Donnerstag, 30. Mai 2019

Ayn Rand und der entfesselte Kapitalismus - Teil 2



In Ayn Rands zweitem Roman „Atlas Shrugged“ finden sich wie in einem Brennglas alle Versatzstücke des neoliberalen Denkens. „Atlas wirft die Welt ab“ erscheint 1957. Das über tausend Seiten umfassende Buch ist in den USA zur Bibel der so genannten „Libertarians“ geworden. Eine Weltanschauung, deren Namen man mit dem Etikett „Libertarismus“ nur annähernd ins Deutsche übersetzen kann. Sie beruft sich auf eine lange amerikanische Tradition.

Atlas shrugged (Originalcover)
„Atlas Shrugged“ führt in ein düsteres Amerika. Überall sind Zeichen des wirtschaftlichen Verfalls sichtbar: verlassene Industrieanlagen, verwilderte Farmen. Eine geheimnisvolle Passivität hat die Menschen ergriffen. Sie wirken wie Zombies, unfähig, Entscheidungen zu treffen. Ein monströs korruptes politisches System in Washington treibt das Land mit unsinnigen Gesetzen immer tiefer in die ökonomische Katastrophe:

„Sie sah die Skelette der Fabriken mit zerbröckelnden Schornsteinen, die Kadaver von Geschäften mit zerbrochenen Fensterscheiben, die schiefen Pfosten mit zerfetztem Draht.“ (Atlas Shrugged)

Die weibliche Protagonistin des Romans ist Erbin eines der großen Eisenbahnkonzerne der Vereinigten Staaten. Als rund um die Uhr arbeitende Managerin kämpft sie ebenso heroisch wie vergeblich gegen den allgemeinen Verfall.

Die Katastrophe, in die Ayn Rands fiktives Amerika schlittert, wird verursacht durch die Institutionen des New Deal. Europa ist in „Atlas Shrugged“ schon lange zu einer Ansammlung hungerleidender Volksrepubliken verkommen. Im Sozialstaat sieht Ayn Rand die Wurzel aller Übel. Dass dieses Bild im direkten Widerspruch zum allgemeinen Wohlstand der 50er Jahre steht, schert sie wenig. Sie verlegt die finstere Szenerie in eine unbestimmte Zukunft, denn die Krise des Sozialstaats bildet die unverzichtbare Kontrastfolie für ihre produktive Elite des Kapitalismus.

John Galt ist die mythische Figur des Romans, der die Welt tragende Atlas, dessen Namen durch den Text geistert, und der erst gegen Ende der über 1.000 Seiten leibhaftig als Erlöserfigur auftaucht. Seine Biografie weist ihn als Kapitalisten des neuen Typs aus. Sowohl genialer Erfinder als auch erfolgreicher Unternehmer verdankt die Welt ihm einen Motor, der eine Art Perpetuum mobile darstellt. Aber er ist auch der Zerstörer, der der Gesellschaft seine Erfindung verweigert, weil sie ihn mit der sozialstaatlichen Umverteilung um die gerechten Früchte seiner Innovation bringt:

„Ein Gesicht, das kein Zeichen des Leidens, der Furcht oder der Schuld trug. Die Form seines Mundes drückte Stolz aus, ja mehr noch, es wirkte, als sei er stolz, stolz zu sein. Der Ausdruck gelassener Entschlossenheit und Sicherheit, ein Blick, der weder um Vergebung bitten noch je sie gewähren würde. Seine Augen hatten den dunkelgrünen Schimmer von Licht auf Metall.

John Galt ist der Prometheus, der sich anders entschieden hat. Nach dem er jahrhundertelang von den Geiern zerfressen wurde als Lohn dafür, dass er den Menschen das göttliche Feuer brachte, hat er seine Ketten zerrissen und sein Feuer zurückgeholt – bis zu dem Tag, da die Menschen ihre Geier zurückrufen werden.“ (Atlas Shrugged)

Straßenschild in Chicago (2015)
John Galt ist der Prototyp des „Homo oeconomicus“, des aus-schließlich an seinem Eigeninteresse orientierten Subjekts, das sich die klassische Wirtschaftstheorie als Akteur auf den Märkten vorstellt. Fast hat man den Eindruck, als habe sich die Theorie ihre eigene Wirklichkeit geschaffen. John Galt repräsentiert zugleich die „kreative Klasse“, er ist das schöpferische Genie, das sich von allen Emotionen befreit, aus allen sozialen Beziehungen heraus-katapultiert hat, die ihn hätten behindern können. Ein Workaholic, gestählt im permanenten Überlebenskampf. Steigerung der Produktivität als ausschließliches Ziel allen Handelns.

„Ich produziere Zeit. Ich arbeite an der Verbesserung meiner Verfahren. Jede Stunde, die ich einsparen kann, ist eine Stunde Lebenszeit zusätzlich. Früher brauchte ich fünf Stunden, jetzt schaffe ich es in drei. Zwei Stunden weniger für eine Aufgabe, die ich in eine andere Aufgabe investieren kann. Zwei Stunden mehr, in denen ich arbeiten kann, um weiter zu wachsen, um vorwärts zu kommen.“ (Atlas Shrugged)

Geschickt verkehrt Ayn Rand das Klassenkampf-Motiv des Streiks in sein Gegenteil. In „Atlas Shrugged“ sind es die Milliardäre, die streiken. Sie sehen sich als Opfer einer Gesellschaft, die ihren Höhenflug auf Normalmaß zurückstutzen will. Also ziehen sie sich zurück, lassen ihre Fabrikanlagen verfallen und verbarrikadieren sich in einem geheimen Eldorado in den Bergen Colorados. In „Galt’s Gulch“ leben sie in einer Art kapitalistischer Kommune, peinlichst darauf bedacht, dass niemandem etwas geschenkt wird.

Die Welt draußen fällt in Chaos und Bürgerkrieg, weil ihr die Vitalität der kapitalistischen Elite fehlt. Schließlich führt die Erpressung durch die Reichen zum Ziel. Am Ende muss der amerikanische Kongress einen Verfassungszusatz verabschieden, der für alle Zeiten einen Eingriff in die Freiheit von Produktion und Handel verbietet.

Ayn Rand erlebte es nicht mehr, aber Ende der 70er Jahre begann schrittweise der Abbau des sozialstaatlichen Erbes Franklin D. Roosevelts.

Rand warnte ihre Anhänger zwar vor dem Republikaner Ronald Reagan, denn er war ihr zu religiös, zu kompromissbereit, aber mit Reagan begann der radikale Rückbau staatlicher Regulierung und die drastische Kürzung der Sozialausgaben. Das neoliberale Denken wurde zur alles dominierenden amerikanischen Ideologie, ihr zentrales Element die sogenannte „Trickle-Down Economy“, die Vorstellung, dass es den Reichen gut gehen muss, damit es allen gut geht.

Aber nicht nur die Republikaner und Protestbewegungen wie die „Tea Party“, sondern auch die Demokraten sind inzwischen dem Charme der „Creative Class“ erlegen. Für viele ist die Demokratische Partei mittlerweile zur Interessenvertretung einer vermögenden und gut ausgebildeten 10 %-Elite geworden, einer nach eigenem Empfinden hart arbeitenden und deshalb produktiven Elite, die einer passiven Mehrheit gegenübersteht, die durch Steuern und soziale Transferleistungen die Produktiven um die Früchte ihrer Arbeit bringt.

Dass auch die Demokraten nicht länger die Partei der Mittelklasse sein wollte, sondern die Partei der wohlhabenden Freiberufler, der Manager, Ingenieure, Architekten, Ärzte, Rechtsanwälte, Finanzstrategen, begann in den 70er Jahren und erreichte einen ersten Höhepunkt unter der Präsidentschaft Bill Clintons.

Parteistrategen sprachen nun von der „natürlichen Allianz“ zwischen den Demokraten und Wallstreet. Wallstreet, das war für sie der Ort, wo die „kreative Klasse“ aufblühte, wo in Harvard ausgebildete Top-Experten wahre Wunder vollbrachten, wo Reichtum aus dem Nichts erschaffen wurde. Die Clintons, Obama, alle waren sie daran beteiligt.

Republikaner und Demokraten - Alle erliegen sie dem Charme der „Creative Class“!

Das ist die Hauptursache, warum die wirtschaftliche Ungleichheit in den USA heute so völlig außer Kontrolle geraten ist. Es gibt in den USA keine Partei, die sich wirklich für die arbeitende Klasse einsetzt.

Der Erfolg des Donald Trump erklärt sich durch dieses Gefühl vieler Amerikaner, dass sie im geschlossenen politischen System Washingtons keine Stimme haben.

Natürlich liegt es nahe, Trump als Clown, als vergoldeten Clown zu bezeichnen, aber er stellt eine Reaktion auf die enorme wirtschaftliche Ungleichheit dar.

Das ist die Konsequenz der Deindustrialisierung. Die Demokraten laufen herum und feiern die Innovationsmaschine der Internet-Industrie, aber die Mittelklasse schrumpft und die Löhne stagnieren. Der Anteil, den die Mittelklasse heute am Bruttosozialprodukt hat, ist der geringste seit dem Zweiten Weltkrieg. Für viele wurde das Versprechen des „American Life“ endgültig gebrochen.

Ayn Rand würde sich nicht darüber wundern …


Quelle und Zitate aus: Stefan Fuchs, Idol rechter US-Republikaner: Ayn Rand und der entfesselte Kapitalismus, swr 2 Wissen, Sendung vom 8. November 2016

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