Donnerstag, 17. Dezember 2015

Carlo Strenger und die zivilisierte Verachtung (Teil 1)

Die Aufklärung und das Toleranzprinzip 

Die kleine Kampfschrift „Zivilisierte Verachtung. Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit“ des schweizerisch-israelischen Psychologen und Philosophen Carlo Strenger wird von der Motivation getragen, „der relativistischen Tendenz der politischen Korrektheit, die glaubt, alle Positionen, Glaubenssätze und Lebensformen hätten den gleichen Respekt verdient, entgegenzuwirken."

Strenger zufolge haben viele liberal eingestellte Menschen – vor allem auf der linken Seite des Spektrums – nicht genügend Mut, „offensiv für die fundamentalen Werte der offenen Gesellschaft – Freiheit, Kritik und offene Diskussion – einzutreten.“ Wenn aber die Fähigkeit verloren geht, „die eigene Lebensform und ihre Werte argumentativ zu verteidigen, ist der Weg frei für rückwärtsgewandte Rechtsparteien, die die freigewordene Rolle als Verteidiger der freien Welt übernehmen, dabei aber „die zu verteidigenden Werte der Aufklärung, die unsere Gesellschaften im Lauf der letzten Jahrhunderte humanisiert haben, durch Fremdenhass und das Schüren von Ängsten untergraben“ und deren Programm darauf hinauslaufen, dass Deutschland den Deutschen gehört, Frankreich den Franzosen und die Schweiz den Schweizern.

Das Ende des Kalten Krieges bei vielen Menschen die Hoffnung darauf geweckt, die liberale Demokratie stünde nun kurz davor, den Globus gewaltlos zu erobern. Aber „das menschliche Bedürfnis nach klaren Identitäten und absoluten Wahrheiten spülte die Hoffnung auf ein neues, kosmopolitisches Zeitalter hinweg. Die Religionen erlebten ihre Rückkehr auf die Bühne der Weltgeschichte“. Es scheint, dass die Prognose vom Kampf der Kulturen des Politologen Samuel Huntington, wesentlich realitätsnaher ausfällt, als die These, um einiges realistischer als Francis Fukuyamas These, die Geschichte der politischen Ideen sei an ihr Ende gelangt und die liberale Demokratie, der Inbegriff menschlicher Vernunft, habe triumphiert. 

Strenger fordert daher im Anschluss an Ernst Bloch eine Rückbesinnung auf das Wesen der Aufklärung, also auf „einen Prozess, in welchem der Mensch die Angst vor und die Abhängigkeit von äußeren Autoritäten, ob religiös oder politisch, hinter sich ließ, seine Autonomie proklamierte und zum `aufrechten Gang´ fand: Die Mentalität der Unterwerfung wurde durch den Geist der Kritik abgelöst.“

Baruch de Spinoza (1632-1677)
Vor allem Spinoza habe mit seinem Tractatus theologico-politicus aus dem Jahr 1670 deutlich gemacht, dass die Bibel ein Text ist, der mit Hilfe der Vernunft durchleuchtet und analysiert werden müssen, denn „kein Staat habe das Recht, seinen Bürgern einen religiösen Glauben aufzuzwingen, da dieser Privatsache sei. Grundlage jedes Staates sei dabei ein Gesellschaftsvertrag, durch den souveräne Bürger der Exekutive (ob es sich dabei nun um einen Monarchen oder eine andere Regierung handelt) das Recht und die Pflicht übertragen, ihre Sicherheit, Freiheit und ihr Eigentum zu verteidigen – ein Gedanke, den Spinoza von seinem großen Vorgänger Thomas Hobbes übernommen hatte.“ 

Das Prinzip der Toleranz in Glaubensfragen wurde gleichwohl erst möglich durch das „kulturelle Erdbeben der wissenschaftlichen Revolution“, denn hier zeichnete sich immer deutlicher ab, dass es sich bei „Glauben und Wissen um zwei vollkommen unterschiedliche Erkenntnisformen handelte (…) Wo es um historische Tatsachen oder Aussagen zur Schöpfungs- bzw. Naturgeschichte ging, zeichnete sich bald ab, dass man die Bibel nicht wörtlich nehmen durfte.“ 

Insgesamt steht das Toleranzprinzip der Aufklärung auf drei Säulen: dem Machtverlust religiöser bzw. kirchlicher Autoritäten in weltlichen Fragen, dem Prinzip der Freiheit und der Autonomie des Individuums – darin auch der Schutz aller Individuen vor staatlicher oder kirchlicher Willkür – und der Idee der freien Meinungsäußerung, nach der jede Form Kritik nicht durch Repressalien zum Schweigen gebracht werden durfte. 

Vor dem Hintergrund der religiös motivierten Attentate vor allem (aber nicht nur) moslemischer Fundamentalisten müsse immer wieder darauf verwiesen werden, dass die „Idee der liberalen Demokratie und die Grundwerte der Aufklärung … von dem Recht, intellektuelle Kritik zu üben und Satire zu veröffentlichen, nicht getrennt werden [können]; dass dabei mitunter die Gefühle der Kritisierten verletzt werden, lässt sich nun mal nicht vermeiden, ändert aber an dem Recht selbst nichts, ja ist gewissermaßen sogar ein Teil davon.“ 

Die Geschichte der Aufklärung ist gleichwohl keinesfalls frei von Rückschritten und inneren Widersprüchen. So wandelte sich die Französische Revolution recht zügig „von einem Fest der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in eine Tyrannei – es war Robespierre, der das moderne Verständnis des Begriffs »Terror« prägte und diesen systematisch als Herrschaftsmittel einsetzte.“ 

Französische Revolution: Der Terror als Herrschaftsmittel

Aber auch die industrielle Revolution führte gerade zu einer Hochkonjunktur der Menschenrechte. Die schwerste „Sünde des sich als aufgeklärt und zivilisiert gebenden Westens bestand jedoch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein darin, die Vorzüge der Freiheit und der Menschenrechte äußerst ungleich über den Globus zu verteilen.“ In seinem berühmten Gedicht von der „Bürde des weißen Mannes“ sprach Rudyard Kipling von der Verpflichtung des Westens – gemeint war natürlich das britische Empire -, „dem Rest der Welt die Segnungen der Zivilisation zu bringen – eine Vorstellung, die alle europäischen Kolonialmächte teilten.“ 

Dennoch: Gegen Ende des 19. Jahrhunderts konnte der Westen voller Stolz zu dem Schluss kommen, „dass er nicht nur das unangreifbare Machtzentrum der Welt darstellte, sondern auch die am weitesten entwickelte Zivilisation in der Geschichte der Menschheit: der Inbegriff jenes Fortschritts, den die Denker der Aufklärungszeit vorhergesagt hatten.“ In den meisten westlichen Staaten hatte das Bürgertum nach und nach vom Adel nicht nur die politische und ökonomische Macht, sondern auch die kulturelle Dominanz erobert. 

Diese europäische Selbstzufriedenheit fiel jedoch im 20. Jahrhundert im Zuge zweier Weltkriege in sich zusammen: „Der Kontinent insgesamt war mit einer grundsätzlichen Frage konfrontiert: Wenn Kant, Goethe, Schiller und Beethoven Deutschland nicht vor dem Naziregime hatten bewahren können und SS-Offiziere sich zu Bach-Fugen entspannten; wenn Descartes, Racine, Voltaire und Victor Hugo Vichy nicht hatten verhindern können; und wenn es möglich gewesen war, dass Dante, Michelangelo, Monteverdi und Puccini mit Mussolini koexistierten, gab es eigentlich keinen Grund mehr, der westlichen Kultur irgendeinen höheren Wert zuzuschreiben.“


Gräberfeld (1. Weltkrieg)

Mit diesem Gedanken begann dann nach 1945 ein Prozess der Selbstkasteiung, bei dem der universalistische Anspruch der Aufklärung „als grundlegende Kulturlüge diffamiert“ wurde. Es war die Geburtsstunde der politischen Korrektheit …

(Fortsetzung folgt)

Zitate aus: Carlo Strenger: Zivilisierte Verachtung. Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit, Berlin 2015 (Suhrkamp)

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