Josef Kraus |
Kraus bedauert, dass es zu „68“ kaum wirklich kritische Bilanzen gegeben habe, sondern vielmehr die eine oder andere Verklärung, die sich auch im Bereich von Bildung und Schule erkennen lässt.
Gewiss sind Schulen in Deutschland seit 1968
lebendiger, freier, sozial offener, unkomplizierter geworden. Das Verhältnis zwischen
Lehrern, Eltern und Schülern hat sich entspannt; es ist nicht mehr geprägt von
irgendeinem steilen Gefälle.
Per saldo aber habe Kraus zufolge die
68er-Pädagogik mehr Schaden angerichtet als Nutzen gebracht. „Linke, angeblich `moderne´
Pädagogik ist nämlich über den Versuch einer Korrektur der `irrenden´ und
Unterschiede produzierenden Natur kaum hinausgekommen. Zentrale Elemente der
68er Vorstellungen von Bildung und Erziehung haben sich bis
heute konserviert, zumal mehr als eine ganze Lehrergeneration von „68“ geprägt
wurde.“
Ein kurzer Blick in die Geschichte: Der
Alliierte Kontrollrat hatte Deutschland 1947 ein Gesamtschulsystem nach dem
Vorbild der US-High-School verordnen wollen. Die Alliierten hatten im
gegliederten Schulwesen einen Grund der Anfälligkeit der Deutschen für den
Nationalsozialismus gesehen, denn ein gegliedertes Schulsystem fördere Gefühle
der Überlegenheit. Die deutschen Linken übernahmen dieses Ziel. Als ihre
Begründung galt ganz und gar un-amerikanisch, Gesamtschule könne Teil einer
„antikapitalistischen Strukturreform“ sein.
In den 1960er-Jahren setzte dann eine gewaltige
Expansion des Bildungswesens ein. „Schick dein Kind länger auf höhere Schulen!“
„Bildung ist Bürgerrecht!“ So hieß es. In der Folge öffnete sich das Gymnasium,
„zweite“ Bildungswege wurden eingerichtet, und am 5. Juli 1968 beschlossen die
Ministerpräsidenten die Integration der Fachhochschulen in den
Hochschulbereich. Ab jetzt lautete die Divise „Wir brauchen mehr Abiturienten,
auch wenn wir sie nicht brauchen sollten.“
68 und die Folgen ... |
Qualität und Quantität entwickeln sich
auseinander. Qualität und Quote gerieten in ein reziprokes Verhältnis:
Einerseits immer mehr Abiturienten, immer niedrigere Quoten an Sitzenbleibern,
immer bessere Abitur- und Hochschulnoten. Manche Schulen rühmen sich bei den
Abiturfeiern: Diesmal haben wir drei Abiturzeugnisse mit einer Null vor dem
Komma! Andererseits werden die Leistungen immer schwächer …
Eine der maßgeblichen Ursachen dieser Defizite ist
der „pädagogische“ Egalitarismus der „68er“. Es scheine zu gelten: „Was nicht
alle können, darf keiner können. Was nicht alle haben, darf keiner haben. Was
nicht alle sind, darf keiner sein.“
Dazu gehört die nicht enden wollende Euphorie
um eine „klassenlose“ Einheitsschule. Gesamtschule – heute befördert zur
Gemeinschaftsschule – sollte und soll zur Speerspitze „moderner“ Schulpolitik
werden. Deren Ansprüche wurden allerdings nie eingelöst. Vielmehr erwies sich
die Integrierte Gesamtschule IGS in allen Vergleichen bereits in den
1970er/1980er-Jahren gegenüber dem gegliederten Schulsystem bei den fachlichen
Leistungen der Schüler als weit unterlegen und im Bereichen des sozialen
Lernens als nicht gleichrangig. Daran hat sich nichts geändert.
Die alles andere als großartige Bilanz der
Gesamtschule wird von den Gesamtschul-Anhängern bis heute weggewischt. Die
Erklärung für die schwache Bilanz lautet immer noch: Nicht die Idee
Gesamtschule, sondern ihre reale Existenz sei gescheitert, weil Gesamtschule
nur "halbherzig" gewollt worden sei. Das mutet schon ein wenig nach
Ausrede an. „Wenn die Tatsachen nicht mit der Theorie übereinstimmen – umso
schlimmer für die Tatsachen.“ Das soll Georg Wilhelm Friedrich Hegel gesagt
haben. Das Bewährte wird auch nicht am Nicht-Bewährten gemessen, sondern am
Glanz einer Vision. Da kann man es – frei nach Kurt Tucholsky – nur noch mit
dem Marxismus halten: Dessen Aufgabe ist es, zu sagen, wie
etwas kommen muss – und wenn es nicht so kommt, zu zeigen, warum es nicht so
kommen konnte.
Statt Gleichheit: Differenzierung! |
Dabei kann Schule keine Institution zur
Herstellung von Gleichheit sein, sondern sie hat die Aufgabe der Förderung von
Individualität. Gleichmacherei würde zudem jede Anstrengungsbereitschaft
gefährden, sie würde auch Eigenverantwortung und Eigeninitiative bremsen.
Außerdem: Das Prinzip Leistung und das Prinzip
Auslese sind die beiden Seiten ein und derselben Medaille. Zudem ist
differenzierende Auslese eine notwendige Voraussetzung für individuelle
Förderung von Kindern. Die anti-thetische Formel „Fördern statt Auslese“ ist
grundfalsch. Es muss heißen: Fördern durch Differenzierung!
(Fortsetzung folgt)
(Fortsetzung folgt)
Quelle: Josef Kraus, 50 Jahre Umerziehung? Die 68er und ihre Hinterlassenschaften. Von SWR2 Wissen: Aula, Sendung vom 1. Juli 2018, 8.30 Uhr
Weitere Literatur: Josef Kraus, „50 Jahre Umerziehung – Die 68er und ihre Hinterlassenschaften“, Berlin 2018 - Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt. Und was Eltern jetzt wissen müssen. München 2017 - Helikopter-Eltern. Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung. Reinbek 2013.
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