„Der Moralismus ist das Schwert der Unvernunft, das die Welt in Gut und Böse teilt.“ So lautet eine der zentralen Thesen des langjährigen Nahost-Redakteurs der ZEIT, Michael Lüders, die er in seinem Buch „Moral über alles? Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen.“ ausführt. Insbesondere der Krieg gegen die Ukraine ist geeignet, das Feld von Moral und Politik in all seiner Komplexität darzustellen.
Um eines von Anfang an klarzustellen: Der russische Angriff auf die Ukraine ist völkerrechtswidrig, falsch, zerstörerisch und menschenverachtend! Die Antwort “des Westens” aber ist einzig und allein ein vollständiger Bruch mit Russland “auf allen Ebenen, politisch, wirtschaftlich und letztendlich auch kulturell.” Nur: Nach über zwei Jahren Krieg haben die westliche Politik der militärischen Unterstützung der Ukraine und die Sanktionen gegen Russland weltweit zu schwerwiegenden Folgen geführt, ohne jedoch den Krieg zu beenden.
Aber es geht, Lüders zufolge, nicht nur darum, ob der vollständige Bruch mit Russland unrealistisch und politisch fragwürdig ist, sondern auch darum, dass er mit Symbolik überladen ist: “Das absolute Gute, verkörpert vom Westen, sucht sich vom absolut Bösen zu befreien. Moralische Selbsterhöhung geht leider in den meisten Fällen einher mit Realitätsverleugnung und Heuchelei.”
Denn auch das Beispiel des Überfalls auf die Ukraine macht deutlich, dass “die Tugendhaften nicht etwa Bannerträger einer universellen humanistischen Gesinnung wären. Vielmehr verkörpern sie ein überaus selektives Gerechtigkeitsempfinden. Genau deswegen ist die Politisierung von Moral und die Moralisierung von Politik auch so fragwürdig. In beiden Fällen handelt es sich um eine moderne, säkulare Form des Sakralen, in der nicht Papst und Antichrist miteinander ringen, wohl aber Freiheit und Totalitarismus.”
So fragt Lüders – und legt damit den Finger in die Wunde selbstgerechter Moralität -, warum diejenigen, die vehement Sanktionen gegen Russland einfordern, niemals auch vergleichbare Boykottmaßnahmen gegenüber den USA erhoben haben. “Das hätte sich doch angeboten, im Vietnam- oder im Irak-Krieg beispielsweise. Beide waren nicht weniger völkerrechtswidrig und skrupellos wie der jetzige in der Ukraine. Natürlich gibt es viele gute Gründe, den russischen Präsidenten anzuprangern. Warum aber greifen bei ihm offenbar andere Maßstäbe als bei westlichen Akteuren? Wieso suchen westliche Entscheider Wladimir Putin vor einem internationalen Strafgerichtshof anzuklagen, nicht aber George W. Bush oder Tony Blair, die beiden Drahtzieher des auf Lügen und Manipulationen fußenden Irak-Krieges?” Starke Thesen!
Das Problem ist jedoch, dass das moralische Empfinden sehr schnell dort endet, wo es eigenen Interessen weniger dienlich ist. Dagegen fordert Lüders, „ganzheitlich zu denken, auch andere Perspektiven einzunehmen oder gar Fakten in Erinnerung zu rufen“. Das sei kein Manko, sondern „die Voraussetzung, um globale Probleme pragmatisch lösen und vom Ende her denken zu können, anstatt sie zu ideologisieren und damit zu verschärfen. Es ist nicht zuletzt eine propagandistische Leistung (…) Die eigene, die westliche Politik gilt dementsprechend als gut und werteorientiert, nichtwestliche als böse und demokratiefeindlich.“
“Kurzum: Die Welt läuft rund, solange `wir´ sie dominieren. Die Amerikaner nennen das, wie erwähnt, eine `regelbasierte Ordnung´ und meinen damit die Fortschreibung ihrer Vorherrschaft. (…) In der hiesigen Politik und den Medien ist stets die Rede vom `russisch geführten Angriffskrieg in der Ukraine´. Das ist sachlich nicht falsch und dennoch propagandistisch unterlegt. Oder hat man je vom US -geführten Angriffskrieg im Irak gehört? Dem NATO-geführten Angriffskrieg in Serbien (1999), in Afghanistan (2001–2021)?” Ist der eigentliche Skandal vielleicht, dass Russland nun auch versucht, seine imperialen Ansprüche mit militärischen Mitteln zu erzwingen – und “damit ebenjenes `Geschäftsmodell´” kopiert, “auf das der Westen ein Monopol zu haben glaubt. Namentlich die USA”?
“Warum gilt, vor diesem Hintergrund, der zweifelsohne verbrecherische Überfall Russlands auf die Ukraine als unvergleichlich verabscheuungswürdig, mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen, während sich der amerikanische Imperialismus bisweilen höchster Wertschätzung erfreut?”, fragt Lüders. Dabei dient die Gegenüberstellung amerikanischer und russischer Politik keinesfals der “Exkulpierung Putins und keineswegs der Relativierung jenes Leids, das heute die Ukrainer erfahren wie gestern die Iraker.” Man könne aber das eigentlich Selbstverständliche nicht deutlich und oft genug hervorheben: Politik und Moral sind zweierlei. Wer also das eigene politische Handeln unter Verweis auf höhere Werte zu legitimieren sucht, ist in der Regel kein Humanist, sondern lediglich ein Gesinnungsethiker. Der Moral sagt und die Durchsetzung eigener hegemonialer Interessen meint.”
“Im Grunde handelt es sich bei der Fama `werteorientierte Politik´ um ein modernes Märchen, das Menschen und Völkern auf der Suche nach Orientierung und Sinn eine Art Gebrauchsanweisung an die Hand zu geben sucht. Denn den Geschichtenerzählern an den Schaltstellen der Macht fehlt es nicht an propagandistischen Möglichkeiten, um ganze Staaten in den Ruin zu treiben, Kriege zu führen oder den Frieden zu verlieren, auch den sozialen, innerhalb ihrer eigenen Gesellschaften. Sie müssen dennoch darauf achten, die Unterstützung der Bevölkerung nicht zu verlieren, Unruhen oder gar Aufstände zu vermeiden. Nicht die Suche nach Ausgleich oder Gerechtigkeit treibt indessen die obersten Entscheider um. Wichtiger sind Machterhalt und Elitenkonsens. Für `Werte´ einzutreten ist ein rhetorisches Placebo, dem schwer zu widersprechen ist, das emotionale Zustimmung verheißt und hilfreich vermeidet, das zu benennen, worum es eigentlich geht.”
Zitate aus: Michael Lüders: Moral über alles?: Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen. München 2023
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