In seiner kleinen, posthum erschienen Schrift
„Weltgeschichtliche Betrachtungen“ (1905) wendet sich Jacob Burckhardt vehement gegen jede spekulative
Geschichtsphilosophie, insbesondere gegen den von Condorcet, vor allem aber von Hegel geprägten
Fortschrittsoptimismus.
Jacob Burckhardt |
Ganz im Stile der späteren Schriften Karl
Poppers gegen den Historizismus formuliert auch Burckhardt eine grundsätzliche
Kritik an jeder Form der Geschichtsprophetie: „Wir sind aber nicht eingeweiht
in die Zwecke der ewigen Weisheit und kennen sie nicht. Dieses kecke
Antizipieren eines Weltplanes führt zu Irrtümern, weil es von irrigen
Prämissen ausgeht.“
Der Grundirrtum einer Geschichtsprophetie ist
freilich nicht nur bei Philosophen zu beobachten: So mögen „Weltpotenzen die Geschichte
nach ihrer Art ausdeuten und ausbeuten, z. B. die Sozialisten mit ihren
Geschichten des Volkes.“
In diesem Zusammenhang macht Burckhardt nun
einige – verblüffend aktuelle – Anmerkungen über den Ursprung und die Natur des
Staates.
Burckhardt ist äußerst skeptisch gegenüber
den verschiedenen Erklärungen zur Entstehung des Staates: „Eitel sind alle
unsere Konstruktionen von Anfang und Ursprung des Staates, und deshalb werden
wir uns hier über diese Primordien nicht wie die Geschichtsphilosophen den Kopf
zerbrechen. Nur so viel Licht, daß man sehe, was für ein Abgrund vor uns liegt,
sollen die Fragen geben: Wie wird ein Volk zum Volk? und wie zum Staat?“
Die Theorie vom Gesellschaftsvertrag, wie sie etwa John Locke und Thomas Hobbes vertraten, hält
Burckhardt sogar für „absurd“: „Noch kein Staat ist durch einen wahren, d. h.
von allen Seiten freiwilligen Kontrakt (inter volentes) entstanden; denn
Abtretungen und Ausgleichungen wie die zwischen zitternden Romanen und
siegreichen Germanen sind keine echten Kontrakte. Darum wird auch künftig
keiner so entstehen. Und wenn einer so entstände, so wäre es eine schwache
Schöpfung, weil man beständig um die Grundlagen rechten könnte.“
Für Burckhardt steht somit fest, dass der
Staat nicht entstanden ist „durch Abdikation der individuellen Egoismen,
sondern er ist diese Abdikation, er ist ihre Ausgleichung, so daß möglichst
viele Interessen und Egoismen dauernd ihre Rechnung dabei finden und zuletzt ihr
Dasein mit dem seinigen völlig verflechten.“
Der Staat habe daher zu verhindern, „daß sich
die verschiedenen Auffassungen des `bürgerlichen Lebens´ an den Haaren nehmen.
Er soll über den Parteien stehen; freilich sucht jede Partei sich seiner zu
bemächtigen, sich für das Allgemeine auszugeben.“
Gerade, weil die Hauptaufgabe des Staates der
Interessenausgleich ist, sei es „eine Ausartung und philosophisch-bürokratische
Überhebung, wenn der Staat direkt das Sittliche verwirklichen will, was nur die
Gesellschaft kann und darf.“
Natürlich ist auch für Burckhardt der Staat
die „Standarte des Rechts und des Guten, welche irgendwo aufgerichtet sein
muß, aber nicht mehr.“ Denn die „`Verwirklichung des Sittlichen auf Erden´
durch den Staat müßte tausendmal scheitern an der innern Unzulänglichkeit der
Menschennatur überhaupt und auch der der Besten insbesondere.“
Nach Burckhardt habe das Sittliche ein
wesentlich anderes Forum als der Staat. Es sei schon eine enorm schwierige
Aufgabe, dass der Staat das konventionelle Recht aufrecht halte. So würde der
Staat am ehesten gesund bleiben, wenn er sich seiner Natur als Notinstitut
bewußt bliebe:
„Die Wohltat des Staates besteht darin, daß
er der Hort des Rechtes ist. Die einzelnen Individuen haben über sich Gesetze und
mit Zwangsrecht ausgerüstete Richter, welche sowohl die zwischen Individuen
eingegangenen Privatverpflichtungen als auch die allgemeinen Notwendigkeiten
schützen – weit weniger durch die wirklich ausgeübte Gewalt als durch die
heilsame Furcht vor ihr.“
Die Weltgeschichtlichen
Betrachtungen in englischer Übersetzung (New York 1943)
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Das Ziel des Staates sieht Burckhardt in
klarer liberaler Tradition im Schutz des Lebens und des Eigentums der Bürger: „Die
Sekurität, deren das Leben bedarf, besteht in der Zuversicht, … daß man nie
mehr nötig haben werde, innerhalb des Staates, so lange derselbe überhaupt
besteht, gegeneinander zu den Waffen zu greifen. Jeder weiß, daß er mit Gewalt
weder Habe noch Macht vermehren, sondern nur seinen Untergang beschleunigen
wird.“
Schließlich verteidigt auch Burckhardt den
Schutz der individuellen Freiheiten durch den Staat. Dies geschieht vornehmlich
über den Begriff der Toleranz: „Endlich: in späten, gemischten Staatsbildungen,
welche Schichten von verschiedenen, ja entgegengesetzten Religionen und
religiösen Auffassungen beherbergen (und in letzterem Sinn sind jetzt alle
Kulturstaaten paritätisch) sorgt der Staat wenigstens dafür, daß nicht nur die
Egoismen, sondern auch die verschiedenen Metaphysiken einander nicht aufs Blut
befehden dürfen (was noch heute ohne den Staat unvermeidlich geschehen würde,
denn die Hitzigsten würden anfangen und die andern nachfolgen).“
Mit klarem antiutopischen Impetus macht Burckhardt
schließlich deutlich, dass der einzig mögliche Ausgangspunkt für die
Geschichtsphilosophie allein der duldende, strebende und handelnde Mensch sein
kann, der Mensch „wie er ist und immer war und sein wird.“
Zitate
aus: Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, Wiesbaden 2009
(Marixverlag)
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