Donnerstag, 25. April 2019

Josef Kraus und die Verirrungen der 68er - Teil 2


(Fortsetzung vom 18.04.2019)


In einem Beitrag für das Kulturradio swr2 beschäftigt sich Josef Kraus, ehemaliger Präsident des Deutschen Lehrerverbandes mit „den 68ern“ und ihren Hinterlassenschaften.

Kraus bedauert, dass es zu „68“ kaum wirklich kritische Bilanzen gegeben habe, sondern vielmehr die eine oder andere Verklärung, die sich auch im Bereich von Bildung und Schule erkennen lässt.


Eine weitere Verirrung der  68er hat mit Jean-Jacques Rousseau und mit seinem pädagogischen „laissez faire“ zu tun. Dieses pseudopädagogische „Greife bloß nicht ein!“ wirkt bis heute nach. No-Education und Spaßpädagogik heißt das heute. In reiner Form hat man dergleichen mit der 1921 gegründeten anti-autoritären „Summerhill“-Schule umgesetzt. Dafür stand Alexander Sutherland Neill (1883 - 1973), den man in den 1970er-Jahren in Deutschland zum Künder „progressiver“ Pädagogik erklärt hat. In dieser Anti-Schule konnten die Kinder den Unterricht besuchen oder nicht. Es gab keine Hausaufgaben, Zensuren und Prüfungen.

Die Folgen einer falsch verstandenen Spaßpädagogik ...
Die sogenannten Schüler konnten am Ende lesen und schreiben oder nicht. Als Devise galt nur das „Recht aufs Spielen, Spielen und abermals Spielen“, schrieb Neill 1960 in seinem Buch „Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung“, das mit seinen 600.000 verkauften Exemplaren auch für deutsche 68er zum pädagogischen Katechismus wurde. 

Noch im Oktober 1991, als "Summerhill" schon die Schließung drohte, geriet die Wochenzeitung „Die Zeit“ in ihrem Magazin zehn Seiten lang ins Schwärmen: "Summerhill - Die Legende lebt", "Ausgebildet ohne Zwang", „Präpariert für das Leben" – so lauteten die Zwischenüberschriften einer ausgelehnten Bild- und Textreportage.

Das anti-pädagogische Motto, wie es sich in dem Pop-Titel „We don’t need no education“ von Pink Floyd aus dem jahre 1979 niederschlug, fand seine Realisierung. „happiness" ohne Anstrengung war angesagt. Eine solche Anti-Pädagogik freilich übersieht, dass sie trotzdem erzieherisch prägt. Denn man kann nicht nicht erziehen: Wer nämlich nicht erzieht, der vermittelt einem Kind: „Von mir kannst du nichts erwarten; tue, was du willst!“ Wer nicht erzieht, „erzieht“ ein Kind schließlich zu einem bindungslosen, mit seiner Pseudo-Autonomie überforderten Individuum.

Bis zum heutigen Tag aber tut „moderne“ Pädagogik – paradoxerweise reichlich angestrengt – so, als ob Schule immer nur cool sein müsse, damit sich Kinder ja nicht langweilten. Spaß solle Schule machen. Kindgemäßheit nennt sich so etwas. Man könnte es auch Infantilisierung über den Kindergarten hinaus nennen.

Bildung geht aber nur mit Anstrengung, Disziplin, Sorgfalt, Wissensdurst. Eine Gute-Laune-Pädagogik schadet unseren Kindern. Wir müssen Kindern wieder mehr zutrauen und mehr zumuten. Dass pseudopädagogische Erleichterungsattitüden falsch sind, wussten Generationen von Eltern und Lehrern seit der Antike. Selbst Sigmund Freud, der bekanntermaßen vieles auf das Luststreben des Menschen zurückführte, war überzeugt: Leistung und Erfolg, ja das Erleben von Glück, setzen Bedürfnis- und Triebaufschub voraus.

Dass ein „Sofortismus“ Kindern nichts bringt, ist belegt. Moderne Pädagogik tut aber genau dies. Wenn etwas schwierig erscheint, dann denkt sie nicht darüber nach, wie man den Kindern das Schwierige beibringen und sie zu Geduld erziehen könnte, sondern sie senkt die Ansprüche – anstatt eine Portion Durchhaltevermögen und Sitzfleisch zu fördern.

Leistung und Anstrengung aber wurden bis zum heutigen Tag zu Missgunst-Vokabeln. Nach wie vor ist im Zusammenhang mit Schule die Rede von "Leistungsstress", "Leistungsdruck", "Leistungsterror". Wer Leistung aber zur Missgunst-Vokabel macht, wer das Leistungsprinzip bereits in der Schule untergräbt, setzt eines der revolutionärsten demokratischen Prinzipien außer Kraft. In unfreien Gesellschaften sind Geldbeutel, Geburtsadel, Gesinnung, Geschlecht Kriterien zur Positionierung eines Menschen. Freie Gesellschaften haben an deren Stelle das Kriterium Leistung vor Erfolg und Aufstieg gesetzt. Das ist die große Chance zur Emanzipation für jeden einzelnen. Mit Ellenbogengesellschaft hat das nichts zu tun. Vielmehr ist auch der Sozialstaat zugunsten Benachteiligter, Kranker und Alter nur realisierbar mit der millionenfachen Leistung und Anstrengung der Leistungsfähigen.

Differenzierung und Förderung

Aber die Diskreditierung des Leistungsprinzips findet nach wie vor statt – geführt mit anderen verbalen Waffen. Heute wird ständig über einen „Schulstress“ gejammert, dem unsere jungen Leute angeblich ausgesetzt seien. Es vergeht kein Halbjahr ohne eine „Studie“ über den Schulstress von angeblich der Hälfte bis zu zwei Dritteln der Schüler. Aber es ist sehr oft ein eingeredeter Stress. Die politische Folge solcher „Studien“ freilich ist, dass schulische Ansprüche noch mehr gesenkt und Schüler noch mehr „gepampert“ werden.

(Fortsetzung folgt)


Quelle: Josef Kraus, 50 Jahre Umerziehung? Die 68er und ihre Hinterlassenschaften. Von SWR2 Wissen: Aula, Sendung vom 1. Juli 2018, 8.30 Uhr

Weitere Literatur: Josef Kraus, „50 Jahre Umerziehung – Die 68er und ihre Hinterlassenschaften“, Berlin 2018  -  Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt. Und was Eltern jetzt wissen müssen. München 2017 -  Helikopter-Eltern. Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung. Reinbek 2013.





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