Donnerstag, 6. Oktober 2016

Bertrand Russell und der wünschenswerte Sieg der USA über die Sowjetunion


Die Idee, der Untergang der Menschheit ließe sich einzig und allein durch einen Weltstaat oder eine Weltföderation verhindern, ist nicht neu. Eine Weltregierung wurde schon bei den griechischen Philosophen und Kosmopoliten, unter ihnen Platon, Aristoteles und Zenon von Kition, diskutiert. Die wohl berühmteste Forderung nach einer Weltregierung wurde von Immanuel Kant in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ (1795) formuliert.



Auch der britische Mathematiker und Philosoph Bertrand Russell, einer der größten Pazifisten des 20. Jahrhundert, machte im Jahr 1948 den Vorschlag, die Vereinigten Staaten sollten durch Kriegsdrohung und notfalls Krieg die Sowjetunion zwingen, einem zu gründenden Weltstaat beizutreten. Sein Aufsatz „Der Weg zum Weltstaat“ wurde im Rahmen seiner „unpopulären Betrachtungen“ zwei Jahre später veröffentlicht.

Russells Vorschlag war ein Akt der Verzweiflung, den er relativ schnell wieder zurücknahm. Aber bevor man ihn entrüstet von sich weist, sollte man ihn wenigstens einen Moment lang aushalten, denn Russell zufolge gibt es gewichtige Gründe, die einen Sieg Amerikas über die Sowjetunion für wünschenswert erscheinen lassen.

Bertrand Russell
Der wichtigste Grund ist für Russell die Tatsache, „dass in Amerika mehr Achtung vor der Freiheit und anderen Werten einer zivilisierten Lebensform besteht als in Russland.“

Russell veranschaulicht diese Ansicht an der Entwicklung Polens nach dem Ende des 2. Weltkrieges als Teil des sowjetischen Machtbereiches. „In Polen gab es blühende Universitäten, deren Professoren große geistige Leistungen aufzuweisen hatten. Einige von ihnen sind glücklicherweise entkommen; die übrigen aber sind einfach verschwunden. Das Unterrichtswesen ist jetzt auf das Erlernen der orthodoxen stalinistischen Lehre beschränkt worden, und die höhere Schulbildung ist lediglich den Jugendlichen zugänglich, deren Eltern `unbelastet´ sind. Geistige Werte können durch ein derartiges Bildungssystem nicht geschaffen werden. Der Mittelstand wurde durch Massendeportationen vernichtet (...) Politiker der Mehrheitsparteien wurden liquidiert, eingekerkert oder zur Flucht gezwungen. Wer den Verdacht der Regierung erregt hat, kann oft nur dadurch sein Leben retten, dass er seine Freunde an die Polizei verrät und bei den folgenden Gerichtsverhandlungen Meineide schwört. Wenn dieses Regime während einer Generation an der Macht bleibt, wird es zweifellos seine Ziele erreichen. Die traditionelle polnische Feindschaft gegen Russland wird durch die kommunistische Orthodoxie ersetzt werden. Wissenschaft und Philosophie, Kunst und Literatur werden zu knechtischen Anhängseln des Regierungssystems werden, geistlos, beschränkt und dumm. Kein Individuum wird selbst denken oder auch nur fühlen, jeder wird eine bloße Nummer in der Masse sein.“

Russell ist sich sicher, dass diese Mentalität nach einem russischen Sieg in der in der ganzen Welt herrschen würde. Selbst wenn als Folge des Sieges eine gewisse Nachgiebigkeit der sowjetischen Regierung letztlich zu einer Lockerung der Kontrollmaßnahmen führen müsste, so bliebe es insgesamt sehr zweifelhaft, ob man je wieder zur Achtung der Einzelpersönlichkeit zurückkehren würde: „Aus diesen Gründen wäre ein russischer Sieg in meinen Augen ein schreckliches Unglück.“

Ein Sieg der Vereinigten Staaten hätte dagegen Russell zufolge weit weniger drastische Folgen. „Zunächst einmal würde es sich nicht um einen Sieg der Vereinigten Staaten allein handeln, sondern eines Bündnissystems, in dem die anderen Mitglieder einen großen Teil ihrer Unabhängigkeit behalten hätten. Man kann sich auch kaum vorstellen, dass die amerikanische Armee die Professoren von Oxford und Cambridge zur Zwangsarbeit nach Alaska schicken würde. Ebenso wenig glaube ich, dass sie einen Mann wie Attlee wegen Beteiligung an einer Verschwörung anklagen und damit zwingen würde, nach Moskau zu fliehen, lauter Analogien zu den Dingen, die die Russen in Polen getan haben. Auch nach dem Sieg einer von den USA geführten Allianz würde es immer noch eine britische, französische, italienische und, wie ich hoffe, auch deutsche Kultur geben. Es würde nicht die gleiche tote Uniformität entstehen, die die Folge einer sowjetrussischen Herrschaft wäre.

Die Moskauer Orthodoxie ist viel durchdringender als die von Washington. Ein amerikanischer Erbbiologe kann von der Lehre Mendels halten, was er will; wenn man aber in Russland als Biologe nicht mit Lysenko übereinstimmt, läuft man Gefahr, auf geheimnisvolle Weise zu verschwinden. In Amerika kann man getrost, wenn man sich dazu veranlasst fühlt, ein kritisches Buch über Lincoln, schreiben: in Russland würde ein Buch, in dem Lenin kritisiert wird, nicht veröffentlicht und der Verfasser selbst liquidiert werden.

Mahnmal für die Opfer der Repression, Moskau, Garten der Künste
(Foto: Bundesstiftung Aufarbeitung)

Als amerikanischer Volkswirtschaftler kann man die Meinung vertreten, dass Amerika auf eine Depression zusteuert, oder auch das Gegenteil; in Russland wagt kein Volkswirtschaftler zu bezweifeln, dass in Amerika die Depression vor der Tür steht.

In Amerika kann ein Philosoph ein Idealist, ein Materialist, ein Pragmatist, ein Positivist sein, oder was ihm sonst gefällt, er kann auf Kongressen mit Leuten diskutieren, die anderer Meinung sind, und die Hörer können sich ein Urteil darüber bilden, wer recht hat. In Russland muss man ein dialektischer Materialist sein. Allerdings überwiegt manchmal das materialistische Element das dialektische oder umgekehrt, und wer den Entwicklungen der offiziellen Metaphysik nicht mit der erforderlichen Wendigkeit folgt, hat Schlimmes zu befürchten.

Stalin zwar weiß jederzeit die Wahrheit über die Metaphysik, aber man darf nicht glauben, dass die Wahrheit in diesem Jahr so lautet wie im vergangenen. In einer solchen Welt muss das geistige Leben stagnieren, und selbst der technische Fortschritt muss zum Stillstand kommen.“

Die Grundlage aber eines demokratischen Rechtsstaates ist und bleibt die Freiheit, denn „Freiheit ist wichtig, nicht nur für die Intellektuellen, sondern für jeden.“ Da es aber in Russland keine Freiheit gibt, habe die sowjetische Regierung ein größeres Maß wirtschaftlicher Ungleichheit schaffen können, als es in England oder Amerika besteht.

Schließlich könnte die kommunistische Oligarchie, die alle Mittel der öffentlichen Meinungsbildung kontrolliert, Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten begehen, die kaum möglich wären, wenn sie allgemein bekannt würden.

Dagegen können nur die Demokratie und die volle Öffentlichkeit des Staatslebens die Machthaber hindern daran hindern, einen Sklavenstaat mit Luxus für wenige und Armut für viele aufzurichten, wie es die Sowjetregierung überall da getan hat, wo sie die absolute Herrschaft ausübt.

„Freiheit ist wichtig, nicht nur für die Intellektuellen, sondern für jeden.“

Natürlich – Russell ist schließlich nicht blind - gibt es in der ganzen Welt wirtschaftliche Ungleichheit, aber unter einem demokratischen Regime wird sie allmählich schwächer, in einer Oligarchie dagegen stärker werden: Aber „überall da, wo eine Oligarchie an der Macht ist, droht die wirtschaftliche Ungleichheit zu einem Dauerzustand zu werden, eben weil eine erfolgreiche Revolution unter den modernen Verhältnissen unmöglich ist.“


Zitate aus: Bertrand Russell: Unpopuläre Betrachtungen, Zürich 2009 (Europa Verlag)   -   Siehe auch: Paideia - Arthur Koestler und der Kommunismus, Teil 1 und Teil 2



1 Kommentar:

  1. Alle Zusammenhänge erschließen sich auf einen Blick, sobald die Metaphern auf der linken Seite nicht länger mit irgendetwas anderem (vermeintlicher "Unsinn" mit eingeschlossen) in Verbindung gebracht werden, als ihrer wirklichen Bedeutung auf der rechten Seite:

    Himmel und Erde = Nachfrage (Geld) und Angebot (Waren)
    Garten Eden / Paradies = freie (d. h. monopolfreie) Marktwirtschaft
    Früchte tragende Bäume = Gewinn bringende Unternehmungen
    Baum des Lebens = Geldkreislauf
    Baum der Erkenntnis = Geldverleih
    Frucht vom Baum der Erkenntnis = Urzins (S. Gesell) / Liquiditätsprämie (J. M. Keynes)
    Gott (Jahwe) = künstlicher Archetyp: "Investor"
    Mann / Adam = Sachkapital / der mit eigenem Sachkapital arbeitende Kulturmensch
    Frau / Eva = Finanzkapital / der in Sachkapital investierende Kulturmensch
    Tiere auf dem Feld = angestellte Arbeiter ohne eigenes Kapital (Zinsverlierer)
    Schlange = Sparsamkeit (die Schlange erspart sich Arme und Beine)
    Nachkommen der Schlange = Geldersparnisse
    Nachkommen der Frau = neue Sachkapitalien
    Kopf der Schlange = Kapitalmarktzins (Sachkapitalrendite)
    Erbsünde = Privatkapitalismus (Zinsumverteilung von der Arbeit zum Besitz)
    Vertreibung aus dem Paradies = Verlust der Unterscheidungsfähigkeit zwischen Marktwirtschaft und Kapitalismus
    Cherubim = Denkblockaden

    Beste Grüße

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