Anthropologisches Philosophieren geht von der Grundfrage
»Was ist der Mensch?« aus. Die Antworten auf diese Frage geben Anhaltspunkte
dafür, was wir Menschen über uns wissen wollten. Für die Antike könnte die
Antwort in dem Ausdruck „Der Mensch im Kosmos“ zusammengefasst werden.
Der Mensch im Kosmos: Ist die Gesetzmäßigkeit des Gesamtkosmos auch im Menschen wirkmächtig? |
Zunächst aber betrachtete sich der Mensch exklusiv im
Spiegel der Natur. Er vermutete im Naturgeschehen ein „absichtsvolles, wenn auch
für ihn unergründliches Handeln. Götter schufen seiner Ansicht nach die Welt,
so wie er selbst seine Welt mit Werkzeugen und durch Handeln erzeugt. Alles,
was die Natur im Menschenleben bewirkt (...), scheint auf ihn, den Menschen,
abzuzielen.“
Langsam aber trat der Mensch aus der Natur heraus und die Weltansicht
des Menschen der kulturellen Frühzeit verliert ihre Naivität. Es entsteht „die
Notwendigkeit, ein Naturgeschehen, in das man sich hineingerissen sieht, mit
Sinn zu erfüllen.“
Es beginnt nun die Zeit kosmologischer Spekulation, dessen
Grundgedanke ist, dass „die Gesetzmäßigkeit des Gesamtkosmos auch im Menschen
wirkmächtig ist.“ So geht es in den kosmologischen Theorien der Vorsokratiker um
die „Suche nach einem einheitlichen Maß – was im Großen und Ganzen gilt, das
muss auch im Kleinen gelten.“
Heraklit von Ephesos (um 500 v. Chr.) spricht beispielsweise
von einem gemeinsamen `Metron´ (gr. Maß), das sowohl den Lauf der Natur als
auch das Handeln des Menschen bestimmt. Dementsprechend ist dem Menschen seine
Stellung im Kosmos zugewiesen und er hat sein Handeln nach dem Maß aller Dinge
auszurichten.
Der Mensch ist das Maß aller Dinge. Der Seienden, dass sie sind, der Nicht-Seienden, dass sie nicht sind. |
Mit Protagoras (ca. 485 – 410 v. Chr.) und seinem berühmten
Ausspruch `Der Mensch ist das Maß der Dinge´ werden die Vorzeichen nun
umgekehrt. „Von nun an muss der Mensch sich zuerst selbst verstehen, bevor er
die Ordnung der Dinge enträtseln kann. Allein in sich findet er sein Maß, er
wird zum Maßgebenden der Natur.“
Platon (ca. 427 – ca. 347 v. Chr.) zufolge ist der Mensch im
Vergleich zum Tier schlecht ausgestattet, „seine körperliche Schwäche und seine
Instinktunsicherheit machen ihn zu einer riskanten Lebensform.“ Trotz dieser „tatsächlichen
Unterlegenheit“ verteidigt Platon aber die „potenzielle Überlegenheit“ des
Menschen, denn „der Möglichkeit nach ist der Mensch mehr, als er in den Grenzen
seiner wirklichen Gestalt und Lebenspraxis zum Ausdruck bringt.“ Der Mensch ist
seinem Wesen nach `kein Spross der Erde, sondern des Himmels´ (Platon, Timaios).
So ist der Mensch bei allen Fragen nach dem Maß der Dinge letztlich
auf sich selbst zurückgeworfen. Sokrates steht für diesen Weg der Selbsterkenntnis,
gemäß dem delphischen Diktum „Erkenne dich selbst!“.
Sokrates |
Mit Sokrates vollzieht sich eine erste anthropologische
Wende innerhalb der abendländischen Kulturgeschichte. Sokrates wendet sich dem
`Menschen in der Stadt´ zu und betrachtet dessen kulturelle Leistungen: `Ich
bin eben lernbegierig, und Felsen und Bäume wollen mich nichts lehren, wohl
aber die Menschen in der Stadt.´ (Platon, Phaidros). Sokrates zufolge erkennt
der Mensch sich nicht in seiner Natur oder in der kosmischen Lebensordnung,
sondern nur, „insofern er seiner Rolle als Sinnstifter gerecht wird. Was gut,
schön, gerecht und wahr ist, diese Fragen kann er nur sich selbst beantworten. Die
Antworten, die ihn als Menschen betreffen, findet er allein unter
seinesgleichen in der Polis.“
Die Bestimmung des Menschen nach Maßgabe der politischen
Ordnung setzt nun wiederum die Grenzen der Gleichheit, wenn diese nicht
naturgegeben sind, an den Grenzen der jeweiligen Polis fest. „So ist es eine
Eigenart frühkultureller Selbstdeutung und gleichsam bis in die Moderne eine
archaische Erbschaft dieser Kulturstufe, dass Menschsein als abhängig von der
Zugehörigkeit zu einer Ordnung der Herrschaft, der Sprache, der Sitte und des
Volkes erscheint. Jenseits dieser Grenzen dominiert die Geringschätzung des
Anderen, Nichtzugehörigen, Fremden.“
Erst die Sophisten behaupten die grundlegende Gleichheit
aller Menschen. Demokrit (460 – 371 v. Chr.) fasst diese neue Haltung in den
folgenden Worten aus: `Mensch ist, was
allen bekannt ist.´
Platon aber geht einen anderen Weg. Weil es für ihn für
diese Spannung zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit des Menschseins keine
prinzipielle Lösung gibt, entwirft er eine ideale politische Ordnung. In seiner
Politeia weist er jedem Menschen gemäß seinen Befähigungen einen
Platz in der sozialen und sittlichen Ordnung zu. „Das Maß des Menschseins liegt
bei Platon in einer künstlichen, von Menschen geschaffenen Ordnung.“
Für Aristoteles (384–322 v. Chr.) dagegen ist der Mensch „sich
selbst nicht problematisch. In der Wahrnehmung und im Tätigsein erfährt er sich
als gattungsmäßig verschieden von anderen Lebewesen.“ Der Grundsatz der
aristotelischen Naturphilosophie lautet, dass nichts in der Natur vergeblich,
also zweckfrei, geschieht. Für den Menschen heißt das, dass sich in und mit ihm
ein Zweck erfüllt: „Aus Sicht des individuellen Menschen ist die Einheit von
Seele und Körper Prinzip seiner Individuation; aus Sicht des Gattungswesens
Mensch vollendet sich im Menschen ein Gesamtzweck der Natur. Aus Sicht dieses
Ganzen wiederum wirken alle Kräfte in der Natur auf eine Überwindung von
Individuation, die gleichwohl an der Einlösung des Gesamtzwecks Anteil hat.
Der
aristotelische Mensch erlebt diesen Gesamtzusammenhang und kann ihn im Denken
begreifen. Hier im Denken liegt denn auch die Möglichkeit, aus den
Widersprüchen gelebten Lebens herauszutreten. Der nicht nur physisch oder
psychisch motivierte, sondern geistig schöpferische Seelenteil verweist auf ein
`denkendes Tätigsein´, das Glückseligkeit ermöglicht.“
Zitate aus: Gerald Hartung: Grundwissen
Philosophie. Philosophische Anthropologie, Stuttgart 2012 (Reclam)
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