Donnerstag, 17. März 2016

Gerald Hartung und der Mensch im Kosmos

Anthropologisches Philosophieren geht von der Grundfrage »Was ist der Mensch?« aus. Die Antworten auf diese Frage geben Anhaltspunkte dafür, was wir Menschen über uns wissen wollten. Für die Antike könnte die Antwort in dem Ausdruck „Der Mensch im Kosmos“ zusammengefasst werden.

Der Mensch im Kosmos: Ist die Gesetzmäßigkeit des Gesamtkosmos auch im Menschen wirkmächtig?

Zunächst aber betrachtete sich der Mensch exklusiv im Spiegel der Natur. Er vermutete im Naturgeschehen ein „absichtsvolles, wenn auch für ihn unergründliches Handeln. Götter schufen seiner Ansicht nach die Welt, so wie er selbst seine Welt mit Werkzeugen und durch Handeln erzeugt. Alles, was die Natur im Menschenleben bewirkt (...), scheint auf ihn, den Menschen, abzuzielen.“

Langsam aber trat der Mensch aus der Natur heraus und die Weltansicht des Menschen der kulturellen Frühzeit verliert ihre Naivität. Es entsteht „die Notwendigkeit, ein Naturgeschehen, in das man sich hineingerissen sieht, mit Sinn zu erfüllen.“

Es beginnt nun die Zeit kosmologischer Spekulation, dessen Grundgedanke ist, dass „die Gesetzmäßigkeit des Gesamtkosmos auch im Menschen wirkmächtig ist.“ So geht es in den kosmologischen Theorien der Vorsokratiker um die „Suche nach einem einheitlichen Maß – was im Großen und Ganzen gilt, das muss auch im Kleinen gelten.“

Heraklit von Ephesos (um 500 v. Chr.) spricht beispielsweise von einem gemeinsamen `Metron´ (gr. Maß), das sowohl den Lauf der Natur als auch das Handeln des Menschen bestimmt. Dementsprechend ist dem Menschen seine Stellung im Kosmos zugewiesen und er hat sein Handeln nach dem Maß aller Dinge auszurichten.

Der Mensch ist das Maß aller Dinge.
Der Seienden, dass sie sind, der Nicht-Seienden, dass sie nicht sind.

Mit Protagoras (ca. 485 – 410 v. Chr.) und seinem berühmten Ausspruch `Der Mensch ist das Maß der Dinge´ werden die Vorzeichen nun umgekehrt. „Von nun an muss der Mensch sich zuerst selbst verstehen, bevor er die Ordnung der Dinge enträtseln kann. Allein in sich findet er sein Maß, er wird zum Maßgebenden der Natur.“

Platon (ca. 427 – ca. 347 v. Chr.) zufolge ist der Mensch im Vergleich zum Tier schlecht ausgestattet, „seine körperliche Schwäche und seine Instinktunsicherheit machen ihn zu einer riskanten Lebensform.“ Trotz dieser „tatsächlichen Unterlegenheit“ verteidigt Platon aber die „potenzielle Überlegenheit“ des Menschen, denn „der Möglichkeit nach ist der Mensch mehr, als er in den Grenzen seiner wirklichen Gestalt und Lebenspraxis zum Ausdruck bringt.“ Der Mensch ist seinem Wesen nach `kein Spross der Erde, sondern des Himmels´ (Platon, Timaios).

So ist der Mensch bei allen Fragen nach dem Maß der Dinge letztlich auf sich selbst zurückgeworfen. Sokrates steht für diesen Weg der Selbsterkenntnis, gemäß dem delphischen Diktum „Erkenne dich selbst!“.

Sokrates
Mit Sokrates vollzieht sich eine erste anthropologische Wende innerhalb der abendländischen Kulturgeschichte. Sokrates wendet sich dem `Menschen in der Stadt´ zu und betrachtet dessen kulturelle Leistungen: `Ich bin eben lernbegierig, und Felsen und Bäume wollen mich nichts lehren, wohl aber die Menschen in der Stadt.´ (Platon, Phaidros). Sokrates zufolge erkennt der Mensch sich nicht in seiner Natur oder in der kosmischen Lebensordnung, sondern nur, „insofern er seiner Rolle als Sinnstifter gerecht wird. Was gut, schön, gerecht und wahr ist, diese Fragen kann er nur sich selbst beantworten. Die Antworten, die ihn als Menschen betreffen, findet er allein unter seinesgleichen in der Polis.“

Die Bestimmung des Menschen nach Maßgabe der politischen Ordnung setzt nun wiederum die Grenzen der Gleichheit, wenn diese nicht naturgegeben sind, an den Grenzen der jeweiligen Polis fest. „So ist es eine Eigenart frühkultureller Selbstdeutung und gleichsam bis in die Moderne eine archaische Erbschaft dieser Kulturstufe, dass Menschsein als abhängig von der Zugehörigkeit zu einer Ordnung der Herrschaft, der Sprache, der Sitte und des Volkes erscheint. Jenseits dieser Grenzen dominiert die Geringschätzung des Anderen, Nichtzugehörigen, Fremden.“

Erst die Sophisten behaupten die grundlegende Gleichheit aller Menschen. Demokrit (460 – 371 v. Chr.) fasst diese neue Haltung in den folgenden Worten aus:  `Mensch ist, was allen bekannt ist.´

Platon aber geht einen anderen Weg. Weil es für ihn für diese Spannung zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit des Menschseins keine prinzipielle Lösung gibt, entwirft er eine ideale politische Ordnung. In seiner Politeia weist er jedem Menschen gemäß seinen Befähigungen einen Platz in der sozialen und sittlichen Ordnung zu. „Das Maß des Menschseins liegt bei Platon in einer künstlichen, von Menschen geschaffenen Ordnung.“
 
Platon zeigt in die Welt der Ideen, Aristoteles bleibt dem Beobachtbaren auf der Erde verbunden

Für Aristoteles (384–322 v. Chr.) dagegen ist der Mensch „sich selbst nicht problematisch. In der Wahrnehmung und im Tätigsein erfährt er sich als gattungsmäßig verschieden von anderen Lebewesen.“ Der Grundsatz der aristotelischen Naturphilosophie lautet, dass nichts in der Natur vergeblich, also zweckfrei, geschieht. Für den Menschen heißt das, dass sich in und mit ihm ein Zweck erfüllt: „Aus Sicht des individuellen Menschen ist die Einheit von Seele und Körper Prinzip seiner Individuation; aus Sicht des Gattungswesens Mensch vollendet sich im Menschen ein Gesamtzweck der Natur. Aus Sicht dieses Ganzen wiederum wirken alle Kräfte in der Natur auf eine Überwindung von Individuation, die gleichwohl an der Einlösung des Gesamtzwecks Anteil hat. 

Der aristotelische Mensch erlebt diesen Gesamtzusammenhang und kann ihn im Denken begreifen. Hier im Denken liegt denn auch die Möglichkeit, aus den Widersprüchen gelebten Lebens herauszutreten. Der nicht nur physisch oder psychisch motivierte, sondern geistig schöpferische Seelenteil verweist auf ein `denkendes Tätigsein´, das Glückseligkeit ermöglicht.“


Zitate aus: Gerald Hartung: Grundwissen Philosophie. Philosophische Anthropologie, Stuttgart 2012 (Reclam)

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