Donnerstag, 4. Februar 2016

Eduard Hanslick und die bürgerliche Hausmusik

Zu den Mosaiksteinen der bürgerlichen Kultur gehörte stets „eine positive Grundhaltung gegenüber selbstbestimmter, eigenverantwortlicher, regelmäßiger Arbeit und – damit eng verbunden – Tugenden wie Fleiß und Sorgfalt, die Pflichterfüllung im beruflichen und privaten Alltag, die Neigung zur durchdachten Lebensführung, zum Tagesrhythmus nach dem Stundenplan.“

Zum Ensemble der bürgerlichen Lebensweise gehörte aber auch „die Betonung von Erziehung und Bildung, eine empathisch-emphatische Beziehung zur Welt der Kunst, Respekt vor der Wissenschaft und nicht zuletzt die Konzeption und weitgehende Realisation eines spezifischen Familienideals.“
 
Hausmusik ... ein unverzichtbarer Teil der bürgerlichen Lebenswelt

Eine besondere Rolle innerhalb der bürgerlichen Lebenswelt spielte von Anfang an die „Hausmusik“, bei der Konzerterlebnisse in den eigenen vier Wänden im Kleinen inszeniert wurden. Hausmusik war eine ureigene bürgerliche Kunstform, mit der gleichzeitig familiäre Gemeinsamkeiten und musikalische Begabungen zelebriert und von Zeit zu Zeit auch einer ausgewählten Öffentlichkeit präsentiert wurden.

Als bürgerliches Hausinstrument übernahm das Klavier hierbei eine tragende Rolle, Gunilla Budde zufolge aus drei Gründen:

„Erstens kam es als das Individualinstrument schlechthin dem Streben des Bürgertums nach individuellem Ausdruck vortrefflich entgegen. Ganze Symphonien und Opern ließen sich mit zwei Händen darauf intonieren. Entsprechende Notenliteratur, die im Laufe des 19. Jahrhunderts den Musikmarkt überschwemmte, trug dem Wunsch Rechnung, von Zeit zu Zeit den Konzertsaal in den bürgerlichen Salon zu holen.

Zweitens entsprach das Pianoforte dem bürgerlichen Ordnungssinn. Buchstäblich schwarz auf weiß lagen die Töne auf Anschlag bereit. Und es waren „richtige“ Töne, die Anfänger erzeugen konnten. Relativ bald, nach einigem Fleiß, ließ sich bereits ein Stück Klaviermusik meistern.
 
" ... es waren „richtige“ Töne, die Anfänger erzeugen konnten!" 

Drittens war das Klavier allein durch sein Format und seine Doppelfunktion als Musikinstrument und Möbelstück geradezu prädestiniert, dem Besucher bürgerlicher Wohnstätten sehr augenscheinlich die Kultiviertheit ihrer Bewohner vorzuführen.“

Das Klavier manierlich zu spielen, war vornehmlich Aufgabe der Bürgertöchter. Besonders bei Anlässen, die der Selbstdarstellung der Familie dienlich waren, hatten sie ihr Können unter Beweis zu stellen. Kleine, kurze und beherrschbare Stücke waren dafür gefragt. „Nocturnes“, „Walzer“ und „Préludes“ von Chopin, „Kinderszenen“ und das „Album für die Jugend“ von Schumann, Mendelssohns „Lieder ohne Worte“ oder auch Nils Gades „Aquarellen“ gehörten zum beliebten und durchaus anspruchsvollen Programm.

Diese Entwicklung rief schließlich auch musikbegeisterte Kritiker auf den Plan. Der bekannte Kritiker des 19. Jahrhunderts, Eduard Hanslick, mahnte in seinem „Brief über die ‚Clavierseuche‘“ vor zu weitgehendem elterlichen Ehrgeiz, die Träume ihrer Töchter von einer Karriere als Pianistin zu unterstützen. „Eine `massenhafte Drillung von Pianisten´ ginge laut Hanslick nur mit einem „Anwachsen eines bedauernswerthen musikalischen Proletariats“ einher. Der Kunst sollte fern der Arbeitswelt gefrönt werden, zum bürgerlichen „Brotberuf“ indessen tauge sie nicht.

Die Qualen der Clavierseuche ...
In dem gleichen Brief beschreibt Hanslick aber auch die Qualen des nachbarlichen Klavierspielens – eine Darstellung, die wohl nichts von ihrer Aktualität eingebüßt hat:

„Die Qualen, die wir täglich durch nachbarlich klimpernde Dilettanten oder exercirende Schüler erdulden, sind in allen Farben oft genug geschildert. Ich glaube allen Ernstes, daß unter den hunderterlei Geräuschen und Mißklängen, welche tagsüber das Ohr des Großstädters zermartern und vorzeitig abstumpfen, diese musikalische Folter die aufreibendste ist.

In irgend eine wichtige Arbeit oder ernste Lektüre vertieft, der Ruhe bedürftig, oder nach geistiger Sammlung ringend, müssen wir wider Willen dem entsetzlichen Clavierspiel neben uns zuhören; mit einer Art gespannter Todesangst warten wir auf den uns wohlbekannten Accord, den das liebe Fräulein jedesmal falsch greift, wir zittern vor dem Laufe, bei welchem der kleine Junge unfehlbar stocken und nun von vorn anfangen wird. …

Könnte und wollte man übrigens einige tausend Städter von den Qualen nachbarlichen Clavierspielens befreien, so müßte man eben so vielen Tausenden ihre beste, oft einzige Freude und Erholung rauben, den Fachmusikern oft geradezu ihre Existenz. Ja, das Merkwürdigste ist, daß in sehr vielen, vielleicht in den meisten Fällen, hier Kläger und Beklagter, Selbstspieler und Angeklagter in demselben Individuum zusammenfallen; den gerade wir, die wir unter den unerbetenen nachbarlichen Klängen am empfindlichsten leiden, sind in der Regel selbst musikalisch und musicirend.

Wir fangen selber an, wenn der Andere aufhört, und so dreht sich die Klage im ewigen Kreise.“

Zitate aus: Gunilla Budde: Blütezeit des Bürgertums. Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Darmstadt 2009 (Wissenschaftliche Buchgesellschaft)   -   Eduard Hanslick: Ein Brief über die ‚Clavierseuche‘, in: Die Gartenlaube 35, 1884, S. 572–575.



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