie möchten nicht nur Gesetze, sondern auch Verordnungen, Reglemente und Vorschriften.“

Aus der Maßlosigkeit der Gesetze und der Reglemente ergibt sich eine Reihe von Folgen: Der Interventionismus, der Subventionismus, der Dirigismus und der Protektionismus im Verbund mit der Erhebung von unbegrenzten Steuern schaden nicht nur der Wirtschaftsfreiheit und damit dem Wohlstand, sondern sie verstärken auch das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden. 

„Die Staatsmacht wird bald alle gegen sich haben: die Acker- und die Weinbauern, die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer, die Beamten und die Freischaffenden, die Importeure und die Exporteure, die alle nach Hilfe und Unterstützung rufen und sich dadurch selbst zu Knechten machen.“

Die Lösung ist einfach: Verzicht auf Gesetzgebung. „Im Allgemeinen ist es besser, kein Gesetz zu machen, denn ein jedes schränkt die Freiheit ein.“ Guisan veranschaulicht die Unbeweglichkeit, die sich aus der krankhaften Reglementierung ergibt, anhand eines praktischen Beispiels: „Nehmen wir an, es gäbe eine perfekte Baugesetzgebung, die alles vorschreibt: die Höhen- und Breitenmasse, die Materialien und die Farben, die Kosten und die Höhe der Mieten – gäbe es dann noch jemanden, der bauen möchte?“ In diesem Fall wäre der Bürger nicht mehr wirklich Bürger, sondern Untertan, denn er wäre nicht mehr frei. Er würde zu einem einfachen Objekt der Verwaltung: jemandem, der nur noch Gesetze und Reglemente befolgt.

Grenzenloser politischer Aktivismus der Politiker = Desillusion der Bürger!

Das Paradox des grenzenlosen politischen Aktivismus besteht darin, „dass der Staat, wenn er sich überall einmischt, nicht in der Lage ist, die Bevölkerung zu- friedenzustellen. Er wird vielmehr zum allseitig verhassten Feind, da er Verdruss und enttäuschte Erwartungen anhäuft. Daraus folgt, dass sich die Bürger von den öffentlichen Angelegenheiten abwenden.“ Dies erkläre nicht zuletzt auch die stets anwachsende Zahl der Desillusionierten und der Nichtwähler.

Da eine einzige Stimme in der Politik im Allgemeinen nichts bewirkt, kümmern sich die Leute vernünftigerweise vor allem um das, was sie direkt betrifft, und was sie tatsächlich kontrollieren können, wie etwa die Gründung einer Familie, den Kauf eines Autos oder eines Hauses sowie ihr berufliches Vorwärtskommen: „Die Bürger kümmern sich um ihre Privatangelegenheiten und erwarten nicht viel vom Staat, außer, dass dieser sich ihnen gegenüber sehr zurückhält. Initiativen der Staatsgewalt wecken ihr Mistrauen. Sie verlangen von ihr eher die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung als deren Veränderung zu ihrem angeblichen Vorteil. Die Stimmenthaltung liegt dann so hoch, dass man sagen kann, dass selbst die verführerischsten gesellschaftlichen Neuerungen immer nur von einer kleinen Minderheit im Volk gewollt werden.“ Dies relativiere auch das kollektivistische Märchen eines `Volkswillens´, der einer Reihe politischer Vorhaben zweifelhafte Legitimität verleiht. 

Die politische Mehrheitsregel sollte sich auf einige große Fragen beschränken, die eine kollektive Entscheidung verdienen; der Rest gehört in die Privatsphäre. „In einem allgegenwärtigen Staat, in dem persönliche Fragen kollektiviert worden sind, hält sich die Mehrheit bei Wahlen und Abstimmungen oft zurück, insofern dass die Auswahl oft gar keine echte Wahl ist. Kommt hinzu, dass es bei politischen Kompromissen oft nicht möglich ist, mit ja oder nein zu antworten, da das geringere Übel nicht immer überzeugt.“

Das Fehlen von Nuancen im politischen Entscheidungsprozess und sein Eingriff ins Privatleben führt deshalb ein Stück weit zur Tyrannei des Status Quo beziehungsweise zur Abhängigkeit von den organisierten Interessen.


„Die Lösung besteht darin, sich zuerst von der Illusion zu befreien, dass alles, was `von oben´ organisiert wird, am besten, am effizientesten und am vernünftigsten herauskommt; dann, ein System von unten nach oben zu bauen, beginnend bei den Anwendern und Eigentümern, über die Gemeinden und Kantone bis schließlich zur Eidgenossenschaft, und den übergeordneten Stufen nur anzuvertrauen, wozu die unteren Stufen zu lösen nicht berufen sind. Nur so wird die Politik in Zukunft die Entscheidungen so nah wie möglich bei den Menschen fällen.“

Zitate aus: Pierre Bessard, Erst denken, dann handeln. Liberale in der Politik,  LI-Essay, Liberales Institut, Zürich 2017

Donnerstag, 15. Oktober 2020

Harmodios, Aristogeiton und die Demokratie


Allen Diktatoren, Tyrannen und autoritären Regierungen gewidmet 
- denen vergangener Zeiten und denen von heute!


Selbst demokratische und republikanische Gemeinschaften, deren politisches System auf der Freiheit des Einzelnen bzw. auf der Beteiligung vieler an der Politik fußt, benötigen zuweilen mythologisierte Gründungsakte, die erinnert und rituell erneuert werden, um einen Grundkonsens ihrer Mitglieder und die kollektive Identifikation mit dem politischen System zu gewährleisten.

Häufig bestehen solche Gründungsakte in der Tat einzelner Freiheitshelden, also Menschen, die als Befreier von einer nicht-freiheitlichen Ordnung verehrt werden. Im antiken Athen des 5. Jhs. v. Chr. hat man den Gründungsakt der Demokratie in der Befreiungstat zweier Bürger der Stadt gesehen, der Tyrannentöter Harmodios und Aristogeiton.

Bei der Festprozession der Panathenäischen Spiele des Jahres 514 v. Chr. verübten Harmodios und Aristogeiton ein Attentat auf den Tyrannen Hipparchos und kamen dabei selbst ums Leben. Harmodios, der jüngere der beiden Attentäter, wurde sofort getötet, Aristogeiton verhaftet, gefoltert und hingerichtet. Der Bruder des ermordeten Herrschers, Hippias, setzte die Tyrannis fort und wurde von Mitgliedern der aristokratischen Familie der Alkmaioniden mit spartanischer Hilfe erst 510 v. Chr. vertrieben. Dies bildete den Auftakt der politischen Reformen des Kleisthenes im Jahr 508/7 v. Chr. und führte in den folgenden Jahren zu einer Demokratie, die sich nach Athens Erfolgen in den Perserkriegen zwischen 490/80 und 460 v. Chr. stabilisierte.

Schon aus dem ausgehenden 6. Jh. v. Chr. sind Skolia überliefert - also anlässlich eines Symposions vorgetragene Lieder als Beitrag zur geistigen Erbauung der Teilnehmer -, die die das Attentat als Befreiung Athens und Gründungsakt der sogenannten Isonomie (‚Gleiches Gesetz für alle Bürger‘) rühmten.

In der ersten historischen Darstellung des Geschehens bei Herodot (gegen 440–430 v. Chr.) werden die Alkmaioniden als die eigentlichen Befreier Athens gefeiert. Harmodios und Aristogeiton hätten durch den Mord des Hipparchos lediglich die Familie der Tyrannen in Zorn versetzt und der Gewaltherrschaft keineswegs ein Ende bereitet. Thukydides dagegen liefert eine pikantere Version des Attentats. Hippias sei der tyrannische Herrscher gewesen, während der ermordete Hipparchos sein jüngerer Bruder war. Dieser sei in Liebe zu dem jungen Harmodios entbrannt gewesen, der wiederum der Geliebte des Aristogeiton war. Als Harmodios seine Liebe nicht erwiderte, habe Hipparchos seine Wut über die Zurückweisung an dessen Schwester ausgelassen. So habe Harmodios aus Rache und Aristogeiton aus Eifersucht das Attentat auf Hipparchos verübt, während sie sich an Hippias nicht herangewagt hätten. Dieser habe dann noch drei Jahre eine Schreckensherrschaft über Athen ausgeübt, bis er auf Veranlassung der Spartaner von den verbannten Alkaioniden vertrieben worden sei.

Gleichwohl hat sich schließlich die Erinnerung an die Tat als außerordentlichen Befreiungsakt relativ bald durchgesetzt und die beiden Tyrannentöter wurden als demokratische Gründungsheroen anerkannt.

Es war Platon, der im früheren 4. Jh. v. Chr. die homoerotische Beziehung der Attentäter und ihren Einsatz für die Demokratie miteinander verknüpfte. Im Symposion steht das Paar für die idealistische Kraft homoerotischer Liebe. Auch im pseudoplatonischen Hipparchos konkurrieren die homoerotische und demokratische Motivation der Tötung nicht. 

Im späten 5. Jh. lobten indes athenische Redner wie Andokides in seinem Werk "Über die Mysterien" die beiden Attentäter als beispielhafte Tyrannentöter, und zwar in einer Zeit, wo man die Tyrannis als größte Gefahr für die Demokratie ansah. Im Jahr 343 v. Chr. waren die Frontstellungen in Athen schließlich so geklärt und Personenkulte selbst in der Demokratie so fortgeschritten, dass Demosthenes in seinen Reden vor der Volksversammlung Harmodios ungehindert zur Gruppe derer zählen konnte, die von den Athenern für ihre Wohltaten Statuen, Trankopfer und Hymnen erhielten und von ihnen wie Götter und Heroen verehrt wurden.

Der Diskurs um die Befreier erhielt auch in Athen eine geradezu sakral-religiöse Komponente. In der Nähe der späteren Staatsgrabmäler der Gefallenen lag das vermeintliche Grab des Harmodios und Aristogeiton. Dort wurden Opfer für die Attentäter dargebracht und zwar gleichzeitig mit Opfern für die Bürgersoldaten, die ihr Leben für die Polis gelassen hatten. Die Erinnerung an die im Krieg für Athen gefallenen Bürger wurden also bewusst mit den Befreiungshelden verbunden.

Bereits kurz nach der Vertreibung des letzten Tyrannen im Jahre 509 v. Chr. rrichteten die Athener auf der Agora, dem zentralen Platz ihrer Polis, Bronzestatuen des Harmodios und Aristogeiton. Die außerordentliche Symbolik dieser Skultpren des Bildhauers Antenor zeigt sich darin, dass damit erstmals überhaupt Bildnissen von Sterblichen Platz im politischen Raum einer griechischen Polis gegeben wurde. Bedauerlicherweise raubten die Perser die Statuen bei der Brandschatzung Athens im Jahre 480/79 v. Chr., aber bereits 477/6 v. Chr. wurden neue Bronzestatuen der Attentäter am selben Ort, nicht weit von der Stätte des Attentats, errichtet, noch bevor Athen wiederaufgebaut war. Ein Denkmal für die Befreier von der Tyrannis war offensichtlich mittlerweile unverzichtbar geworden.

Die beiden Statuen, von denen Kopien aus späterer Zeit erhalten sind, stammten aus der Werkstatt des Kritios und Nesiotes. 


Harmodios und Aristogeiton
(Römische Marmorkopie, Archäologisches Museum Neapel)



Leicht überlebensgroß stehen Harmodios, der Unbärtige, und Aristogeiton, der Bärtige, beide nackt und im Ausfallschritt vor ihren Betrachtern. Der Jüngere hat das Schwert zum Schlag erhoben. Der Ältere gewährt ihm Deckung und hat die Waffe zum Stoß gezückt. Unterhalb der Statuen las man auf der Steinbasis eines der Preislieder auf die Attentäter, die sie als Licht ihrer Heimat priesen.

Die Gestaltung des Denkmals enthält klare Bezüge, die von den damaligen Betrachtern sofort erkannt wurden: Die an Athletenbilder erinnernde Nacktheit und die dadurch sichtbaren trainierten Körper schrieben den beiden Attentätern die aristokratische kalokagathia - „das Schöne und Gute“ - zu, eine Idee, die physische Qualität mit ethischer Gesinnung verband. Der explizit gemachte Altersunterschied verwies auf ihre homoerotische Beziehung, eröffnete aber auch die Identifikation für alle Altersgruppen der männlichen Bürger; der Jüngere fungiert dabei als Modell des mutig Zuschlagenden, der Ältere als das des besonnen Agierenden.

Mit dem Denkmal wurde die Gemeinschaft und Verbundenheit von zwei Bürgern geehrt, nicht die Leistung eines einzigen. Der Tyrann bleibt unsichtbar. Vielmehr stand der Betrachter an seiner Stelle in der Rolle des angegriffenen Opfers, so dass das Monument jeden Betrachter davor warnte, nach einer Tyrannis zu streben.

Die Statuen hoben die Helden also in zeitloser Form heraus, distanzierten sie ikonographisch vom alltäglichen Bürgerhabitus und ordneten sie – obwohl sie für die Demokratie standen – aristokratischen Idealen zu. Vor allem aber gaben sie ihrem Handeln ein dauerhaftes und mahnendes Beispiel. 

Die Erinnerung an die Tyrannentöter im öffentlichen Raum Athens wurde vom frühen 5. Jh. v. Chr. ergänzt durch die Erinnerung beim semiprivaten Symposion, die die Skolia sprachlich bereits für das späteste 6. Jh. v. Chr. bezeugt hatten. „Den Harmodios singen“ konnte im späten 5. Jh. zum Synonym für ein Gelage werden, so Aristophanes in seinem Werk Acharner. 

Aufgrund seines aristokratischen Charakters versicherte sich beim Gastmahl eine elitäre Gruppe von Bürgern ihrer Überlegenheit und reklamierte die Tyrannenmörder auch für sich. Auf einem Vorratsgefäß für Wein – einem Stamnos – , den man bei einem solchen Gelage benutzte, um Wein und Wasser zu mischen, wurde tatsächlich das Attentat dargestellt: Der bärtige Aristogeiton ersticht Hipparchos, Harmodios holt zum Schlag aus. Alle drei sind durch ihre Mäntel als Bürger gekennzeichnet; der Tyrann ist nur andeutungsweise luxuriöser gekleidet. Im Kontext des Symposions wird der tyrannische Charakter des Opfers so eher heruntergespielt, die Leistung des älteren, also erwachseneren Attentäters wird hervorgehoben. Zudem erinnert man der Tat in einer Form und auf einem Gefäß, wo sonst vielfach die großen Taten mythischer Heroen zur Darstellung kamen.


Harmodios und Aristogeiton ermorden den Tyrannen Hipparchos
(Martin-von-Wagner Museum der Universität Würzburg)



Im Laufe des 5. Jhs. v. Chr. stellte man die Statuen, wie es an der Basis unter ihren Füßen erkennbar ist, als Schildzeichen der Figur der Stadtgöttin Athena auf Ölamphoren dar, die in Athen die Sieger bei den Panathenäenspielen gefüllt als Preise bekamen – genau im Jahr nach einem anti-demokratischen Umsturzversuch, als man die Demokratie wiederhergestellt hatte. Die Statuen der Tyrannenmörder wurden in dieser Krisensituation zum Zeichen der demokratischen Polis, die die Stadtgöttin selbst im Kampf schirmten. 

Auch die spätere Geschichte der Stauen auf der Athener Agora wirft ein bezeichnendes Licht auf die Heroisierung der Befreier: Einerseits wurde seit dem 4. Jh. v. Chr. ein Areal um das Statuenpaar von anderen Statuen freigehalten – vor allem kamen ihnen keine anderen Bildnisse nahe, die man für Wohltäter der Polis errichtete. Sie erhielten so auch räumlich einen außeralltäglichen, geradezu sakrosankten Charakter. 

Diese Regel wurde nur durchbrochen, wenn man solche Personen ehren wollte, die ebenfalls als Befreier bezeichnet werden konnten, z.B. nach 307 v. Chr.die hellenistischen Könige Antigonos und Demetrios, aber auch nach 44 v. Chr. die Caesarmörder Marcus Brutus und Gaius Cassius. Allein schon die Nähe zu den Heldendenkmälern konnte der Heroisierung anderer als ‚Befreier‘ dienen, der Platz um die Tyrannenmörder war ein heroisch aufgeladener städtischer Raum.

Auch in Rom im Tempel der Fides (Treue) wurden im 1. Jh. v. Chr. auf dem Kapitol Statuen von Homodios und Aristogeiton aufgestellt, also in einer Zeit der Konflikte um Republik und Herrschaft von Einzelnen in Rom, zu denen auch die Ermordung von Caesar gehörte. 

Die Denkmäler der Tyrannenmörder waren also in Rom und vor allem in Athen langfristig ein sichtbares Zeichen  für die Befreiung von einer Alleinherrschaft und in Athen zudem auch ein Symbol der demokratischen Verfassung. Damit besitzen die Ehrenstatuen, die man ihnen in Athen errichtet hatte, bleibende und zeitlose Bedeutung als Ikonen der Stadt und der politischen Befreiung der Menschen von Unterdrückung und Tyrannei.


Zitate aus: Peter Eich / Ralf von den Hoff / Sitta von Reden: „Freiheitsheld (Antike)“. In: Compendium heroicum. Hg. von Ronald G. Asch, Achim Aurnhammer, Georg Feitscher und Anna Schreurs-Morét, publiziert vom Sonderforschungsbereich 948 „Helden – Heroisierungen – Heroismen“ der Universität Freiburg, Freiburg 11.06.2019. DOI: 10.6094/heroicum/fhhd1.0 - https://www.compendium-heroicum.de/lemma/freiheitsheld-antike/ (zuletzt eingesehen am 11.10.2020)

Donnerstag, 8. Oktober 2020

Ulrich Sarcinelli und die digitale Gesellschaft im demokratischen Staat (Teil 2)




Im Sekundentakt werden Nachrichten durchs Internet geschleust. Das bringt die Politik mit ihren langsamen Denk- und Entscheidungsprozessen in Zugzwang. Sie muss Lösungen finden, wie sie den "digitalen Menschen" überhaupt noch erreichen kann. Gleichwohl haben sich die ‚Spielregeln‘ des Kommunikationsbetriebs im Zuge der Digitalisierung dramatisch verändert und so stellt Ullrich Sarcinelli in seinem Beitrag für die Reihe SWR2-Wissen die Frage, was der Staat bei der Steuerung und Gestaltung der Kommunikationsverhältnisse heute tun könne.


Ulrich Sarcinelli (* 1949)
„Zunächst einmal unterliegt er Einschränkungen, die sich aus der Verfassung ergeben. Denn Informations- und Meinungsfreiheit, eine staatsunabhängige Presse und alle damit verbundenen institutionellen Voraussetzungen, das alles gehört zur DNA freiheitlicher Gemeinwesen. Der Staat gewährleistet diese verfassungsrechtlichen Grundlagen und schafft presse-rechtliche Rahmenbedingungen. Seine Spielräume, dabei auch die notwendigen ökonomischen Voraussetzungen für eine leistungsfähige Medien-landschaft zu sichern, sind hingegen begrenzt.“

 

Es gehöre daher zur staatlichen Verantwortung, die Voraussetzungen für eine Öffentlichkeit zu schaffen, die freie Meinungsbildung gewährleistet. „Das ist leichter gesagt als getan in einer Zeit, in der sich die Informationsinfrastruktur der alten liberalen Demokratie grundlegend verändert hat: durch digitale Plattformen, durch Medienunternehmen neuen Typs wie Google, Facebook, Youtube u.a.m. Dabei handelt es sich um privatwirtschaftlich organisierte Weltkonzerne, die sich zu international wirkmächtigen Meinungs-maschinen entwickelt haben.“

 

Diese „Suchmaschinen und Internetanbieter agieren nicht wie Post oder Telekom als neutrale Plattformen, sondern als Informationsanbieter, die Öffentlichkeit nach ihren eigenen Regeln und Normen herstellen. Vor allem mit den sogenannten Sozialen Medien sind neue Kommunikationsräume entstanden. Diese stellen eine Art publizistisches Paralleluniversum dar, das der alten – auf den klassischen Journalismus gestützten – Öffentlichkeit immer stärker die Agenda vorgibt. Das bedroht dann nicht nur massiv die ökonomischen Grundlagen der herkömmlichen Medien, sondern berührt auch die Frage nach der politischen Verantwortung für die Gewährleistung transparenter und freiheitlicher Kommunikationsverhältnisse. Vor allem darin liegt die große Herausforderung einer neuen Ordnungspolitik für den digitalen Kapitalismus.“

 

Der Grund dafür, warum sich der liberale Verfassungsstaat mit der Gestaltung der digitalen Kommunikationsverhältnisse so schwertut, liegt Sarcinelli zufolge darin, „dass das freiheitlich verfasste Gemeinwesen auf Machtbegrenzung setzt, auf Verantwortungsteilung und auf die rechtliche Sicherung individueller und kollektiver Freiheiten. Das betrifft nicht nur die Informations- und Meinungsfreiheit, sondern eben auch die Freiheit des Eigentums und der wirtschaftlichen Betätigung. Dies begrenzt ausgreifende Steuerungsfantasien, ersetzt aber nicht die Steuerungsverantwortung der Politik.“

 

„Die literarische Verarbeitung digitaler Horrorvisionen mag von der Wirklichkeit ziemlich weit entfernt liegen“, aber totalitäre Steuerungsfantasien im Stile von George Orwells `1984´ haben jüngst wieder ihren literarischen Ausdruck gefunden in dem dystopischen Digitalalptraum `Der Circle´ von Dave Eggers oder in Martin Burckhardts Roman `Score´, die einen fiktionalen Blick auf den sanften Totalitarismus im digitalen Zeitalter geben.

 

Dave Eggers: The Circle (2013): Totalitäre Steuerungsfantasien ...

Der Blick in die fiktionale Literatur könne also durchaus für politische (Fehl-)Entwicklungen sensibilisieren. Schließlich zeige die Entwicklung in anderen Ländern, dass mit der Digitalisierung nicht unbedingt die Einlösung von Freiheitsversprechen einhergeht. „Denn es gibt bereits exportfähige Alternativen digitaler Herrschaft, die in Konkurrenz zum Modell westlich-liberaler Systeme stehen. Beispiel China.

 

In China wird ein solches Alternativmodell seit einigen Jahren erprobt – unter der verharmlosenden Bezeichnung `Sozialkreditsystem´. Es geht dabei um die Entwicklung von Werkzeugen für eine verbesserte Sozialkontrolle […]. Dahinter steckt eine enzyklopädische Datenerfassungsinfrastruktur, in der mittels künstlicher Intelligenz Informationsquellen (z.B. von Gerichten, Steuerbehörden, Banken, Krankenkassen, Verkehrsbehörden, sozialen online- Netzwerke etc.) bis hin zur Gesichtserkennung im öffentlichen Raum erfasst und zur Grundlage von Sozialbewertungen gemacht werden; etwa, wenn Informationen aus unterschiedlichsten Lebensbereichen – Zahlungsmoral, Einkaufsgewohnheiten, digitale Surf- und Kommunikationsgewohnheiten sowie das Sozialverhalten im Allgemeinen, im Straßenverkehr, bei der Arbeit, in der Schule, in der Freizeit – zu einem Persönlichkeitsprofil zusammengeführt werden. Konformität kann so mit verbesserter Kreditwürdigkeit, beruflichem Aufstieg oder besonderer Anerkennung belohnt und unerwünschtes Verhalten entsprechend sanktioniert werden.“

 

Diese Art von kybernetischer Politik laufe letztlich auf Verhaltenslenkung durch extensive Verwendung von Nutzerdaten hinaus. Die Bürger würden so zu Komplizen der eigenen Überwachung, eine besonders raffinierte Form daten-gestützter totalitärer Herrschaft.

 

Das chinesische Beispiel zeige mit erschreckender Deutlichkeit, dass es alternative und mit unseren Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit unvereinbare Ordnungsvorstellungen zum Verhältnis von Staat und Internet durchaus gibt. „Hier wird die liberale Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen Herrschaft und Freiheit aufgelöst, ja umgekehrt. Rechte werden gekoppelt an den im Sozialkreditsystem erwirtschafteten „Wert“ des Menschen. Nicht der Bürger muss dem System vertrauen können, sondern das System muss – möglichst messbar – Vertrauen in den Bürger haben. Die Perfektion dieser Art von digitalem Totalitarismus wäre dann erreicht, wenn durch die staatliche Rundumkontrolle auch noch das Gefühl der individuellen Freiheit vermittelt wird.“

 

Davon sei, so Sarcinelli, das westliche Rechtsverständnis zum Glück dann doch weit entfernt, auch wenn die freiwillige Weitergabe von Daten (z.B. Gesundheitsdaten, Bewegungsdaten, Daten zum Freizeitverhalten etc.) inzwischen auch in Demokratien voranschreite. Aber rechtliche Barrieren wie die europäische Datenschutz-Grundverordnung sind ein wichtiger Schritt, um Informations-gewinnung zum Zwecke der Verhaltenssteuerung bzw. Gratifikation bei Nutzung individueller Daten entgegenzuwirken, denn es geht schließlich darum, das Recht auf den Schutz personenbezogener Daten mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung und Informationsfreiheit in Einklang zu bringen.

 

Dennoch „scheint die Verunsicherung auf staatlicher Seite, was den Umgang mit den digitalisierten Kommunikationsräumen anbelangt, ziemlich groß […] Offenbar besteht in der Politik erheblicher Beratungsbedarf.“ Vermutlich wird der Wandel „nicht allein technikdeterminiert sein wird, sondern von vielfältigen institutionellen und politisch-kulturellen Faktoren abhängen. Die Horrorvision, dass die digitale Kommunikationsgesellschaft durch und durch nur noch ein Produkt einer durch Algorithmen definierten Computer-Welt sein werde, ist jedenfalls mit den Vorstellungen einer `offenen Gesellschaft´ (Karl Popper - Link) und einer liberalen Demokratie nicht vereinbar.“

 

Natürlich biete Digitalisierung neue Chancen zur `Selbstorganisationsfähigkeit demokratisch-liberaler Gesellschaften´ […]. Aber gegenüber der allzu euphorischen Vorstellung, die Digitalisierung führe in eine Art Demokratie 4.0, eine „Smart Democracy“, ist jedoch Skepsis angebracht. Die Zeiten, in denen das Hoch-geschwindigkeitsmedium Internet allzu schlichte sozialromantische Vorstellungen von individueller Autonomie und Demokratisierung beflügelt hat, scheinen vorbei zu sein. […]

 

Skepsis gegenüber euphorischen Vorstellungen von Smart Democracy 4.0

Das Netz mag den Glauben nähren, man könne die traditionellen Eliten durch eine neue digitale Polis ersetzen, die ohne die alten Institutionen der Repräsentativ-demokratie auskäme […]. Das Internet erleichtert zwar den Informationszugang, die Erreichbarkeit und den kommunikativen Austausch innerhalb und mit der Politik.“

 

Das Netz werde aber auch zunehmend zu einem Stressfaktor: „Mehr und mehr wird die eher zeitintensive demokratische Willensbildung und Entscheidungs-findung einem medien- und netzgetriebenen Reiz-Reaktions-Druck ausgesetzt, nicht selten im Twitter-Modus. – Von den nationalen und internationalen Verwerfungen infolge der morgendlichen Tweets des amerikanischen Präsidenten ganz zu schweigen.“

 

So könnte sich die Wechselwirkung zwischen `Beschleunigung und Entfremdung´ als Grundphänomen des modernen sozialen Lebens als eine der größten Herausforderungen für Gesellschaft und Demokratie erweisen. So würde gerade die soziale, kulturelle und wirtschaftliche Dynamisierung in der Moderne zu einer „progressiven Verlangsamung demokratischer Willensbildung und Entscheidungsfindung“ führen. „Man kann auch sagen: zu einem rasenden Stillstand. Es passiert scheinbar viel, aber es bewegt sich nichts! Die politische Welt und die technologisch-ökonomische Welt, sie entwickeln sich nicht nur in unterschiedlichem Tempo. Sie bewegen sich auch auseinander.“

 

Sarcinelli gibt zu bedenken, dass die Welt der `Entscheidungspolitik´ und das Bild medien- bzw. internetvermittelter `Kommunikationspolitik´ sich durch die digitale Beschleunigung noch weiter entkoppeln könnten. „Denn offensichtlich ist, dass die `Kultur der Digitalität […] anderen Gesetzen folgt als die politische Kultur im liberalen Rechtsstaat. Wie bei jeder medientechnologischen Revolution bleibt deshalb die Ambivalenz, dass auch die digitale Beschleunigung politische Aufklärung ermöglichen und zugleich die Chancen für kollektive Täuschung erhöhen kann.“

 

Hier gehe es auch um das Informationsverhalten der Bürger, die „sich zunehmend in Teilpublika zerstreut, meinungskonformer Spezialangebote bedienen und in abgeschotteten Kommunikationsräumen die Bestätigung der eigenen Position finden kann – und seien sie noch so absurd. Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass sich mit der Digitalisierung, mit den Möglichkeiten, sich überall und jederzeit über alles Informationen zu verschaffen, auch das Gefühl einer gut informierten Orientierungslosigkeit einstellt.“

 

Voraussetzung für demokratische Meinungsbildung aber sei vor allem politische Urteilskraft und diese beruhe nicht allein auf Informationen, „sondern auf der Fähigkeit, Unterscheidungen zu treffen und Wichtiges von weniger Wichtigem zu trennen. Informieren und gewichten, dies vor allem war die Aufgabe von Qualitätsmedien. Ihnen kam als `Informations-Marken´ – bisher zumindest – eine wichtige Orientierungsfunktion zu. Inzwischen sieht sich der professionelle Journalismus seiner Gatekeeper-Rolle, seiner Schleusenwärter-Funktion, beraubt.“

 

Politische Urteilskompetenz: Unterscheiden und gewichten!

Twitter, Facebook und andere social-media-Angebote würde nicht mehr nur als bloße Plattformen genutzt. Für immer mehr Menschen sind sie zur maßgebliche Nachrichtenquelle geworden. Aber: Die Sozialen Netze „befördern die Kommunikation unter Gleichgesinnten und setzen Themen. Erinnert sei nur an die im Netz beflügelten Lügenpresse-Kampagnen, an die unseligen Fake-News-Debatten und an die Verbreitung von sogenannten Social Bots. Das sind algorithmusgesteuerte Meinungsproduzenten, mit denen adressatengenau politischer Einfluss ausgeübt wird.“

 

Gleichwohl ist es in den Augen von Sarcinelli zu alarmistisch, vor einem `Kommunikationsinfarkt“ […] zu warnen und gleich von `Empörungsdemokratie´ oder von einer Entwicklung zur `Erregungsdemokratie´ zu sprechen“, denn solche pauschalen Zeitdiagnosen mögen zwar talkshow-tauglich sein, „doch lenken sie von der großen politischen Aufgabe ab, eine neue Legitimationsarchitektur für die digitale Kommunikationsgesellschaft zu entwerfen.

 

Es geht um Politik im Netz und für das Netz; eine Politik, welche die Grundlagen der `offenen Gesellschaft´ (Popper) schützt und liberale Verfassungsstaatlichkeit nicht gegen, sondern in und mit der digitalen Welt sichert.“

 

 

Zitate aus: Ullrich Sarcinelli: „Der demokratische Staat und die digitale Gesellschaft“, SWR2-Wissen, Sendung vom 17. Februar 2019

Donnerstag, 1. Oktober 2020

Ulrich Sarcinelli und die digitale Gesellschaft im demokratischen Staat (Teil 1)


Im Sekundentakt werden Nachrichten durchs Internet geschleust. Das bringt die Politik mit ihren langsamen Denk- und Entscheidungsprozessen in Zugzwang. Sie muss Lösungen finden, wie sie den "digitalen Menschen" überhaupt noch erreichen kann.

 

Ulrich Sarcinelli (* 1946)
Wir leben in einer Zeit, in der zwei politische Kommunikationskulturen miteinander – besser nebeneinander – existieren: Die traditionelle Diskussionskultur der Parlamente, der TV-Talkshows oder auch des direkten Gespräches zwischen Politikern und Bürgern. Daneben gibt es die digitale Kommunikation, meist in Form einer rasanten, auf Schwarz-Weiß-Malerei basierten und unkontrollierbaren Empörungskultur in den Sozialen Medien. Und genau diese neue digitale Kultur könnte den demokratischen Staat gefährden, weil sie völlig andere Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen etabliert, so die These von Ulrich Sarcinelli in seinem Beitrag für die Reihe SWR Wissen.

 

Für Sarcinelli scheint die Diagnose klar, zumindest aus juristischer Sicht: „In Zeiten des Internets, dieser geographisch und sozial grenzenlosen Universalplattform, hat der Staat, der Nationalstaat zumal, an Macht eingebüßt. Das gilt für seine drei Kernelemente: für das Staatsgebiet, das Staatsvolk und für seine Staatsgewalt. Von Kontrollverlusten und Staatsversagen ist deshalb allenthalben die Rede, von Souveränitätseinbußen und Legitimitätsdefiziten.“

 

So entsteht zwangsläufig die Frage, ob der Staat in Zeiten des digitalen Wandels zum Auslaufmodell, zu einem „postfaktischen“ Phänomen wird. Die Vorstellung vom Staat als Auslaufmodell ist in historischer Sicht keineswegs neu! So haben Fichte, Marx und Engels, Nietzsche und vor allem Carl Schmitt den Untergang des Staats prognostiziert. Für Schmitt beispielsweise sei der Staat im Übergang zur liberalen Massendemokratie „als Träger der souveränen Staatsgewalt einem Ansturm vieler Kräfte und Mächte ausgesetzt. Im gesellschaftlichen Pluralismus schwinde der Dualismus von Staat und Gesellschaft und damit ein zentrales Unterscheidungsmerkmal des Politischen […]. Schmitts Befund, dass das Politische weit mehr ist als das Staatliche, gilt heute – und zwar mit Blick auf innerstaatliche wie auf zwischenstaatliche und multilaterale Politikverflechtungen – als eine Binsenweisheit.“

 

Für die belgische Politiktheoretikerin Chantal Mouffe dagegen ist der Staat kein postnationales Auslaufmodell. Sie fordert „die Schaffung einer lebendigen Sphäre des öffentlichen Streits“ und wendet sich „damit gegen den Traum progressiver Gesellschaftswissenschaftler (z.B. Ulrich Beck, Antony Giddens, Collin Crouch, Jürgen Habermas u.a.) von einer versöhnten Welt, in der Macht, Souveränität und Hegemonie als überwunden gelten. In ihrer jüngsten Streitschrift spricht sie sich sogar `Für einen linken Populismus´ […] aus, mit klaren Frontlinien und Polarisierung. Chantal Mouffe stellt damit den linken Populismus auf rechte Füße und bringt den Nationalstaat gegen Brüssel in Stellung.“

 

Die Frage ist nach Sarcinelli durchaus berechtigt, ob wir inzwischen den „Leviathan“ – hier verstanden als Staat als durchsetzungsfähige Ordnungsmacht mit Gewaltmonopol – nicht doch vermissen. „Nicht nur die anhaltende Debatte über die Flüchtlingsfrage gibt der Diskussion über Staatsversagen und Steuerungsverlust immer wieder Nahrung. Gleiches gilt für die Unfähigkeit zur Regulierung der internationalen Finanzmärkte, für die Klimapolitik und viele andere Politikfelder. Hier werden nicht nur die Grenzen rein staatlicher Handlungs-kompetenz deutlich, sondern auch die Grenzen im Rahmen europäischer und multilateraler Regelungen.“

 

Thomas Hobbes: Der Leviathan (Titelbild der Erstausgabe 1651) 


Dennoch hält Sarcinelli am Staat als der zentralen demokratischen Legitimationsinstanz fest. Obwohl wir in einem Zeitalter hoher Unsicherheit leben, „in einer Zeit, in der Rechtsstaatlichkeit nur in einem Geflecht von nationalen und suprainternationalen Regelungen geschützt werden kann, wo die Kontrolle der Staaten über ihre Ressourcen trotz Steuerhoheit und Gewaltmonopol zunehmend eingeschränkt wird, in einer Zeit aber auch, in der die Widerstände gegen Souveränitätsverluste national und international zunehmen“, erfolge demo-kratische Legitimation immer noch weitgehend auf nationaler Ebene. „Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die politische Architektur von Staatlichkeit verändert hat.“

 

Das sei übrigens kein Phänomen der Gegenwart. „Die Unterscheidung zwischen Staatlichkeit und Souveränität begleitet die deutsche Geschichte seit der Reichs-gründung. Neben der gesamtstaatlichen Souveränität des Bundes haben die Glieder, die Bundesländer in Deutschland, ihre Staatlichkeit behalten, bis heute. Das zeigt der deutsche Föderalismus mit seinen bisweilen mühsamen Kooperations- und Entscheidungsmechanismen.

 

Wenn es um staatliche Ordnungen geht, sind wir vielfach mit einem `komplexen Patchwork´ […] von Verträgen und Mitgliedschaften konfrontiert, mit jeweils eigenen Normen und Regeln. Von der engen Einbindung Deutschlands in den europäischen Staatenverbund ganz zu schweigen. Es gibt also viel mehr und ganz andere Arrangements hoheitlicher Herrschaft als den Nationalstaat.“

 

Dies führt verfassungsrechtlich zwangsläufig zu einer gewissen „Verantwortungs-diffusion“, die nicht selten als politisches Verantwortlichkeits-durcheinander wahrgenommen werde. „Das ist alles andere als trivial. Denn die Zuschreibung von Verdiensten wird ebenso erschwert wie die gezielte politische Sanktionierung im Wege demokratischer Wahlen. Letztlich geht es um eine veränderte „Architektur moderner politischer Ordnungen.“

 

Folglich gibt es heute eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Staatsauffassungen und Souveränitätskonzepten. „Sie reichen von Versuchen, den Staat als Ort des Politischen zu reanimieren bis hin zu postnationalen Abgesängen auf den Staat. Und dazwischen steht ein ‚bunter Strauß‘ mit differenzierten Arrangements hoheitlicher Herrschaftsausübung. Das alles gilt es in den Blick zu nehmen, wenn über die Rolle des Staates im Internetzeitalter nachgedacht wird. Halten wir zunächst einmal fest: Staatlichkeit verändert sich. Der moderne Staat ist Teil eines multinationalen, verflochtenen Systems. Aber der Staat verschwindet nicht einfach.“

 

Die Frage ist nun, welche Bedeutung diese staats- und politiktheoretischen Entwicklungen für die Gestaltung eines Gemeinwesens in Zeiten der Digitalisierung besitzen. Die These Sarcinellis lautet: „Auch in der globalisierten und digitalisierten Welt löst sich die politische Geographie nicht auf. Der Staat bleibt die zentrale Legitimationsinstanz.

 

"Der Staat bleibt die zentrale Legitimationsinstanz."

Trotz Transnationalisierung bleibt der Staat auch in Zeiten der geographisch unbegrenzten medialen Universalplattform Internet der maßgebliche kommu-nikative Bezugsrahmen für politische Akteure ebenso wie für uns Bürger. Denn öffentliche Diskurse über politische Themen finden ganz überwiegend innerhalb nationaler Gemeinschaften statt. Selbst in der Europäischen Union kann von einer entwickelten europäischen Öffentlichkeit keine Rede sein.“

 

So könne es auf nicht absehbare Zeit nur im staatlichen Kontext gelingen, gleichermaßen eine für die solidarische Produktion kollektiver Güter notwendige Sozialintegration und eine für die Durchsetzung bindender Entscheidungen erforderliche Systemintegration zu erreichen. „Bei allen Integrationserfolgen gilt dies sogar für die Staaten der Europäischen Union.“

 

„Trotz internationaler Kooperation, Verflechtung und Verantwortungsteilung unterliegt demokratische Politik in letzter politischer Konsequenz nur im staatlichen Kontext dem Gebot von Zustimmungsabhängigkeit und Begründungspflicht. Beides ist Grundlage von `Legitimation durch Kommunikation´ […]. Und hier stehen die Medien mit ihrem Auftrag zu informieren, zu orientieren und zu bewerten in einer besonderen Verantwortung.“

 

Allerdings verlange die Pflicht, Öffentlichkeit herzustellen und damit die Grundlage für den freien Austausch von Informationen und Meinungen zu schaffen, mehr als die „Bewirtschaftung von Aufmerksamkeit“ […], nämlich die Wahrnehmung von öffentlicher Verantwortung.

 

Gleichwohl haben sich die ‚Spielregeln‘ des Kommunikationsbetriebs im Zuge der Digitalisierung dramatisch verändert und so stellt sich die Frage, was der Staat bei der Steuerung und Gestaltung der Kommunikationsverhältnisse heute tun könne.


(Fortsetzung folgt)



Zitate aus: Ullrich Sarcinelli: „Der demokratische Staat und die digitale Gesellschaft“, SWR2-Wissen, Sendung vom 17. Februar 2019