(Fortsetzung vom 02. Februar 2022)
Das Modell einer „deliberativen“ Demokratie – also einer vernünftig argumentie-renden, debattierenden, überlegenden Demokratie - formuliert nicht so sehr einen konkreten Typus politischer Herrschaft und auch nicht eine neue Variante demokratischer Praxis neben der repräsentativen oder der direkten Demokratie. „Vielmehr geht es um ein eher abstraktes Konzept, mit dem Philosophen und Sozialwissenschaftler die Demokratie dem Grunde nach definieren wollen, nicht zuletzt im normativen Sinne des Wünschbaren: Gut und überzeugend wäre eine Demokratie dann, wenn sie sich dem deliberativen Ideal möglichst weitgehend annähert.“
Jürgen Habermas (*1929) |
Für Jürgen Habermas schlägt das Modell der deliberativen Demokratie „eine Brücke zwischen der freien und vernünftigen Verständigung einerseits – dem `Diskurs´ – und der demokratischen politischen Ordnung des Staates auf der anderen Seite. Das Miteinanderreden eroberte die Sphäre der Politik; Demokratie konnte als ein Prozess der Kommunikation gedacht werden, in dem sich Bürgerinnen und Bürger begegnen, Argumente austauschen und sich nach Abwägung aller Gründe auf die von allen für richtig gehaltene Lösung einigen.“
Deliberative Demokratie lässt sich also etwa in der Mitte zwischen einer `liberalen´ und einer `republikanischen` Vorstellung von Demokratie verorten. Aus dem republikanischen Modell übernimmt Habermas die Vorstellung einer politischen Selbstorganisation der Gesellschaft. Demnach sind Menschen von Natur aus politisch, gerade auch im Sinne einer Verpflichtung auf die gemeinsamen Interessen, d.h. ihnen wohnt eine solidarische Grundhaltung inne. Aus Sicht des liberalen Demokratiemodells warnt Habermas zugleich „vor überfrachteten Erwartungen an den tugendhaften Bürger und besteht auf dem Eigengewicht von Institutionen, und damit eines demokratischen Staates, der seine Bürgerinnen und Bürger auch in der Privatsphäre schützt, statt sie nur für ein ethisch-politisches Gemeinwohl in Anspruch zu nehmen.“
Für Habermas steht daher zwischen den liberalen Institutionen einerseits und der republikanischen Volkssouveränität andererseits die kommunikative Vernunft, die sich in den deliberativen Verfahren der Demokratie entfaltet. „Damit kommt Habermas auch zu einer salomonischen Entscheidung im Streit um den Vorrang privater und öffentlicher Sphäre: Private (also liberale) und politische (also republikanische) Autonomie sind gleichermaßen fundamental und aufeinander bezogen. Als negativen Beleg führt er totalitäre Regime des 20. Jahrhunderts an, die nicht nur die politische Freiheit der Partizipation zerstörten, sondern auch in die Privatsphäre eindrangen und zugleich die Zivilgesellschaft lahmlegten.“
Deliberative Demokratie zielt letztlich darauf, dass die Bürgerinnen und Bürger nicht nur alle vier Jahre wählen gehen, sondern auch zwischendurch ihre Forderungen an Parlament und Regierung herantragen, so dass die staatlichen Organe die Wünsche der Bürger beständig in sich aufnehmen können. „Hinter der Theorie wird also eine Wunschvorstellung, aber auch eine praktische Veränderung von Demokratie deutlich, die sich in den letzten Jahren vollzogen hat. Die Übertragung von Macht an Repräsentanten genügt nicht mehr; Abgeordnete und Regierung werden nicht erst am Wahltag, am Ende der Legislaturperiode, zur Rechenschaft gezogen, sondern müssen sich gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern permanent rechtfertigen; und nicht nur summarisch, sondern für einzelne Positionen und Entscheidungen.“
Im Zentrum steht dabei der Begriff „Verantwortlichkeit“ oder „accountability“ (zu dt. „Rechtschaffenspflicht“). „Zugleich organisieren sich die Bürger zwischen den Wahltagen in Initiativen, klagen vor Gericht gegen politische Entscheidungen, demonstrieren gemeinsam auf der Straße und setzen die Institutionen damit unter Druck. Solche für die postklassische Demokratie charakteristischen Prozesse bildet Habermas’ Konzept einer deliberativen Demokratie also ab, ohne dass es die Bedeutung von Rechtsstaat und Parlament, von Regierung und verbindlichen Entscheidungen damit geringschätzt.“
In der deutlichen Akzentuierung von Kommunikation, Verständigung und Diskurs spiegelt sich eine bis heute grundlegende Praxis von Demokratie: Die Fähigkeit, zu diskutieren und Meinungsunterschiede auszutragen, zu widersprechen zu lernen und damit autoritären Mechanismen von Befehl und Gehorsam zu widerstehen. Die Lust an der Debatte wirkte über die privaten und lebensweltlichen Verhältnisse hinaus auch wieder in die öffentliche Kommunikation zurück. „An die Stelle einer vornehmlich vertikalen und zentralisierten Kommunikation trat die horizontale Vernetzung einer Gesellschaft im ständigen Gespräch miteinander – ob in der Familie, wo der Vater nicht mehr in knappen Worten bestimmte, oder unter Freunden, die alles bereden mussten, oder in der Politik, wo Debatten (…) zuweilen kaum ein Ende finden konnten.“
Kommunikation, Verständigung und Diskurs |
Natürlich hat das deliberative Konzept auch Kritiker gefunden. So wurde Habermas der Vorwurf gemacht, er gehe von sehr idealisierten Annahmen aus. „Begegnen sich die Bürgerinnen und Bürger so frei und zwanglos, wie es Habermas gerne sehen möchte; sind nicht die Chancen des Zugangs und der Teilhabe, trotz formal gleicher Voraussetzungen, sehr unterschiedlich verteilt: nach Bildung, Herkunft, sozialer Schichtzugehörigkeit? Verläuft der Diskurs – gerade in der Politik – tatsächlich so, dass egoistische Eigeninteressen hinter der allgemeinen Vernunft zurückstehen müssen und im Laufe der rationalen Diskussion ausgesiebt werden, bis ein Ergebnis der allgemeinen Zustimmungsfähigkeit feststeht? Ist es, selbst wenn es möglich wäre, überhaupt wünschenswert, sich auf einen Konsens hin zu verständigen und die Pluralität unterschiedlicher Standpunkte dabei hinter sich zu lassen?“
Es sei sogar fatal, sich allzu schnell eine allgemeine Übereinstimmung im Konsens herbeizuwünschen und auf diese Weise das nötige konflikthafte Aufeinandertreffen von Überzeugungen und Interessen zu vermeiden. „Freiheit komme im Konflikt zum Ausdruck, nicht im Konsens, und Demokratie lebe von Konflikten in einer pluralistischen Gesellschaft, hielt deshalb Ralf Dahrendorf, liberaler intellektueller Gegenspieler von Jürgen Habermas, den Menschen immer wieder vor.“
Aus neomarxistischer Perspektive war es vor allem die belgische Politikwissen-schaftlerin Chantal Mouffe, die zuletzt die deliberative Demokratie scharf kritisiert hat. Sie wirft dem „moderaten Linken“ Habermas die Vernachlässigung der realen Machtverhältnisse vor, in denen sich herrschaftsfreier Diskurs nicht entfalten könne. „Für ihr konflikt- und kampforientiertes Verständnis von Politik nimmt sie sogar Carl Schmitt zum Vorbild, den deutschen Vordenker von Liberalismus- und Demokratiekritik auf der radikalen Rechten. Politik sei immer Kampf, auch in der Demokratie, und dürfe nicht mit angewandter Ethik verwechselt werden. Denn es geht nicht um die gemeinsame Findung richtiger und vernünftiger Positionen, sondern um die Verteilung von Macht in asymmetrischen Situationen. Auch die liberale Vorstellung eines pluralistischen Interessenkonflikts auf gleichsam neutralem Terrain sei realitätsblind. In jeder Gesellschaft gebe es eine Vormachtstellung herrschender Kräfte, eine `Hegemonie.“ Daher können sich die an den Rand gedrängten schwachen, unterdrückten, ausgegrenzten Kräfte nicht in einen rationalen Diskurs begeben, sondern sie müssen aufbegehren, um die Verhältnisse der Hegemonie zu verändern!
Man hat gegen Mouffe eingewendet, „dass sie von der starren, letztlich Marxschen Vorstellung antagonistischer Verhältnisse nicht loskommt, von einer Entgegen-setzung von Herrschenden und Beherrschten, die den komplizierten Verhältnissen westlicher Gesellschaften schon lange nicht mehr entspricht. Gleichwohl erinnert sie daran: `Eine gut funktionierende Demokratie erfordert den lebhaften Zusammenstoß politischer Positionen.´“
Überraschenderweise lassen sich auch Gemeinsamkeiten zwischen Habermas und Mouffe, zwischen der deliberativen Demokratie und dem `agonistischen Pluralismus´ entdecken, denn beide folgen einem prozeduralen Verständnis von Demokratie, d.h., „das Verfahren gewinnt an Bedeutung gegenüber den Institutionen, sei es als Prozess der vernünftigen Konsensfindung oder des machtgeprägten Konfliktes.“ In beiden Konzepten vollzieht sich Demokratie vorrangig partizipatorisch, „in einer aktivbürgerschaftlichen und zivilgesellschaft-lichen Arena der freien Meinungsäußerung, der lebhaften Debatte und der Rechenschaftspflicht demokratischer Herrschaftsträger auf Zeit.“
Zitate aus: Paul Nolte: Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart, München 2012 (C.H. Beck)
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