(Fortsetzung vom 18.04.2019)
In einem Beitrag für das Kulturradio swr2
beschäftigt sich Josef Kraus, ehemaliger Präsident des Deutschen
Lehrerverbandes mit „den 68ern“ und ihren Hinterlassenschaften.
Kraus bedauert, dass es zu „68“ kaum wirklich kritische
Bilanzen gegeben habe, sondern vielmehr die eine oder andere Verklärung, die
sich auch im Bereich von Bildung und Schule erkennen lässt.
Eine weitere Verirrung der 68er hat mit Jean-Jacques Rousseau und mit
seinem pädagogischen „laissez faire“ zu tun. Dieses pseudopädagogische „Greife
bloß nicht ein!“ wirkt bis heute nach. No-Education und Spaßpädagogik heißt das
heute. In reiner Form hat man dergleichen mit der 1921 gegründeten
anti-autoritären „Summerhill“-Schule umgesetzt. Dafür stand Alexander
Sutherland Neill (1883 - 1973), den man in den 1970er-Jahren in Deutschland zum
Künder „progressiver“ Pädagogik erklärt hat. In dieser Anti-Schule konnten die
Kinder den Unterricht besuchen oder nicht. Es gab keine Hausaufgaben, Zensuren
und Prüfungen.
Die Folgen einer falsch verstandenen Spaßpädagogik ... |
Die sogenannten Schüler konnten am Ende lesen
und schreiben oder nicht. Als Devise galt nur das „Recht aufs Spielen, Spielen
und abermals Spielen“, schrieb Neill 1960 in seinem Buch „Theorie und Praxis
der antiautoritären Erziehung“, das mit seinen 600.000 verkauften Exemplaren
auch für deutsche 68er zum pädagogischen Katechismus wurde.
Noch im Oktober
1991, als "Summerhill" schon die Schließung drohte, geriet die
Wochenzeitung „Die Zeit“ in ihrem Magazin zehn Seiten lang ins Schwärmen:
"Summerhill - Die Legende lebt", "Ausgebildet ohne Zwang",
„Präpariert für das Leben" – so lauteten die Zwischenüberschriften einer
ausgelehnten Bild- und Textreportage.
Das anti-pädagogische Motto, wie es sich in dem
Pop-Titel „We don’t need no education“ von Pink Floyd aus dem jahre 1979
niederschlug, fand seine Realisierung. „happiness" ohne Anstrengung war
angesagt. Eine solche Anti-Pädagogik freilich übersieht, dass sie trotzdem
erzieherisch prägt. Denn man kann nicht nicht erziehen: Wer nämlich nicht
erzieht, der vermittelt einem Kind: „Von mir kannst du nichts erwarten; tue, was
du willst!“ Wer nicht erzieht, „erzieht“ ein Kind schließlich zu einem
bindungslosen, mit seiner Pseudo-Autonomie überforderten Individuum.
Bis zum heutigen Tag aber tut „moderne“
Pädagogik – paradoxerweise reichlich angestrengt – so, als ob Schule immer nur
cool sein müsse, damit sich Kinder ja nicht langweilten. Spaß solle Schule
machen. Kindgemäßheit nennt sich so etwas. Man könnte es auch Infantilisierung
über den Kindergarten hinaus nennen.
Bildung geht aber nur mit Anstrengung,
Disziplin, Sorgfalt, Wissensdurst. Eine Gute-Laune-Pädagogik schadet unseren
Kindern. Wir müssen Kindern wieder mehr zutrauen und mehr zumuten. Dass
pseudopädagogische Erleichterungsattitüden falsch sind, wussten Generationen
von Eltern und Lehrern seit der Antike. Selbst Sigmund Freud, der
bekanntermaßen vieles auf das Luststreben des Menschen zurückführte, war
überzeugt: Leistung und Erfolg, ja das Erleben von Glück, setzen Bedürfnis- und
Triebaufschub voraus.
Dass ein „Sofortismus“ Kindern nichts bringt,
ist belegt. Moderne Pädagogik tut aber genau dies. Wenn etwas schwierig
erscheint, dann denkt sie nicht darüber nach, wie man den Kindern das
Schwierige beibringen und sie zu Geduld erziehen könnte, sondern sie senkt die
Ansprüche – anstatt eine Portion Durchhaltevermögen und Sitzfleisch zu fördern.
Leistung und Anstrengung aber wurden bis zum
heutigen Tag zu Missgunst-Vokabeln. Nach wie vor ist im Zusammenhang mit Schule
die Rede von "Leistungsstress", "Leistungsdruck",
"Leistungsterror". Wer Leistung aber zur Missgunst-Vokabel macht, wer
das Leistungsprinzip bereits in der Schule untergräbt, setzt eines der
revolutionärsten demokratischen Prinzipien außer Kraft. In unfreien
Gesellschaften sind Geldbeutel, Geburtsadel, Gesinnung, Geschlecht Kriterien
zur Positionierung eines Menschen. Freie Gesellschaften haben an deren Stelle
das Kriterium Leistung vor Erfolg und Aufstieg gesetzt. Das ist die große
Chance zur Emanzipation für jeden einzelnen. Mit Ellenbogengesellschaft hat das
nichts zu tun. Vielmehr ist auch der Sozialstaat zugunsten Benachteiligter,
Kranker und Alter nur realisierbar mit der millionenfachen Leistung und Anstrengung
der Leistungsfähigen.
Differenzierung und Förderung |
Aber die Diskreditierung des Leistungsprinzips
findet nach wie vor statt – geführt mit anderen verbalen Waffen. Heute wird
ständig über einen „Schulstress“ gejammert, dem unsere jungen Leute angeblich
ausgesetzt seien. Es vergeht kein Halbjahr ohne eine „Studie“ über den
Schulstress von angeblich der Hälfte bis zu zwei Dritteln der Schüler. Aber es
ist sehr oft ein eingeredeter Stress. Die politische Folge solcher „Studien“
freilich ist, dass schulische Ansprüche noch mehr gesenkt und Schüler noch mehr
„gepampert“ werden.
(Fortsetzung folgt)
Quelle: Josef Kraus, 50 Jahre
Umerziehung? Die 68er und ihre Hinterlassenschaften. Von SWR2 Wissen: Aula, Sendung vom 1.
Juli 2018, 8.30 Uhr
Weitere Literatur: Josef Kraus, „50
Jahre Umerziehung – Die 68er und ihre Hinterlassenschaften“, Berlin 2018 - Wie
man eine Bildungsnation an die Wand fährt. Und was Eltern jetzt wissen
müssen. München 2017 - Helikopter-Eltern. Schluss mit Förderwahn
und Verwöhnung. Reinbek 2013.
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