„Johann Sebastian Bach (1685–1750) hat der Menschheit einen
wahren Schatz an Musikwerken hinterlassen.“ Mit diesem Satz beginnt die kleine Bach-Biographie
von Dorothea Schröder.
Johannes- und Matthäuspassion, die Brandenburgischen
Konzerte, virtuose Orgelwerke, geistliche und weltliche Kantaten, das Wohltemperierte
Klavier, die Kunst der Fuge und viele andere Kompositionen
gehören zu den bekanntesten Werken Bachs, die in der ganzen Welt geschätzt
werden. Fülle und Qualität seiner Musik sind so einzigartig, dass sie als
Ertrag nur eines Menschenlebens fast unvorstellbar scheinen.
In ihrem Schlusswort fasst Schröder in beeindruckender Weise zusammen, warum Bach bis heute auf so viele Menschen ein so große Faszination ausübt:
„Was wir an Bach bewundern, ist eine bis ins Letzte
perfektionierte Beherrschung des kompositorischen Handwerks in Verbindung mit
einer exzeptionellen, mehrdimensionalen musikalischen Vorstellungskraft.
Was daraus entsteht, hat seinen Ort innerhalb der
Grenzen eines Regelwerks, das die Definition von Kunst überhaupt erst
ermöglicht.
Im Zentrum des Ganzen steht der Kontrapunkt – die
gesetzmäßige, logische und im Erklingen schöne Beziehung mehrerer Stimmen aufeinander.
Welche Verknüpfungsmöglichkeiten dieses System bietet, erforschte Bach bis an
dessen Grenzen. Dass ihm dabei nicht nur die planende Mathematik für die Lösung
kontrapunktischer Aufgaben zur Verfügung stand, sondern auch die Fähigkeit,
dabei hinreißende Musik zu schaffen, verdankte er einer kreativen Intelligenz,
die man in ihrer Komplexität nur als «Genie» bezeichnen kann.
Klavierstück ohne Titel, notiert von Anna Magdalena Bach in ihrem zweiten Notenbüchlein. Es ist bis auf Kleinigkeiten identisch mit der Aria derGoldberg–Variationen. |
Es war Bach bewusst, dass die junge Generation sich nicht
mehr ausschließlich auf das tradierte Regelwerk bezog, sondern es dem individuellen
Ausdruck von Emotionen zumindest zeitweilig unterordnete. Sein Sohn Carl
Philipp Emanuel gab mit seinen freien Klavierfantasien das beste Beispiel
dafür.
Dass er dazu in der Lage war, lässt Rückschlüsse auf die
Toleranz seines Vaters zu; auch Johann Sebastian Bach hatte als junger Organist aus
der Freiheit des «stylus phantasticus» weitreichende Anregungen gewonnen. Im
Alter sah er seine Aufgabe darin, die regelgerechte Kunst auf ihrem Höhepunkt
zusammenzufassen, um sie weiterzugeben – sowohl an die lernende Jugend als auch
an Musikkenner, die wie Schachspieler die Regeln verinnerlicht haben und aus
dem fantasievollen Umgang mit ihnen großen Genuss zu ziehen wissen.
Wer die Grenzen kennt, schätzt auch gekonnte kleine
Überschreitungen, die nicht ins Chaos führen, sondern die Souveränität des
Meisters unter Beweis stellen.
Oft liest man, «der alte Bach» habe die neue Welt der
Aufklärungszeit nicht mehr verstanden. Das Gegenteil war der Fall: Deutlicher
als viele andere erkannte er, wohin die musikalische Entwicklung ging,
reagierte aber weder mit Verbitterung noch mit Rückzug in die Isolation. Mit
seinem letzten Schüler Johann Gottfried Müthel holte er sich noch kurz vor
seinem Tod einen angehenden Komponisten ins Haus, der bereits um 1750 nach Wegen
suchte, um sein individuelles Seelenleben in Musik auszudrücken, und damit ein
Vorreiter des musikalischen «Sturm und Drang» wurde.
Thomaskirche und Thomasschule (1735) |
Müthel rühmte später Bachs Herzlichkeit; von Reserviertheit
des Thomaskantors gegenüber den Jüngeren ist in keinem einzigen Dokument die
Rede. Bach selbst gehörte jedoch einer Generation an, der die Vorstellung von
künstlerischer Ich-Bezogenheit fremd war. Er würde sein Lebensziel wohl darin
gesehen haben, sein von Gott verliehenes Talent in solche Bahnen zu lenken,
dass es dem Nächsten durch Belehrung, sinnreiche Vergnügung und Hinlenkung zum
Göttlichen von Nutzen sein konnte.
Wo es um das klingende Gotteslob ging, gab er sein Bestes,
doch auch weltliche Musik konnte er aus vollem Herzen schreiben, weil ein
Violinkonzert auf denselben Gesetzen der harmonischen Proportionen beruht wie
ein Choralsatz.
Und diese Gesetze, die physikalisch ebenso ewig gültig sind
wie das Hebelgesetz, führte Bachs Zeit noch auf Gottes Schöpfungsakt
zurück: «Maß, Zahl und Gewicht» (Buch der Weisheit 11, 20) waren die Grundlage
der Weltordnung. Sie in der Musik zu finden und nachzuvollziehen, war nicht nur
eine Aufgabe für den forschenden Verstand, sondern auch eine Belohnung für
unablässige Mühe und Arbeit."
Zitate aus: Dorothea Schrüder: Johann Sebastian
Bach, München 2012 (C.H.Beck)
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