Donnerstag, 18. April 2019

Josef Kraus und die Verirrungen der 68er - Teil 1


Josef Kraus
In einem Beitrag für das Kulturradio swr2 beschäftigt sich Josef Kraus, ehemaliger Präsident des Deutschen Lehrerverbandes mit „den 68ern“ und ihren Hinterlassenschaften.

Kraus bedauert, dass es zu „68“ kaum wirklich kritische Bilanzen gegeben habe, sondern vielmehr die eine oder andere Verklärung, die sich auch im Bereich von Bildung und Schule erkennen lässt.

Gewiss sind Schulen in Deutschland seit 1968 lebendiger, freier, sozial offener, unkomplizierter geworden. Das Verhältnis zwischen Lehrern, Eltern und Schülern hat sich entspannt; es ist nicht mehr geprägt von irgendeinem steilen Gefälle.

Per saldo aber habe Kraus zufolge die 68er-Pädagogik mehr Schaden angerichtet als Nutzen gebracht. „Linke, angeblich `moderne´ Pädagogik ist nämlich über den Versuch einer Korrektur der `irrenden´ und Unterschiede produzierenden Natur kaum hinausgekommen. Zentrale Elemente der 68er Vorstellungen von Bildung und Erziehung haben sich bis heute konserviert, zumal mehr als eine ganze Lehrergeneration von „68“ geprägt wurde.“

Ein kurzer Blick in die Geschichte: Der Alliierte Kontrollrat hatte Deutschland 1947 ein Gesamtschulsystem nach dem Vorbild der US-High-School verordnen wollen. Die Alliierten hatten im gegliederten Schulwesen einen Grund der Anfälligkeit der Deutschen für den Nationalsozialismus gesehen, denn ein gegliedertes Schulsystem fördere Gefühle der Überlegenheit. Die deutschen Linken übernahmen dieses Ziel. Als ihre Begründung galt ganz und gar un-amerikanisch, Gesamtschule könne Teil einer „antikapitalistischen Strukturreform“ sein.

In den 1960er-Jahren setzte dann eine gewaltige Expansion des Bildungswesens ein. „Schick dein Kind länger auf höhere Schulen!“ „Bildung ist Bürgerrecht!“ So hieß es. In der Folge öffnete sich das Gymnasium, „zweite“ Bildungswege wurden eingerichtet, und am 5. Juli 1968 beschlossen die Ministerpräsidenten die Integration der Fachhochschulen in den Hochschulbereich. Ab jetzt lautete die Divise „Wir brauchen mehr Abiturienten, auch wenn wir sie nicht brauchen sollten.“

68 und die Folgen ...
Vor lauter Reform- und Modernisierungseifer ließ man ohne Rücksicht auf Qualität und Anspruch alles durchgehen, was als emanzipierte Pädagogik galt: Keine Selektion! Gymnasium für alle! Lernen ohne Anstrengung! Kein Frontalunterricht! Am Ende angeblich nur noch hochkompetente junge Leute – fit für den globalen Wettbewerb. Höherqualifizierung sollte es werden – durch Akademisierung. Teilweise ist daraus eine Pseudo-Akademisierung geworden.

Qualität und Quantität entwickeln sich auseinander. Qualität und Quote gerieten in ein reziprokes Verhältnis: Einerseits immer mehr Abiturienten, immer niedrigere Quoten an Sitzenbleibern, immer bessere Abitur- und Hochschulnoten. Manche Schulen rühmen sich bei den Abiturfeiern: Diesmal haben wir drei Abiturzeugnisse mit einer Null vor dem Komma! Andererseits werden die Leistungen immer schwächer …

Eine der maßgeblichen Ursachen dieser Defizite ist der „pädagogische“ Egalitarismus der „68er“. Es scheine zu gelten: „Was nicht alle können, darf keiner können. Was nicht alle haben, darf keiner haben. Was nicht alle sind, darf keiner sein.“

Dazu gehört die nicht enden wollende Euphorie um eine „klassenlose“ Einheitsschule. Gesamtschule – heute befördert zur Gemeinschaftsschule – sollte und soll zur Speerspitze „moderner“ Schulpolitik werden. Deren Ansprüche wurden allerdings nie eingelöst. Vielmehr erwies sich die Integrierte Gesamtschule IGS in allen Vergleichen bereits in den 1970er/1980er-Jahren gegenüber dem gegliederten Schulsystem bei den fachlichen Leistungen der Schüler als weit unterlegen und im Bereichen des sozialen Lernens als nicht gleichrangig. Daran hat sich nichts geändert.

Die alles andere als großartige Bilanz der Gesamtschule wird von den Gesamtschul-Anhängern bis heute weggewischt. Die Erklärung für die schwache Bilanz lautet immer noch: Nicht die Idee Gesamtschule, sondern ihre reale Existenz sei gescheitert, weil Gesamtschule nur "halbherzig" gewollt worden sei. Das mutet schon ein wenig nach Ausrede an. „Wenn die Tatsachen nicht mit der Theorie übereinstimmen – umso schlimmer für die Tatsachen.“ Das soll Georg Wilhelm Friedrich Hegel gesagt haben. Das Bewährte wird auch nicht am Nicht-Bewährten gemessen, sondern am Glanz einer Vision. Da kann man es – frei nach Kurt Tucholsky – nur noch mit dem Marxismus halten: Dessen Aufgabe ist es, zu sagen, wie etwas kommen muss – und wenn es nicht so kommt, zu zeigen, warum es nicht so kommen konnte.

Statt Gleichheit: Differenzierung!
Warum musste und muss Einheitsschule trotz überdurchschnittlicher personeller und sächlicher Ausstattung scheitern? Weil egalisierende Schulpolitik Individualität einebnet. Sie tauscht Einmaligkeit gegen Gleichheit. Aber die Schwächeren werden nicht stärker, wenn man die Starken bremst.

Dabei kann Schule keine Institution zur Herstellung von Gleichheit sein, sondern sie hat die Aufgabe der Förderung von Individualität. Gleichmacherei würde zudem jede Anstrengungsbereitschaft gefährden, sie würde auch Eigenverantwortung und Eigeninitiative bremsen.

Außerdem: Das Prinzip Leistung und das Prinzip Auslese sind die beiden Seiten ein und derselben Medaille. Zudem ist differenzierende Auslese eine notwendige Voraussetzung für individuelle Förderung von Kindern. Die anti-thetische Formel „Fördern statt Auslese“ ist grundfalsch. Es muss heißen: Fördern durch Differenzierung!

(Fortsetzung folgt)


Quelle: Josef Kraus, 50 Jahre Umerziehung? Die 68er und ihre Hinterlassenschaften. Von SWR2 Wissen: Aula, Sendung vom 1. Juli 2018, 8.30 Uhr

Weitere Literatur: Josef Kraus, „50 Jahre Umerziehung – Die 68er und ihre Hinterlassenschaften“, Berlin 2018  -  Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt. Und was Eltern jetzt wissen müssen. München 2017 -  Helikopter-Eltern. Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung. Reinbek 2013.




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