„Der Moralismus ist das Schwert der Unvernunft, das die Welt in Gut und Böse teilt.“ So lautet eine der zentralen Thesen des langjährigen Nahost-Redakteurs der ZEIT, Michael Lüders, die er in seinem Buch „Moral über alles? Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen.“ ausführt.
Die politisierte Moral enthält einen totalitären Bodensatz, der letztlich eine Rück-kehr der Stämme in neuem Gewand bedeutet. Insbesondere in jenem der Identitätspolitik, dem neuen Label und Bannerträger eines missionarisch veranlagten Gutmenschentums.
Damit kein Missverständnis aufkommt. Nach Lüders gibt es Identitätspolitik im linken wie im rechten politischen Lager, unter Trump-Anhängern beispielsweise. “Meist ältere heterosexuelle Männer fordern für sich denselben `Milieuschutz´, dieselben Privilegien, die auch Frauen, Latinos, Schwarze oder Schwule für sich in Anspruch nehmen. Was letztendlich das ursprüngliche Anliegen von Identitätspolitik ad absurdum führt, da diese Bevölkerungsgruppe der »White Old Men« ein Hauptadressat ihrer Kritik war und ist.
Das Pendant in Deutschland ist die »identitäre Bewegung«, ein Sammelbegriff für mehrere aktionistische, völkisch gesinnte Gruppierungen. Sie sehen in der `Islamisierung´ Europas eine Gefahr für die `Identität´ einer als ethnisch homogen wahrgenommenen `europäischen Kultur´.” Dabei ist “Kultur” niemals homogen, insbesondere wenn sie absurderweise auch noch in engen nationalen bzw. nationalstaatlichen Grenzen definiert wird.
Kulturelle Aneignung! - Verbieten oder "Eigne dir etwas an! Aber mach es gut!" |
Am wirkmächtigsten aber ist Identitätspolitik im (vermeintlich) linken Spektrum. “Ihre Bannerträger finden sich etwa in der Wissenschaft, im Kulturbetrieb, in den Medien, im Verlagswesen. Und natürlich in der Politik, in Deutschland am sichtbarsten bei den Grünen. Die Gruppenbildung erfolgt bevorzugt im theoretisierenden Umfeld von Race, Gender und Sexualität und ist hochgradig moralaffin (…)
Der als progressiv anzusehende Impuls, bislang Marginalisierten Einfluss und Stimme zu verleihen, ist allerdings auf gutem Weg, sich zu überleben: Rassismus und sexuelle Diskriminierung werden in westlichen Gesellschaften längst sanktioniert. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau ist bei weitem nicht vollendet, doch schreitet sie unaufhörlich voran. Um nicht perspektivisch der Bedeutungslosigkeit anheimzufallen, bei der Verteilung von Macht und Ressourcen gar ins Hintertreffen zu geraten, erwuchsen der Identitätspolitik zwei neue, zugkräftige Stränge.
Zum einen die Fokussierung auf Gendersprache als Ausdruck korrekter Gesinnung, verbunden mit der Forderung, sie im öffentlichen Raum umfassend, wenn nicht verpflichtend zu verwenden. Und zum anderen die Geburt immer neuer Theorien, meist Sub- und Subsub-Strömungen der genannten Schwerpunkte Race, Gender und Sexualität (…).
Auch wer sich nie mit Identitätspolitik befasst hat, kennt doch ihre unmittelbaren Auswirkungen. In Gestalt von Gendersternchen, von Cancel Culture (Ausgrenzung missliebiger Personen, Gruppen, Fakten oder Meinungen mit dem Ziel, sie öffentlich mundtot zu machen oder zu tabuisieren) und Wokeness (»Wachheit«: im Ergebnis ein inquisitorisches Vorgehen gegenüber politisch als nicht korrekt empfundenen Haltungen, meist im Kontext von Race, Gender und Sexualität).
Auf dem Index hexenjagender Wachheit steht auch die `kulturelle Aneignung´, ein Sub-Thema von Race. Darf ein*e Weiße*r Rasta-Locken tragen oder zeugt das von falschem Bewusstsein und Neokolonialismus? Dürfen deutsche Museen afrikanische Artefakte ausstellen, gar besitzen oder dürfen das nur afrikanische Museen? Gegenfrage: Dürfen Deutsche Pizza essen? Chinesen Mozart spielen?
Identitätspolitik ist das Schwert der Moral, die Ikone des Moralismus wider die Vernunft. Sie bietet ihren Anhängern Orientierung und Sinn, natürlich auch Jobs, etwa mit Hilfe von Quotenregelungen (…), und vor allem einfache Antworten auf schwierige Fragen.
In Verbindung mit transatlantischer Werteorientierung (Freiheit, Demokratie, Menschenrechte) entsteht hier ein wirkmächtiges gesellschaftliches Amalgam, der Anti-Machiavelli schlechthin. Nicht die Staatsräson zählt, nicht das nationale Interesse, auch keine `diskursive Ethik´– es gilt allein die eigene, zutiefst verinnerlichte, absolutistisch gesetzte Moral.
Zitate
aus: Michael Lüders: Moral über alles?: Warum sich Werte und nationale
Interessen selten vertragen. München 2023
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen