Zu den Mosaiksteinen der bürgerlichen Kultur gehörte stets „eine
positive Grundhaltung gegenüber selbstbestimmter, eigenverantwortlicher,
regelmäßiger Arbeit und – damit eng verbunden – Tugenden wie Fleiß und
Sorgfalt, die Pflichterfüllung im beruflichen und privaten Alltag, die Neigung
zur durchdachten Lebensführung, zum Tagesrhythmus nach dem Stundenplan.“
Zum Ensemble der bürgerlichen Lebensweise
gehörte aber auch „die Betonung von Erziehung und Bildung, eine
empathisch-emphatische Beziehung zur Welt der Kunst, Respekt vor der
Wissenschaft und nicht zuletzt die Konzeption und weitgehende Realisation eines
spezifischen Familienideals.“
Eine besondere Rolle innerhalb der
bürgerlichen Lebenswelt spielte von Anfang an die „Hausmusik“, bei der Konzerterlebnisse
in den eigenen vier Wänden im Kleinen inszeniert wurden. Hausmusik war eine
ureigene bürgerliche Kunstform, mit der gleichzeitig familiäre Gemeinsamkeiten
und musikalische Begabungen zelebriert und von Zeit zu Zeit auch einer
ausgewählten Öffentlichkeit präsentiert wurden.
Als bürgerliches Hausinstrument übernahm das
Klavier hierbei eine tragende Rolle, Gunilla Budde zufolge aus drei Gründen:
„Erstens kam es als das Individualinstrument
schlechthin dem Streben des Bürgertums nach individuellem Ausdruck vortrefflich
entgegen. Ganze Symphonien und Opern ließen sich mit zwei Händen darauf intonieren.
Entsprechende Notenliteratur, die im Laufe des 19. Jahrhunderts den Musikmarkt
überschwemmte, trug dem Wunsch Rechnung, von Zeit zu Zeit den Konzertsaal in
den bürgerlichen Salon zu holen.
Zweitens entsprach das Pianoforte dem
bürgerlichen Ordnungssinn. Buchstäblich schwarz auf weiß lagen die Töne auf
Anschlag bereit. Und es waren „richtige“ Töne, die Anfänger erzeugen konnten.
Relativ bald, nach einigem Fleiß, ließ sich bereits ein Stück Klaviermusik
meistern.
Drittens war das Klavier allein durch sein
Format und seine Doppelfunktion als Musikinstrument und Möbelstück geradezu
prädestiniert, dem Besucher bürgerlicher Wohnstätten sehr augenscheinlich die
Kultiviertheit ihrer Bewohner vorzuführen.“
Das Klavier manierlich zu spielen, war
vornehmlich Aufgabe der Bürgertöchter. Besonders bei Anlässen, die der
Selbstdarstellung der Familie dienlich waren, hatten sie ihr Können unter
Beweis zu stellen. Kleine, kurze und beherrschbare Stücke waren dafür gefragt.
„Nocturnes“, „Walzer“ und „Préludes“ von Chopin, „Kinderszenen“ und das „Album
für die Jugend“ von Schumann, Mendelssohns „Lieder ohne Worte“ oder auch Nils
Gades „Aquarellen“ gehörten zum beliebten und durchaus anspruchsvollen
Programm.
Diese Entwicklung rief schließlich auch musikbegeisterte
Kritiker auf den Plan. Der bekannte Kritiker des 19. Jahrhunderts, Eduard
Hanslick, mahnte in seinem „Brief über die ‚Clavierseuche‘“ vor zu weitgehendem
elterlichen Ehrgeiz, die Träume ihrer Töchter von einer Karriere als Pianistin
zu unterstützen. „Eine `massenhafte Drillung von Pianisten´ ginge laut Hanslick
nur mit einem „Anwachsen eines bedauernswerthen musikalischen Proletariats“
einher. Der Kunst sollte fern der Arbeitswelt gefrönt werden, zum bürgerlichen
„Brotberuf“ indessen tauge sie nicht.
Die Qualen der Clavierseuche ... |
In dem gleichen Brief beschreibt Hanslick
aber auch die Qualen des nachbarlichen Klavierspielens – eine Darstellung, die
wohl nichts von ihrer Aktualität eingebüßt hat:
„Die Qualen, die wir täglich durch
nachbarlich klimpernde Dilettanten oder exercirende Schüler erdulden, sind in
allen Farben oft genug geschildert. Ich glaube allen Ernstes, daß unter den
hunderterlei Geräuschen und Mißklängen, welche tagsüber das Ohr des
Großstädters zermartern und vorzeitig abstumpfen, diese musikalische Folter die
aufreibendste ist.
In irgend eine wichtige Arbeit oder ernste
Lektüre vertieft, der Ruhe bedürftig, oder nach geistiger Sammlung ringend,
müssen wir wider Willen dem entsetzlichen Clavierspiel neben uns zuhören; mit
einer Art gespannter Todesangst warten wir auf den uns wohlbekannten Accord,
den das liebe Fräulein jedesmal falsch greift, wir zittern vor dem Laufe, bei
welchem der kleine Junge unfehlbar stocken und nun von vorn anfangen wird. …
Könnte und wollte man übrigens einige tausend
Städter von den Qualen nachbarlichen Clavierspielens befreien, so müßte man
eben so vielen Tausenden ihre beste, oft einzige Freude und Erholung rauben,
den Fachmusikern oft geradezu ihre Existenz. Ja, das Merkwürdigste ist, daß in
sehr vielen, vielleicht in den meisten Fällen, hier Kläger und Beklagter,
Selbstspieler und Angeklagter in demselben Individuum zusammenfallen; den
gerade wir, die wir unter den unerbetenen nachbarlichen Klängen am
empfindlichsten leiden, sind in der Regel selbst musikalisch und musicirend.
Wir fangen selber an, wenn der Andere
aufhört, und so dreht sich die Klage im ewigen Kreise.“
Zitate aus: Gunilla Budde: Blütezeit
des Bürgertums. Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Darmstadt 2009 (Wissenschaftliche
Buchgesellschaft) - Eduard Hanslick: Ein Brief über die
‚Clavierseuche‘, in: Die Gartenlaube 35, 1884, S. 572–575.
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