Donnerstag, 14. Januar 2021

Frederic Burrhus Skinner und die Unmenschlichkeit der behavioristischen Utopie


Im Jahr 1948, also zum Zeitpunkt, zu dem George Orwell seine Dystopie „1984“ schreibt, erscheint Skinners seine Wissenschaftsutopie „Walden Two“.

Skinner entwickelte Experimente, die das Verhalten von Tieren auf eine neue Weise erforschten. Hatten die berühmten Vorgänger wie Pawlow noch die Abhängigkeit des Verhaltens vom erfolgten Reiz untersucht, so wandte Skinner seine Aufmerksamkeit den Konsequenzen des Verhaltens zu. Skinner ging es dabei um die Frage, wie ein Tier sein Verhalten verändert, wenn es durch Futter belohnt wird, bzw. welchen Einfluß eine ausbleibende Belohnung auf das Verhalten hat? 

Skinner und die Skinner-Box

Skinner nannte die Beeinflussung durch Verhaltenskonsequenzen „Konditionie-rung“. Ihn interessierte, wie diese Konditionierung(en) das zukünftige Verhalten formen. Die Grundannahme ist relativ simpel: „Ein Verhalten, auf das ein verstärkender Reiz folgt, wird in der Zukunft wahrscheinlicher; ein Verhalten, das keine Verstärkung erhält, wird weniger wahrscheinlich sein. Die alte Kette von Stimulus und Response (S ~ R) erweitert sich zu Stimulus, Response, Consequences (S ~ R ~ C).

Der Erfolg seiner Tierexperimente verleitete Skinner dazu, seine Erkenntnisse auch auf den Menschen anzuwenden. Zu den Anwendungsversuchen seiner Verhaltens-lehre gehört beispielsweise die sogenannte Programmierte Unterweisung, also die Zerlegung von Lerneinheiten in kleine Schritte, wobei die richtige Antwort jeweils verstärkt wird. Sprachlabore beispielsweise arbeiten nach diesem Prinzip. Mit Hilfe der Skinner´schen Psychologie lassen sich gewisse Phobien ebenso ab- wie kooperatives Verhalten antrainieren, z.B. wird soziales Verhalten mit Chips oder Spielgeld belohnt, das man später gegen Vergünstigungen eintauschen kann.

Den Titel seiner Wissenschaftsutopie „Walden Two“ entnimmt Skinner dem Titel des Buches „Walden“ von Henry David Thoreau (1817-62). Es war ein Bericht von seinem Leben am Walden Pont, einem See in der Nähe von Concord (Massachusetts). „Zwei Jahre hatte Thoreau in den Wäldern ein asketisches Einsiedler-leben geführt. Thoreau war ein Exponent des amerikanischen Individualismus. Jedem einzelnen schrieb er die Aufgabe zu, sein Leben in die eigenen Hände zu nehmen." 

Skinner setzt in seiner auf Wissenschaft gestützten Utopie seinen Behaviorismus in Sozialtechnik um: „Menschen sollen durch Konditionierung und Verhaltens-steuerung aggressionsfrei und tolerant gemacht werden. Die Umwelt soll so gestaltet werden, daß sich ein sozial erwünschtes Verhalten quasi automatisch einstellt.“

In der Geschichte machen sich sechs Besucher sich auf, die utopische Gemein-schaft zu erkunden. Es sind der Jurist Roger und sein Freund Steve, beide begleitet von ihren Freundinnen; ferner der Erzähler, der Psychologe Dr. Burris, und schließlich ein gewisser Augustine Castle, dessen Name andeutet, daß er für ältere Vorstellungen von Gemeinschaften steht. Castle spielt die Rolle des Kritikers, der den Gründer von Walden Two, einen gewissen Frazier, immer wieder zur Rede stellt.

Auch wenn durch Walden Two ein Hauch von Puritanismus weht, so ist die Sittenstrenge letztlich ein Ausdruck einer Gemeinschaft von Wissenschafts-gläubigen, die ihr Leben auf eine und nur eine Wissenschaft, die Verhaltenslehre, stellen wollen. 

Das Ergebnis von Verhaltenspsychologie: "Gesundheit" - "Wirtschaft" - "Weisheit"


„Die utopische Gemeinschaft formt bereits Babies im Sinne der Verhaltenstheorie. Temperatur, Kleidung, das Fernhalten negativer Reize - das alles wird wie in einem Labor kontrolliert. Die Schule wird zu einer Wohlfühlanstalt, in der es keine Noten, sondern nur positive Verstärkungen gibt. Die Ehe ist weiterhin monogam. Männer und Frauen sind gleichgestellt. Geheiratet und Nachwuchs gezeugt wird bereits mit 16 Jahren. Gearbeitet wird ca. 4 Stunden am Tag. Die Arbeit wird mit credits bewertet. Je schwerer sie ist, umso mehr credits erhält man. Der Bedarf wird von Spezialisten ermittelt. Unnötiger Besitz ist verpönt. Es herrscht Gemeineigentum. Jeder behält jedoch auch ein gewisses Privateigentum, Kleidung oder Bücher beispielsweise. Auch steht jedem ein unantastbarer Privatraum zur Verfügung. Arbeitslosigkeit ist unbekannt. Nikotin und Alkohol werden gemieden. Die politische Leitung liegt bei einem „board of planners“, drei Männer, drei Frauen. Sie lei- ten die Kommune für maximal zehn Jahre.

Jede identitär definierte Gemeinschaft beruht auf einem Gründungsmythos, der den Anfang der Gemeinschaft verklärt. Bei Skinner aber bleibt die Gründung im Dunkeln. Dies verwundert nicht, denn würde die Gründungsgeschichte erzählt, würde sichtbar, welches Ausmaß an Manipulation hier am Werk ist. 

Zwar kommt jedermann freiwillig nach Waiden, aber: Einmal angekommen, werden die Menschen jedoch geformt nach einem Bilde. Sie geraten in die Hand eines „Schöpfers“, der sie, gemäß den Erkenntnissen der Verhaltensforschung, zu formen gedenkt. „Sie werden sogar auf solche Weise geformt, daß ihnen Kritik und Protest irgendwann einmal nicht mehr möglich sind. Aus Menschen werden Versuchskaninchen. Zwar haben sie den Versuchskaninchen voraus, daß sie freiwillig in die Gemeinschaft eintreten. Nach dem Eintritt sind sie jedoch „Material“, so wie es Meerschweinchen oder Ratten im Laborexperiment sind.“ 

„Die utopische Gemeinschaft ist also nichts anderes „ein vergrößertes Labor, in dem die Reichweite der Verhaltenslehre getestet wird.“ Nach außen hin fungiert das Experiment als ein „Beispiel dafür, dass es möglich ist, auf diese Weise zu leben.

Von Thoreaus Walden ist Skinners Walden Two weit entfernt. „Thoreau pries den Individualismus, die Selbstbestimmung, den zivilen Ungehorsam. Skinner will ein tendenziell kommunistisches, gegen die traditionelle Idee von Freiheit gerichtetes Utopia errichten. Castle, der Kritiker, nennt den Gründer Frazier einen „stummen Despoten“. Sein Einwand gegen das Experiment lautet: `Wenn der Mensch frei ist, ist eine Technik des Verhaltens unmöglich´. Frazier dagegen hält Freiheit für eine Illusion. Der Mensch werde von der Umwelt gelenkt, ob er dies sehen wolle oder nicht.“

Thoreaus "Walden" als individualistischer Gegenentwurf zu Skinner

Walden Two ist keine Demokratie. Dies wird von Frazier offen ausgesprochen. „Die Demokratie sei nur ein `frommer Betrug´. Die einzelne Stimme habe bei den Wahlen kein Gewicht. Die Wahlprogramme der Parteien sähen einander zum Verwechseln ähnlich. Die Verhaltensforschung dürfe man nicht `Ungelernten überlassen´. Das Volk sei nicht in der Lage, Experten zu beurteilen.“ 

Skinner läuft offenen Auges in die „Expertokratie-Falle“, denn politische Entscheidungen sind gerade keine Sache allein von Experten. Letztlich müssen die Bürger entscheiden, welchen Experten und welchen Ratschlägen sie folgen wollen. Das ist sicher keine leichte Aufgabe, da die Experten heutzutage unter sich selbst zerstritten sind und niemand den Bürgern ihre politische Verantwortung abnehmen kann. Skinners Verwerfung von Demokratie und Freiheit ist auf erhebliche Kritik gestoßen. Skinner versuche, den „Philosophenkönig“ zu spielen, dazu setze er Gehirnwäsche und Kollektivismus ein. Walden Two führe zur Diktatur, aus dem Traum werde ein Alptraum. 

Skinner wolle Gott oder Prometheus spielen, schalte aber lediglich den Wettbewerb aus, denn schon zweite Generation in Skinners Utopia wäre nichts anderes mehr als ein „Produkt des Konditionierungsprozesses“. Frazier wäre somit der letzte Mensch der noch zwischen Gut und Böse unterscheiden könnte.

Skinners Utopie ist ein gutes Beispiel für eine μετάβασις εἰς ἄλλο γένος (Aristoteles), für den „Wechsel in eine andere Gattung“, also für einen unzulässigen Sprung in der Argumentation, bei dem man versucht, die Bedeutung eines Begriffes (oder die Gültigkeit eines Beweises) trotz eines Wechsels in eine andere Gattung bzw. in einen anderen Kontext beizubehalten. Skinners Utopie verwechselt also Wissenschaft (Psychologie) und Politik.“ Dies ist vom logischen Standpunkt aus nichts anderes als die Erschleichung eines Beweises bzw. ein schlichter Kategorienfehler.

Für Skinners Utopie gilt dasselbe wie für seine Psychologie. Es eine „Seelenlehre ohne Seele. Das ist ihre Stärke und ihre Schwäche zugleich.“ Das Innenleben eines Menschen - Gefühle, Gedanken, Leidenschaften - wird komplett ausgeblendet. Für Skinner sind nur Reize, Reaktionen und Konsequenzen des Verhaltens relevant. Eine Therapie im Skinner´schen Sinn mag zwar bestimmte Verhaltensänderungen bewirken, die seelische Wurzel einer Erkrankung wird damit jedoch nicht erreicht. Letztlich ist „Konditionierung“ nichts anderes als Training bzw. Dressur. Nur: Lässt sich menschliches Verhalten überhaupt so steuern, wie man einen Hund dressiert oder liegt das Interesse des Menschen an Freiheit und Selbstbestimmung nicht auf einer ganz anderen Ebene?

„Wenn ein Mensch nicht wählen kann, hört er auf, Mensch zu sein.“
(Clockwork Orange)

Skinner macht letztlich genau das zur Grundlage seiner idealen Ordnung, was andere befürchten, nämlich die totalitären Konsequenzen des Behaviorismus. In A Clockwork Orange (1962) entlarvt Anthony Burgess, die Unmenschlichkeit der behavioristischen Konditionierung auf. Sein „Held“ Alex, dem seine Gewalttätigkeit wegkonditioniert wird, ist nach der Behandlung kein Mensch mehr. An ihm bewahrheitet sich der Satz, den ihm der Gefängnisgeistliche sagt: „Wenn ein Mensch nicht wählen kann, hört er auf, Mensch zu sein.“

Zitate aus: Henning Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Band 4: Das 20. Jahrhundert. Teilband 2: Von der Kritischen Theorie bis zur Globalisierung, J.B. Metzler (Stuttgart 2012)


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