Donnerstag, 18. Februar 2016

Johann Sebastian Bach und die harmonische Proportion

„Johann Sebastian Bach (1685–1750) hat der Menschheit einen wahren Schatz an Musikwerken hinterlassen.“ Mit diesem Satz beginnt die kleine Bach-Biographie von Dorothea Schröder.

Johannes- und Matthäuspassion, die Brandenburgischen Konzerte, virtuose Orgelwerke, geistliche und weltliche Kantaten, das Wohltemperierte Klavier, die Kunst der Fuge und viele andere Kompositionen gehören zu den bekanntesten Werken Bachs, die in der ganzen Welt geschätzt werden. Fülle und Qualität seiner Musik sind so einzigartig, dass sie als Ertrag nur eines Menschenlebens fast unvorstellbar scheinen.

In ihrem Schlusswort fasst Schröder in beeindruckender Weise zusammen, warum Bach bis heute auf so viele Menschen ein so große Faszination ausübt:

„Was wir an Bach bewundern, ist eine bis ins Letzte perfektionierte Beherrschung des kompositorischen Handwerks in Verbindung mit einer exzeptionellen, mehrdimensionalen musikalischen Vorstellungskraft.

Was daraus entsteht, hat seinen Ort innerhalb der Grenzen eines Regelwerks, das die Definition von Kunst überhaupt erst ermöglicht.

Im Zentrum des Ganzen steht der Kontrapunkt – die gesetzmäßige, logische und im Erklingen schöne Beziehung mehrerer Stimmen aufeinander. Welche Verknüpfungsmöglichkeiten dieses System bietet, erforschte Bach bis an dessen Grenzen. Dass ihm dabei nicht nur die planende Mathematik für die Lösung kontrapunktischer Aufgaben zur Verfügung stand, sondern auch die Fähigkeit, dabei hinreißende Musik zu schaffen, verdankte er einer kreativen Intelligenz, die man in ihrer Komplexität nur als «Genie» bezeichnen kann.

Klavierstück ohne Titel, notiert von Anna Magdalena Bach in ihrem zweiten Notenbüchlein. Es ist bis auf Kleinigkeiten identisch mit der Aria derGoldberg–Variationen.

Es war Bach bewusst, dass die junge Generation sich nicht mehr ausschließlich auf das tradierte Regelwerk bezog, sondern es dem individuellen Ausdruck von Emotionen zumindest zeitweilig unterordnete. Sein Sohn Carl Philipp Emanuel gab mit seinen freien Klavierfantasien das beste Beispiel dafür.

Dass er dazu in der Lage war, lässt Rückschlüsse auf die Toleranz seines Vaters zu; auch Johann Sebastian Bach hatte als junger Organist aus der Freiheit des «stylus phantasticus» weitreichende Anregungen gewonnen. Im Alter sah er seine Aufgabe darin, die regelgerechte Kunst auf ihrem Höhepunkt zusammenzufassen, um sie weiterzugeben – sowohl an die lernende Jugend als auch an Musikkenner, die wie Schachspieler die Regeln verinnerlicht haben und aus dem fantasievollen Umgang mit ihnen großen Genuss zu ziehen wissen.

Wer die Grenzen kennt, schätzt auch gekonnte kleine Überschreitungen, die nicht ins Chaos führen, sondern die Souveränität des Meisters unter Beweis stellen.

Oft liest man, «der alte Bach» habe die neue Welt der Aufklärungszeit nicht mehr verstanden. Das Gegenteil war der Fall: Deutlicher als viele andere erkannte er, wohin die musikalische Entwicklung ging, reagierte aber weder mit Verbitterung noch mit Rückzug in die Isolation. Mit seinem letzten Schüler Johann Gottfried Müthel holte er sich noch kurz vor seinem Tod einen angehenden Komponisten ins Haus, der bereits um 1750 nach Wegen suchte, um sein individuelles Seelenleben in Musik auszudrücken, und damit ein Vorreiter des musikalischen «Sturm und Drang» wurde.

Thomaskirche und Thomasschule (1735)
Müthel rühmte später Bachs Herzlichkeit; von Reserviertheit des Thomaskantors gegenüber den Jüngeren ist in keinem einzigen Dokument die Rede. Bach selbst gehörte jedoch einer Generation an, der die Vorstellung von künstlerischer Ich-Bezogenheit fremd war. Er würde sein Lebensziel wohl darin gesehen haben, sein von Gott verliehenes Talent in solche Bahnen zu lenken, dass es dem Nächsten durch Belehrung, sinnreiche Vergnügung und Hinlenkung zum Göttlichen von Nutzen sein konnte.

Wo es um das klingende Gotteslob ging, gab er sein Bestes, doch auch weltliche Musik konnte er aus vollem Herzen schreiben, weil ein Violinkonzert auf denselben Gesetzen der harmonischen Proportionen beruht wie ein Choralsatz.

Und diese Gesetze, die physikalisch ebenso ewig gültig sind wie das Hebelgesetz, führte Bachs Zeit noch auf Gottes Schöpfungsakt zurück: «Maß, Zahl und Gewicht» (Buch der Weisheit 11, 20) waren die Grundlage der Weltordnung. Sie in der Musik zu finden und nachzuvollziehen, war nicht nur eine Aufgabe für den forschenden Verstand, sondern auch eine Belohnung für unablässige Mühe und Arbeit."

Zitate aus: Dorothea Schrüder: Johann Sebastian Bach, München 2012 (C.H.Beck)


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