Donnerstag, 23. Juli 2020

Rainer Volk und der Krieg unter Tage

Seit der Antike bekriegt sich die Menschheit nicht nur über, sondern auch unter der Erde, in Stollen, Schächten und Tunneln. Im Dunkeln, in Panik schürender Enge, ständig in Gefahr zu ersticken, lebendig begraben oder aus gegnerischen Tunneln heraus überraschend angegriffen zu werden.

Grundsätzlich kann man davon ausgehen, so Rainer Volk in seinem Beitrag für den SWR 2, dass ab jenem Zeitpunkt, wo es Stadtmauern gab, die Leute auf der anderen Seite versucht haben, diese zu überwinden – oder, wenn das nicht möglich war, zu "unterwinden". Gelang es dem Angreifer sich unterirdisch an die Festung heran zu graben und eine Bresche zu sprengen, war der Weg ins Festungsinnere zumeist frei.

In früheren Jahrhunderten besaßen vor allem Bergknappen das für militärischen Tunnelbau nötige Wissen. Sie waren die harte Arbeit unter Tage in Erz-, Salz- oder Kohleminen gewohnt und erfahren darin, Stollen zu hauen und mit Balkenwerk abzustützen. Im Kriegsfall waren sie als Spezialisten hoch begehrt, hoch bezahlt – und hochgefährdet.

Bergbau im Mittelalter

Die "Mineure", so der militärische Terminus für diese Bergleute, hatten eines der gefährlichsten Kriegshandwerke überhaupt inne. Sie hatten bei der Arbeit kaum Sauerstoff und, vor allem bei langen Tunnelsystemen, war es nicht immer möglich, genügend Sauerstoff in die Tunnel zu bringen. Häufig musste man, um Sauerstoff zu sparen, dann auch noch auf Licht verzichten. Die Mineure arbeiteten vielfach also im Stockdunkeln. Man kann sich nur schwer die starke psychische Belastung ausmalen, der diese Menschen ausgesetzt waren.

Bereits in der Antike hackten und gruben sich Mineure in monatelanger Arbeit unter gegnerischen Festungsmauern hindurch. Häufig legten sie in ihren mühsam gegrabenen Stollen Feuer, um sie zum Einsturz zu bringen – und mit ihnen die Mauern darüber. Hinlänglich bekannt ist der Einsturz der Mauern von Jericho – erzählt im Alten Testament im Buch Josua im Kapitel 6. Da man damals noch keine Wurfgeschosse kannte, liegt eigentlich die Vermutung nahe, dass man die Mauern durch ihr Untergraben zum Einsturz gebracht hat.

Im Geschichtswerk "Ab urbe condita" des Titus Livius finden sich im IV. Buch im 22. Kapitel weitere konkrete Hinweise auf den antiken Tunnelkrieg. Bei der Eroberung der Latinerstadt Fidena im Jahre 426 v. Chr. wurden die Stadtmauern von den römischen Belagerern zielgerichtet untergraben. Titus Livius schreibt: „Weil er (gemeint ist der römische Feldherr Quinctus Servilius Prictus) keine Hoffnung hatte, die Stadt durch einen Angriff zu nehmen, oder sie zur Kapitulation zu zwingen, entschloss er sich, eine Mine unter die Festung zu graben – auf der gegenüber liegenden Seite der Stadt, wo man wegen des natürlichen Schutzes am wenigsten wachsam war. 

Titus Livius "Ab urbe condita"
Er lenkte seine Gegner so ab, dass sie nie merkten, wie die Arbeit voranschritt. Erst als der Weg durch den Berg vom Lager bis in die Zitadelle fertig gegraben war, stellten die Etrusker fest, dass sich die Stadt in der Hand ihrer Feinde befand.“

Ob Jericho und Fidena allerdings wirklich durch Tunnel erobert wurden, ist angesichts fehlender archäologischer Beweise nicht mit Sicherheit zu sagen. Anders sieht es mit den in der Region südwestlich von Jerusalem entdeckten und sehr gut erhaltenen Tunnelsystemen aus, die die Aufständische der jüdischen "Bar-Kochba-Revolte" im 2. Jahrhundert nach Christus gegen die Römer gegraben hatten. In den Tunneln versteckten sie sich vor der römischen Übermacht, und griffen sie bei günstiger Gelegenheit plötzlich wie aus dem Nichts an.

Diese Gänge waren so eng und niedrig, dass man sich bücken oder sogar kriechen musste. Oft verliefen sie gekrümmt, manche mit bis zu 90 Grad, oder veränderten durch senkrechte Schächte ihr Niveau. Es ist anzunehmen, dass ein Angreifer, der in dieses System eindringen wollte, dessen Labyrinth-Struktur nicht kannte und keine Waffen benutzen konnte, wenn er kroch. Denn er musste eine Lichtquelle in der Hand halten. Dadurch war er im Nachteil gegenüber denen, die im Hinterhalt auf ihn warteten. Die Übermacht einer für den Kampf Mann gegen Mann geschulten militärischen Einheit wurde so aufgehoben.

Im Mittelalter, als langsam wirksame Sprengstoffe aufkamen, wurde die Arbeit der Mineure effizienter, aber auch gefährlicher. 1453 stand der osmanische Sultan Mehmet II. vor den Toren Konstantinopels, die Hauptstadt des oströmischen Reiches, bzw. des griechisch-orthodoxen Byzanz. Er zog mit einem riesigen Heer vor die Stadt, das den Verteidigern zehnfach überlegen war. Doch den Eroberungsgelüsten der Osmanen standen die gewaltigsten Festungsmauern der Alten Welt im Wege: Drei Mauerringe aus römischer Zeit, von denen der innerste 13 Meter hoch und an die vier Meter stark war. Mit großem Getöse feuerten die Osmanen ohne Unterlass schwere Geschütze auf die Mauern, um Breschen zu schlagen. Doch kaum weniger gefährlich waren ihre Angriffsversuche im Verborgenen.

Die Belagerung von Konstantinopel 1453 durch den osmanischen Sultan Mehmet II.
Überwinden der Stadtmauern oder "unterwinden"?

Zur osmanischen Streitmacht zählten Bergleute aus serbischen Silberminen, die in der Nähe des Goldenen Horns begannen, die byzantinischen Mauern zu untergraben. Doch auch die griechischen Verteidiger konnten auf Fachleute wie den schottischen Bergmann John Grant zurückgreifen, der Gegenstollen graben ließ. Es gelang Grant, in den osmanischen Stollen einzudringen und dort Feuer an die hölzernen Abstützpfähle zu legen. Das Dach des Stollens stürzte ein und begrub viele der Bergleute unter sich.

Den Griechen gelang es sogar, einen Offizier der osmanischen Mineure gefangen zu nehmen. Er gestand ihnen unter Folter die genaue Lage anderer Tunnel. John Grant ließ sie mit Rauch füllen, zum Einsturz bringen oder mit Wasser aus den Zisternen Konstantinopels fluten, bis die Osmanen den Tunnelkampf schließlich aufgaben und sich auf das Zerschießen der Mauern beschränkten.

Am Tunnelkampf als heimliche Angriffstechnik hielten osmanische Heere freilich fest, auch als sie 230 Jahre später vor den Toren Wien auftauchten. Unter den etwa 120.000 osmanischen Belagerern sollen 5.000 Mineure und Sklaven gewesen sein, die im Hochsommer 1683 an Dutzenden von Stellen begannen, Tunnel unter die Wiener Befestigungsanlagen zu graben. Immer wieder detonierten gewaltige Sprengladungen direkt unter den Wällen der belagerten Stadt und brachten sie zum Einsturz. In ihrer Verzweiflung sollen die Verteidiger jeden Hausbesitzer verpflichtet haben, einen Mann abzustellen, der im Keller auf verdächtige Grab- und Hackgeräusche horchte.

Die Rettung kam diesmal von einem sächsischen Militäringenieur, den Kaiser Leopold I. als Chef seines Pionier-Korps verpflichtete: Georg Rimpler, der zuvor bereits bei Tunnelkriegen in Osteuropa und auf Kreta mitgekämpft hatte. Für Rimpler waren die vielen Gewölbe-Nischen und Keller Wiens so etwas wie "seismographische Vorposten". Rimpler stellt Wachen ab, die die Aufgabe hatten, darauf zu achten, ob man hört oder durch Erschütterungen merkt, dass sich feindliche Mineure annähern würden. Dazu stelle man entweder Kübel mit Wasser auf oder auch Erbsen in Schalen. Immer dann, wenn sich das Wasser bewegt hat oder die Erbsen begonnen haben zu rollen, war das ein Hinweis darauf, dass möglicherweise in der Nähe gegraben wurde.

Angriff der Türken auf das belagerte Wien
(Radierung von Romeyn de Hooghe, 17. Jh.)

Unter der Leitung Georg Rimplers begannen die Verteidiger nun ihrerseits, Abwehrstollen zu graben, um dem zerstörerischen Werk osmanischer Mineure Einhalt zu gebieten. Wenn sie aufeinander trafen, kam es zum Albtraum vieler Soldaten: Nahkampf, Mann gegen Mann, in der Enge und Dunkelheit der Tunnel.

Wie die Angreifer legten auch die Wiener unterirdische Sprengladungen und versuchten, osmanische Tunnel in die Luft zu jagen, doch ihre Sprengungen waren deutlich weniger effektiv als die der erfahreneren Osmanen. Als das Belagerungsheer nach einer verlorenen Schlacht schließlich abziehen musste, entdeckten die Wiener unter mehreren ihrer Wälle gegnerische Stollen mit fertig platzierten Sprengladungen, die nicht mehr gezündet worden waren.

Wegen der wachsenden Reichweite von Kanonen wurden Befestigungen im Laufe der Neuzeit immer weitläufiger und erhielten vorgeschobene Bastionen. Tunnel mussten also immer länger werden, um Wälle und Kasematten zu untergraben, so geschehen in Petersburg im US-Bundesstaat Virginia im Jahr 1864, gegen Ende des amerikanischen Bürgerkriegs.

Die Stadt war ein wichtiger und stark befestigter Eisenbahn-Knotenpunkt unweit von Richmond, der Hauptstadt der Konföderierten. Sie wurde Monate lang von Unions-Truppen belagert – ohne Erfolg. In den Reihen der Nordstaaten kämpfte Oberstleutnant Henry Pleasants, ein erfahrener Bergmann aus Pennsylvania. Henry Pleasants wurde in Buenos Aires geboren und wanderte als 13-Jähriger mit seinen Eltern in die USA ein. Pleasants war Ingenieur. Bei Beginn des Bürgerkriegs 1861 lebte er in der Kleinstadt Pottsville, Pennsylvania. Das war ein Zentrum des Steinkohlebergbaus in den USA – und Pleasants leitete dort zu Beginn des Bürgerkriegs die Zeche.

Henry Pleasants plante, wie einst die Osmanen vor Wien, einen Tunnel bis unter die Stellungen der Konföderierten zu graben und dort eine riesige Menge Sprengstoff detonieren zu lassen. So wollte er eine Bresche für den entscheidenden Sturmangriff der Unions-Truppen schlagen. Auf die Soldaten seines Regiments konnte Pleasants zählen. Viele von ihnen waren, wie er, Bergleute aus Pennsylvania.

Als sie im Juni 1864 Befehl erhielten zu graben, wussten sie was zu tun war. Sie gruben mit Hacken und Schaufeln und behalfen sich, als sie tiefer gruben, mit einer Art Schlitten aus Munitionskisten, um den Abraum wegzuschaffen. Sie mussten dabei für Frischluft sorgen, je tiefer sie gingen. Letztlich war der Tunnel gut 150 Meter lang und endete unter einer Stellung der Südstaaten. An seinem Ende verzweigte er sich T-förmig in zwei Sprengstoff-Kammern. In der letzten Juliwoche 1864 packten sie dort etwa 3,6 Tonnen Schwarzpulver hinein.

Am 30. Juli 1864, um 4 Uhr 44 morgens erschütterte eine gewaltige Explosion das Schlachtfeld: Der Krater, den sie hinterließ, war über 50 Meter lang, 30 Meter breit und neun Meter tief. Etwa 280 Soldaten der Konföderierten kamen bei der Explosion um. Trotzdem gelang den Unions-Truppen kein Sieg im Battle of the Crater, der "Schlacht um den Krater", wie sie in den USA bis heute genannt wird.

Der Krater in Petersburg heute

Als „Höhepunkt des Minenkriegs“ gilt bis heute der Erste Weltkrieg. Bereits 1914 begannen Deutsche, Franzosen und Briten an der Westfront Tunnel zu graben. Die Hoffnungen auf schnelle Siege hatten sich rasch als Illusion erwiesen, weshalb man unter anderem auf den Kampf unter Tage zurückgriff. Wieder war man auf Spezialisten aus dem zivilen Bergbau angewiesen, Bergleute, die Erfahrungen mitbringen, wie man in einem relativ weichen und feuchten Grund Stollen vortreiben kann, aber auch Techniker, die Entwässerungs- und Kanalsysteme angelegen konnten.

Die verheerendste Tunnelschlacht fand 1917 bei Messines im äußersten Westen Flanderns statt, wo sich der Frontverlauf seit drei Jahren kaum verändert hatte und sich gut Tunnel graben ließen. Auf Seiten der Aliierten trieben Pioniere aus Kanada, Australien und Großbritannien hier 19 Stollen bis zu 45 Meter tief in die Erde, um unter die deutschen Stellungen zu gelangen. Der längste Tunnel maß 660 Meter. Nach zwei Wochen nervenzerreißendem Artilleriebeschuss aus deutschen Schützengräben detonierten am 7. Juni 1917 400 Tonnen Dynamit in unterirdischen Kammern. Es war eine der größten nicht-nuklearen Explosionen der Geschichte.

Die Explosion in Messines soll bis London zu hören gewesen sein.

Der offizielle deutsche Heeresbericht meldete: „Punkt 4 Uhr früh verkünden dumpfe Erschütterungen bis 25 km landeinwärts den Beginn der Schlacht. An 19 Punkten zerreißen Zehntausende von Zentnern Dynamit den Erdboden, schleudern haushohe Wogen von Rauch, Flammen und mächtige Brocken in die Luft. Stark aber, wie jedes elementare Ereignis, war die seelische Wirkung auf unsere aus dem Schlaf gerissenen Truppen. Der weitgetriebene Luftdruck und die ausgestrahlten Hitzewellen verbreiten Verwirrung. Auch die rückwärtigen Besatzungen wissen von dem betäubenden Eindruck der umfassenden Sprengungen zu berichten.“

Die Deutschen beklagten 2.900 Tote, 15.000 Verwundete und fast 8.000 Vermisste – nach britischen Schätzungen war die Zahl der Opfer sogar noch höher. Dennoch wurde der strategische Zweck der Entente-Truppen, die Deutschen zurückzudrängen, nicht erreicht.

Doch der Erste Weltkrieg markiert nicht das Ende des Tunnelkriegs. Der Bau der Maginot-Linie an der Grenze zwischen Frankreich und Deutschland in den 20er Jahren, ein fast 1.000 Kilometer langer, weitgehend unterirdischer Festungsgürtel, konnte die Kapitulation Frankreichs nicht verhindern. „Erfolgreicher“ waren da schon die Kämpfer des Vietminh und Vietcong, die während der Indochina-Kriege Tunnel- und Höhlensysteme mit einer Gesamtlänge von mehreren Zehntausend Kilometern gegraben haben. Sie verfügten über Küchen, Schlafkammern, Lagerräume und Krankenstationen, wie in der Maginot-Linie, über Trinkwasserbrunnen und sogar Munitionsfabriken und Druckereien unter Tage.

Auch in Afghanistan boten Taliban-Kämpfer mit einem System aus Tunneln und Höhlen der hochtechnisierten US-Armee Paroli. Und im Frühjahr 2015 verbreitete der so genannte Islamische Staat, er habe einen Kommando-Komplex der syrischen Luftwaffe in Aleppo mit einer Sprengladung in einem eigens gegrabenen Tunnel zerstört.

Bemerkenswert ist es vielleicht, dass Pioniere der Bundeswehr heutzutage nicht mehr lernen, wie militärische Tunnel gebaut oder zerstört werden. Im Kriegsfall müssten die hochgerüsteten Streitkräfte des Westens also wohl, wie in früheren Jahrhunderten, auf das Wissen ziviler Bergbau-Ingenieure zurückgreifen …


Zitate aus: Rainer Volk, Tunnelkampf – Krieg unter Tage, SWR2 Wissen, Sendung vom 28. Mai 2016


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen