Donnerstag, 7. September 2017

Josef Kraus und das Sündenregister deutscher Bildungspolitik (Teil 3)


Josef Kraus
Unter dem Titel „Durchgefallen!
 Warum Deutschland als Bildungs-nation gescheitert ist“ kritisiert der ehemalige Schulleiter und aktuelle Präsident des Deutschen Lehrer-verbands, Josef Kraus, in der Reihe "Aula" des SWR in deutlichen Worten das Sündenregister der deutschen Bildungspolitik, einer „Politik wider jede Vernunft“.

Die fünfte Sünde heißt Utilitarismus: „Hier geht es darum, in der Schule überwiegend nur noch Dinge zu vermitteln, die man im späteren Leben braucht, die dafür nützlich sind, die sich später „rechnen“: zum Beispiel Computer Literacy. Kraus kritisiert diese Ideen als ein „verarmtes Verständnis von Bildung. Hier wird Bildung zur bloßen Abrichtung.“

Geldgewinn als Bildungsziel?
Die Kritik an einem solchen eingeschränkten Bildungs-verständnis ist alt. „Man braucht ja nur Nietzsches fünf Baseler Reden „Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten“ aus dem Jahre 1872 nachzulesen: Dort rechnet er es im ersten dieser Vorträge zu den beliebtesten national-ökonomischen Dogmen, den Nutzen, ja den möglichst großen Geldgewinn als Ziel und Zweck der Bildung auszugeben. Wörtlich: „Dem Menschen wird nur so viel Kultur gestattet, als im Interesse des Erwerbs ist.“ Kraus zufolge ist die deutsche Bildungspolitik seitdem nicht unbedingt viel klüger geworden.

Dabei ginge es in der Bildung nicht nur oder gar in erster Linie darum, wie ein junger Mensch fit wird für das globale Haifischbecken. Vielmehr müsse in Sachen Bildung – weil sie sonst nur Ausbildung ist – der Eigenwert des Nicht-Ökonomischen im Mittelpunkt stehen. Es geht um Muse bzw. Muße, und es geht um die Bildung von Persönlichkeiten.

Die sechste Sünde heißt Empirismus. „Sie hat viel mit PISA und Co. zu tun. Dahinter steckt die Vorstellung, alle Bildung müsse sich messen und in Rankingtabellen abbilden lassen.“

Wer nach Kraus aber nun meine, Bildung sei das, was PISA misst, der habe eine armes, ja ein erbärmliches Bildungsverständnis, denn „PISA und die sog. empirische Bildungsforschung haben nur noch das an schulischem Lernen im Blick, was sich messen lässt. Im Falle von PISA ist das wahrscheinlich nur ein Zehntel dessen, was in Schule geschieht: ein bisschen etwas von Informationsentnahmekompetenz, ein bisschen etwas von mathematischem Verständnis und ein bisschen etwas von naturwissenschaftlichem Verständnis.“

Vom ständigen Messen wird die Sau auch nicht fetter ...
Von PISA dagegen würden viele grundlegende Bildungsbereiche gerade nicht erfasst, darunter das sprachliche Ausdrucks-vermögen, Fremdsprachenkenntnisse, Wissen in den Bereichen Literatur, Geschichte, Geographie, Politik, Wirtschaft, Philosophie, Religion und Ethik, ästhetische Bildung in den Fächern Kunst und Musik. Bildung müsse daher wieder mehr Wert auf diese Bereiche legen.

Die siebte Sünde ist die Veloziferische. „Velozifer ist nach Goethe der Gott der rasenden Beschleunigung. Es geht hier um die Sünde des Beschleunigungswahns. Das ist der Irrglaube, man könne mit einer immer noch früheren Einschulung in immer weniger Schuljahren und mit immer weniger Unterrichtsstunden zu besser gebildeten jungen Leuten und zu einer gigantisch gesteigerten Abiturienten- und Akademikerquote kommen. Typisches Beispiel für eine solchermaßen verkorkste „Reform“ ist das achtjährige Gymnasium (G8).“

Nach Kraus brauche aber Bildung vor allem eines: Zeit. „Man kann intellektuelle, körperliche und soziale Reifung nicht beliebig beschleunigen. In Afrika sagt man: Das Gras wächst nicht schneller, wenn man an ihm zieht. Dieses Bild gilt auch für das Heranreifen junger Menschen.“

Die in manchen deutschen Ländern reichlich verkorkste Einführung des achtjährigen Gymnasiums beweise vielmehr, dass bei solcher Beschleunigung viel auf der Strecke bleibe, neben der Persönlichkeitsbildung auch Schul- und Freizeitkultur.“ Auch wenn die Abiturnoten immer besser und noch besser würden, die G8er könnten weniger, und vor allem: „Sie sind ein Jahr weniger reif, wenn sie die Schule verlassen.“

Die achte und letzte Sünde ist die Psychologismus-Sünde, „der Irrglaube, Pädagogik von einer vagen Traumapsychologie her aufziehen zu können. Für die Psychologie und ihr Image ist dies nicht gut, denn vieles von dem, was an Psychologischem in die Pädagogik hereingenommen wird, ist triviale Alltagspsychologie und damit Banalisierung von Psychologie.“

Alle Pädagogik solle offenbar vom zerbrechlichen Kind, dessen permanenter Traumatisierbarkeit, dessen Gegenwartsperspektive und dessen unmittelbaren Bedürfnisse her gedacht werden. Dem Kind, dem Schüler soll bloß nichts zugemutet werden, es könnte ja frustriert, demotiviert, ja traumatisiert werden. Dass man damit Kinder in einer Käseglocke und in einer ewigen Gegenwart einschließt und ihnen die Zukunft raubt, scheint nicht zu zählen. Statt ihnen ein bisschen etwas zuzumuten, werden unsere Kinder von einem Teil der Eltern, von den „Helikoptereltern“ rundum „gepampert“.“

Helikoptereltern
Kraus dagegen will daher nicht ständig fragen, was Kinder krank-mache, sondern was Kinder stark mache. Der Mythos von der allgegenwärtigen Traumatisierung sei grundfalsch: „Im Normalfall gibt es keinen Eins-zu-eins-Determinismus. Das Risiko des Scheiterns, Enttäuschungen und Niederlagen – all das gehört zum Leben. In altersgemäßer Dosis muss ein Kind solches erfahren dürfen, sonst entwickelt es weder die Fähigkeit, damit umzugehen, noch das Selbstbewusstsein, mit Problemen selbst fertig zu werden, noch die Bereitschaft, erst einmal eigene Kräfte zu mobilisieren.“

Kraus geht davon aus, dass Kinder sind viel widerstandsfähiger seien, als man gemeinhin annehme: „Die Resilienzforschung hat dies nachgewiesen. Resilienz heißt wörtlich: zurückspringen, abprallen. Im übertragenen Sinn meint man damit die Kraft zur Überwindung von Einschränkungen oder gar von Verletzungen. Die Entwicklung dieser Kraft kann man fördern, indem man die Kinder – altersgerecht – Probleme selbst lösen lässt.“

Abschließend braucht es nach Kraus eine Revolte gegen diese acht Sünden, denn mit diesen acht Sünden drohen Individualität, Leistung, Anstrengungsbereitschaft, natürliche Reifung und Qualität zu versinken. „Viel zu lange wurde Bildung – je nach Land in Deutschland unterschiedlich intensiv – kopf- und konzeptionslos re- und deformiert. Reformen über Reformen werden in den Sand gesetzt, ohne Produkthaftung von Seiten derjenigen, die all dies inszeniert haben.“

Auch wenn Kraus die Gründe für diese Entwicklung weniger in einem vermeintlichen Nationalcharakter der Deutschen sieht, „nämlich der Selbstvergessenheit und der ständigen Selbsttribunalisierung der Deutschen“, so beginne gleichwohl gesellschaftlicher Verfall und Dekadenz stets mit dem Verlust der Selbstachtung: „Das gilt für jede Einzelperson, jede Familie, jede Gruppe, jede Nation, jede Kultur. Dass die allermeisten Reformen eben gerade denen schaden, denen sie zugutekommen sollten, nämlich den sozial Schwächsten, wird verdrängt: Die Kinder aus „gutem“ Hause bekommen die Verirrungen der Schulpolitik durch elterliches Zutun kompensiert, die Kinder aus „bildungsfernen“ Elternhäusern aber bleiben in ihren Herkunftsmilieus eingekerkert.“

Viel zu lange wurde Bildung kopf- und konzeptionslos re- und deformiert

Verschärft wird das Problem noch dadurch, dass die real praktizierte Bildungspolitik nichts oder nur selten etwas bereut: Sie tue selten Buße und eigentlich nie gelobt sie Besserung. „Vielmehr meint sie, eine Sünde durch eine neue Sünde vergessen zu machen ... zusammen mit ihren bildungswissenschaftlichen Einflüsterern, die – oft professoral reichlich geschraubt – mit einer stets neuen Pädagogik immer wieder den Bildungshimmel auf Erden versprechen.“

Dagegen sei eine bürgerliche Revolte nötig, „nicht für noch mehr weichgespülte Schule, sondern für anspruchsvolle Schule.“ Dazu bedarf es des Mutes, der Courage, wie dies schon vor zweieinhalb Jahrtausenden Perikles gesagt hat: „Zum Glück brauchst du Freiheit, zur Freiheit brauchst du Mut.“

So fordert Kraus „Freiheit statt Gleichheit! Leistung statt Verwöhnung! Qualität statt Quote! Inhalte statt curricularer Nihilismen! Orientierung im europäischen Wertekosmos statt Relativismus!“ und den Mut, dies auszusprechen und auch einzufordern.


Zitate aus: Josef Kraus: Durchgefallen!
Warum Deutschland als Bildungsnation gescheitert ist, SWR2 Aula, Sendung vom Sonntag, 02. Juli 2017, 8.30 Uhr, Redaktion: Ralf Caspary, SWR 2017


Weitere Literatur von Josef Kraus: Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt. Und was Eltern jetzt wissen müssen, München 2017  -  Helikopter-Eltern. Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung, Reinbek 2013  -  Ist die Bildung noch zu retten? - eine Streitschrift, München 2009  -  Der Pisa-Schwindel. Unsere Kinder sind besser als ihr Ruf. Wie Eltern und Schule Potentiale fördern können, Wien 2005  -  Spaßpädagogik. Sackgassen deutscher Schulpolitik, München 2., ergänzte Auflage, 1998.


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